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Ausgabe:

1940

Spalte:

97-99

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Stahl, Herbert

Titel/Untertitel:

August Hermann Francke 1940

Rezensent:

Stumpff, Albrecht

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Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 3/4

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KIRCHENGESCHICHTE: NEUERE ZEIT

Stahl, Herbert: August Hermann Francke. Der Einfluß Luthers
und Molinos' auf ihn. Stuttgart: Kohlhammer 1939. (XX, 309 S.)
gr. 8° = Forsch, z. Kirchen- u. Geistesgeschichte, hrsg. von E. See-
berg, W. Weber u. R. Holtzmann. 16. Bd. HM 15—.

Ein einleitendes Kapitel widmet der Vf. der Frage,
wann und zu weichein Zweck Francke seinen „Lebenslauf
" geschrieben hat. Aus äußeren und inneren Gründen
, die anhand von Quellenmaterial vorgeführt werden,
kommt Stahl zu dem Datum 1690/91 (gegen den üblichen
Ansatz i. J. 1692). Außerdem betont er, daß Fr.
seine Biographie nicht mit der Absicht geschrieben habe,
sie zu veröffentlichen. Als das entscheidende Moment
in Fr.'s Bekehrung bezeichnet Stahl die Selbstoffenbarung
des Menschen als eines Sünders (vgl- S. 37), und
in diesem Moment sieht er schon eine wesentliche Ueber-
einstiminung des Francke'schen Erlebens mit dem Molinos
' und Luthers. Dem Nachweis der inneren Verwandtschaft
dieser drei Größen ist das ganze Buch gewidmet;
sie soll an der „Glaubensanschauung" der genannten
Manner aufgezeigt werden.

Zunächst werden die Schriften Luthers zusammengestellt
, die Francke zitiert. (Es sind doch ein bischen zu
wenig, als daß man von einer „umfassenden Lutherkennt-
nis Franckes" (S. 61) reden dürfte! — Außerdem müßte
der Vf. mit seinen sehr plerophorischen Urteilen über
den Einfluß Luthers auf Francke in diesem einleitenden,
statistischen Kapitel vorsichtiger sein.) Dann werden
die Beziehungen des spanischen Mystikers Molinos zu
Francke festgestellt. Er wird von Francke zwar nirgends
zitiert, wohl aber einmal ohne Namensnennung
verwendet (S. 77). Hier findet sich die aufsehenerregende
These, daß „Francke und Molinos übereinkommen,
aber — nicht als Vertreter der quietistischen Mystik bzw.
eines entarteten Pietismus, sondern als evangelische,
Lutherische Christen" (S. 70). Man wendet sich mit
Spannung zu dem Hauptteil des Buchs, in welchem die
„Glaubensanschauung" Molinos', Luthers und Franckes
dargestellt wird, nachdem schon vorher ausgesprochen
worden war, daß „Franckes Erkenntnisprinzip die Erfahrung
der Wirksamkeit Gottes in Christus" ist (S. 74). Ich
hoffe den Vf. richtig zu verstehen, wenn ich in dem Begriff
der Erfahrung den. leitenden Gesichtspunkt
für die Darstellung der nächsten Kapitel erblicke.

An Molinos wird hervorgehoben die Kritik an Kirche
und Priester, sofern sie als Institution die Wirksamkeit
des verkündigten Wortes einschränken wollen, statt
dem „persönlichen Ruf" Gottes, der „verborgenen Führung
zur neuen Gotteserkenntnis", der „Erfahrung des
neuen Lebens" (S. 92) freien Spielraum zu lassen. „Zum
Glauben gehört . . . erstens der Ruf Gottes, zweitens das
Folgen des Menschen mit dem Ziel der Dranga.be des
eigenen, freien Willens" (S. 96). „In diesem Glauben
sind beide Seiten der Rechtfertigung . . ." (ebd.). Dem
„Leben aus Glauben" wird ein längerer Abschnitt gewidmet
. — Nicht ohne Schwierigkeit bemüht man sich um
die Grundlinien der „Glaubensanschauung Luthers",
über die das IV- Kapitel handelt. Vf. will hier insbesondere
„die Erfahrungen und Beobachtungen an der Seele
des Menschen" entfalten, „die Luther uns mahnend vor
Augen hält" (S. 119); er ist überzeugt, damit „Ausführungen
über das Werden des Glaubens" zu bieten, die
'»an „angesichts der philosophischen und dogmatischen
Fragestellungen der Lutherforschung einfach nicht erwartet
" (ebd.). Als Quelle dient dem Vf. vor allem
der als grundlegend für das Lutherverständnis überhaupt
bezeichnete Sermon von den guten Werken, ferner die
Schrift „Eine einfältige Weise zu beten . . ." von 1535,
die Predigten über die 10 Gebote und einige andere
Predigten. (So interessant es sein mag, von Luthers
Glaubensverständnis sich ein Bild zu machen aufgrund
einer ganz begrenzten und nach bestimmtem Gesichtspunkt
ausgewählten Anzahl von Schriften, so offenkundig
ist die höchst bedingte Zuverlässigkeit eines solchen
Bildes.) Zunächst ist die Rede vom „Glauben als Person
und als Zwang" d.h.: da es sich im Glauben um ein personhaftes
Verhältnis zu Gott handelt, kann der Mensch
nicht von sich aus zu Gott kommen, er wird vielmehr
von Gott in dieses Verhältnis gleichsam gezwungen
(S. 126ff.). Dabei soll „Luthers Ziel" sein „nicht das
Aufhören der Wirksamkeit des Menschen, sondern das
neue, durchaus mögliche, den ganzen Menschen fordernde
und auch beglückende Wirken Gottes durch den Menschen
hindurch" (S. 128). Nach einem Kapitel über „das
Werden des Glaubens" (in welchem der Ausdruck „Bußkampf
" doch wohl mehr aus dem Geist Franckes als
aus dem Luthers stammt) kommt als wichtiges Stück
„Das Leben aus dem Glauben"; in diesem Leben ist der
Gerechtfertigte „Mitarbeiter Gottes für seinen Nächsten
" (S. 153). Im Anschluß daran skizziert Vf. das Bild
| der Gemeinde, innerhalb deren sich die Betätigung des
; Glaubenden vollziehen muß (S. 157 ff.). — Den Kern des
Kapitels über die „Glaubensanschauung Franckes"
, bildet die Darstellung der verschiedenen „Glaubenszu-
stände". Der Vf. unterscheidet deren fünf, die er aber
nicht schematisch verstanden wissen will. Es soll nach-
i gewiesen werden, daß die personhafte Glaubensanschauung
Franckes (genau so wie die Molinos' und Luthers)
den persönlichen Gehorsam aufseiten des Menschen be-
; dingt (vgl. S. 222). Das echte Glaubensverhältnis muß
j den Menschen in seiner Existenz als etwas erfalirbares
j betreffen. Die Uebersicht über die fünf „Glaubenszu-
j stände" gibt der Vf. selbst S. 222: „Zustand 1 bedeutet
! das erste offenbarende Handeln Gottes am Menschen.

Folgt der Mensch dem darin liegenden Willen Gottes
j nicht, so kann sich Zustand 1 wiederholen. Zustand 2/3
! stellt den Weg zur Rechtfertigung dar. Zustand 4 ist die
j Erfahrung der Rechtfertigung und Zustand 5 das Leben
aus Glauben." Bei der Darstellung des fünften Zustan-
des weist Vf. vor allem darauf hin, daß bei Luther „eine
Gleichartigkeit des Lebens nach der Bekehrung . . . mit
J demjenigen während des „Bußkampfs" . . bestehe,
weshalb oftmals „das Vorhandensein und die Bedeutung
j des Datums der Erfahrung der Rechtfertigung . . . nicht
, beachtet wird" (S. 276). Umgekehrt sei bei Francke ein-
j seitig „das Datum der Bekehrung als das von Fr. gefor-
derte Lebensziel" hingestellt worden, „bei dessen Erlangung
man sich ausruhe" (S. 276 f.). Daraus habe man „eine
j Reihe von Gegensätzen zu Luther konstruiert" (S. 277).
I Bemerkenswert in der Beschreibung des Glaubens, auf
i die im einzelnen hier nicht eingegangen werden kann,
I ist die Deutung, die Vf. dem aktivistischen Moment in
I Franckes Glaubensverständnis gibt: „Die Vorstellung
Gottes als ,actus purus' muß sich im Glaubcnsleben
widerspiegeln in einer dauernden Aktivität" (S. 2801).
— Ein Abschnitt über die Mitteldinge beschließt das
j Buch.

Zweifellos hat der Vf. ein höchst wichtiges Thema
in Angriff genommen, indem er Francke und Luther und

j sogar noch den spanischen Mystiker Molinos auf ihre
inneren Beziehungen zu studieren versuchte. Es wird
auch deutlich, wie viel dem Vf. daran gelegen ist, die

I seiner Meinung nach durchgängig herrschende Auffassung
zu erschüttern, als stünden Luther, Pietismus und
Mystik im Verhältnis des ausschließlichen Gegensatzes. So

! wird man gewiß sagen müssen: est laudanda voluntas.

: Aber ebenso offen muß hinzugefügt werden: ut desint

! vires. Das Buch trägt (abgesehen von manchen Druckfehlern
) schwer an den methodischen Mängeln einer

| Anfänger-Arbeit. Über den vielen ausgeschriebenen, oft

I einfach aneinandergereihten Zitaten (die an sich sehr zu

I begrüßen sind!) geht der Faden mehr als einmal verloren
. Die Belegstellen sind, wie mehrere Stichproben im

j Lutherkapitel bewiesen haben, durchaus nicht immer zuverlässig
. Vor allem sind die Linien (gerade auch in der
Darstellung Franckes) viel zu wenig typisch, weil dem

| Vf. die Kenntnis der Umgebung Franckes fehlt. (Dali