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Ausgabe:

1940

Spalte:

89-91

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Ehrhard, Albert

Titel/Untertitel:

Überlieferung und Bestand der hagiographischen und homiletischen Literatur der griechischen Kirche 1940

Rezensent:

Campenhausen, Hans

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89

Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 3/4

90

E h r h a r d, Albert: Ueberlieferung und Bestand der hagiographi-

schen und homiletischen Literatur der griechischen Kirche !

von den Anfängen bis zu Ende des 16. Jahrhunderts. Erster Teil: I

Die Überlieferung, II. B. Leipzig: J. C. Hinrichs 1938. (IV, j
717 S.) 80 — Texte u. Untersuchungen z. Gesch. d. altchristl.

Literatur. Bd. 51. RM 50—; geb. RM 53—. I

Die Anzeige des ersten Bandes von Ehrhards ge- t
waltigem Werk (ThLZ 1938,397—400) hat den Lesern
dieser Zeitschrift schon eine gewisse Vorstellung von des- j
sen Bedeutung und allgemeinem Charakter vermittelt.
Der zweite Band führt die Untersuchung des weitschichtigen
Materials in derselben umfassenden und
sorgfältigen Weise weiter fort und kann nunmehr etwas
kürzer besprochen werden.

Nach den alten Jahressammlungen und Menologien
kommen zunächst die alten Panegyriken und Homiliarien )
als Übermrttler des hagiographischen und homiletischen I
Stoffes an die Reihe. „Homiliarien" nennt E. zur klareren
Scheidung der (in der Uberlieferung gleichmäßig
„Panegyriken" genannten) Formen solche liturgische
Sammlungen, die nur das bewegliche Kirchenjahr berücksichtigen
. Sie sind also das genaue Gegenstück zu den
Menologien, die umgekehrt nur die unbeweglichen, am
Datum haftenden Feste betreffen. „Panegyriken" im engeren
Sinne heilkn dagegen diejenigen Mischformen, die j
zwar im erster Linie wieder nur die beweglichen, daneben
aber auch die wichtigsten unbeweglichen Feste berücksichtigen
. Panegyriken und Homiliarien haben ihre besondere
Entwicklung durchgemacht. Das ergibt sich vor
allem aus der Verschiedenheit ihrer „Typen", die in
ähnlicher Weise ermittelt — oder auch nur erschlossen
— werden wie im ersten Band die Typen der Menologien
. — Besondere Beachtung verdienen die sogenannten
„Spezialpanegyriken", welche jeweils nur Reden
eines einzigen Kanzelredners enthalten. Aus alter Zeit
wird dabei Gregor von Nazianz bevorzugt. Neben ihm
stehen Gregor von Nyssa und vor allem Johannes Chry-
sostomus. Eine Spezialsammlung aus Theodorus Stu-
dites Predigten ist verloren. Außerdem gab es noch eine
aus den Reden Kaiser Leos VI. d. W. (f 911) und eine
seines Zeitgenossen Niketas des Papblagoniers. Es
scheint, daß auch für Photios schon sehr früh ein solches
Spezialpanegyrikum angelegt worden ist, das fast
die einzige Quelle geworden ist, durch die seine Predigten
auf uns gekommen sind. Die größeren Sammlungen i
der Schriften Gregors von Nyssa sind ebenfalls nicht
zufällig nach dem Kalender geordnet, und die Kommentare
des Johannes Chrysostomus sind nur deshalb so
massenhaft überliefert, weil sie in bestimmten Abschnitten
des Kirchenjahrs beim Morgengottesdienst verlesen
wurden. Es ergibt sich immer wieder viel deutlicher, als I
bisher erkannt war, daß die liturgischen Lesungen für
die Überlieferungsgeschichte von entscheidender Bedeutung
gewesen sind. „Denn den zahlreichen Hss-Schrei- ]
bern der byzantinischen Zeit war es nicht darum zu tun,
das reiche Erbe der patristischen Vergangenheit als solches
zu erhalten und den vollen literarischen Nachlaß
eines jeden Kirchenschriftstellers der Nachwelt als historische
Dokumente zu überliefern, sondern sie schrieben i
aus unmittelbar praktisch-kirchlichen Interessen, unter J
denen das liturgische an erster Stelle stand" (S. 209).

Der Hauptteil des zweiten Bandes (S. 306—709) und
das größte, schlechthin überwältigende Maß von Arbeit
gilt indessen nicht den alten Homiliarien und Panegyriken
, sondern dem neuen „Menologium Symeons des
Logotheten, genannt Metaphrastes", der gegen Ende des
10. Jahrhunderts eine durchgreifende Überarbeitung der
«tften liturgischen Texte vorgenommen hat, die sich in
<ler ganzen griechischen Welt durchsetzte. Diese „Agendenreform
" ist daher auch für die Überlieferungsge- !
schichte ein überaus bedeutsames Ereignis und man
spricht in dieser Hinsicht mit Recht von einer „vor"-
und „nachmetaphrastischen" Periode, obwohl „der Individualistische
und freiheitliche Zug, der das ganze i
griechische Kirchentum beherrscht", auch in späterer |

Zeit keine starre Regel kennt und das metaphrastische
Menologium verschiedenen Abwandlungen und Redaktionen
unterworfen wurde. Bis jetzt hingen alle lebhaft
geführten Diskussionen über den Metaphrasten und sein
Werk indessen mehr oder weniger in der Luft, weil eine
sichere Erkenntnis des Umfangs und Inhalts seines Me-
nologiums noch nicht gewonnen war. Selbst für die
Lebenszeit Symeons wurde noch jüngst ein ganz andersartiger
Ansatz in Vorschlag gebracht (S. 309ff.). Hier
hat nun E.s Werk in einer wunderbaren Verbindung minutiösester
Kleinarbeit mit scharfsinniger Kombination
endgültig Wandel geschaffen, und viele ältere Zweifelsfragen
— z. B. auch die seiner Zeit gegen E. erhobenen
Einwendungen Delehayes (S. 699ff.) — erledigen
sich da.nit mehr oder weniger von selbst.

Es ist hier nicht der Ort, das komplizierte Beweisverfahren wiederzugeben
, mit dem zunächst einmal der ursprüngliche Bestand von
Symeons Menologium, das in der Überlieferung der Handschriften niemals
als solches bezeichnet wird, Schritt für Schritt gesichert wird.
Genug, daß das Ergebnis im Ganzen schlechthin überzeugend ist.
Besonders wertvolle Dienste leistet das Zeugnis der Typiken, und eine
nahezu unübersehbare Fülle von bisher meist nur unzureichend oder
ganiicht erforschten Handschriften wird dabei ermittelt, gesichtet und
gruppenweise geordnet. Es folgt für jeden einzelnen Monat ein Vergleich
mit den älteren Menologien, deren Texte zwar vielfach nicht
mehr vollständig erhalten, aber nach der von E. im ersten Band
durchgeführten Rekonstruktion immerhin noch feststellbar sind. Dabei
tritt immer wieder dasselbe Ergebnis zu Tage: eine relative „Gleichheit
der Feste und Verschiedenheit der Texte". Symeon wollte eben
nicht den Festkalender, der vielmehr feststand, reformieren, sondern
nur die überlieferten „historischen" Lesungen durch „bessere", im
rhetorischen Geschmack seiner Zeit überarbeitete Fassungen ersetzen.
Ihre Vorlagen sind nicht immer zu ermitteln, finden sich aber begreiflicher
Weise vor allem in den Texten des älteren Menolojriums.

Ein besonderes Rätsel steckt in der ungleichen Berücksichtigung
der verschiedenen Monate durch Symeon. Von den 10 Bänden, die
sein Menologium ursprünglich umfaßte, sind nicht weniger als acht
der Zeit vom September bis Januar gewidmet. Kein Wunder, daß
schon in alter Zeit die Erklärung aufkam, Symeon habe sein Werk,
das, dem byzantinischen Kalender entsprechend, mit dem September
den Anfang machte, überhaupt nicht mehr zu Ende geführt. Aber
diese Annahme kann nicht richtig sein. Symeon hat tatsächlich auch
die sieben Monate von Februar bis August bearbeitet, ihnen aber insgesamt
nur zwei Bände gewidmet. Der Grund für dieses auffallende
Mißverhältnis kann wohl nur der gewesen sein, daß die liturgische
Sitte sich selbst gegenüber der älteren Zeit gewandelt hatte. Auch das
Zeugnis der Typiker spricht dafür, daß die Zahl der Morgengottesdienste
in der Frühlings- und Sommerszeit ganz erheblich vermindert
worden ist.

Alles in allem kommt der Verf. schließlich zu einer
weitgehenden Ehrenrettung des vielgeschmähten Metaphrasten
. Gewiß entspricht der rhetorische Stil seines
Menologiums, dessen wenige Texte nun fort und fort
bis zum Überdruß wiederholt wurden, nicht mehr unserem
Geschmack. Aber seiner Zeit war die Neuerung,
wie ihr Erfolg beweist, offensichtlich willkommen; der
Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos selbst scheint
seinem Logotheten die erste Anregung dazu gegeben zu
haben. Und es ist vollends unrichtig, wenn man den
Metaphrasten als „devastator" der griechischen Hagio-
graphie bezeichnet, der die alten Texte vernichtet bzw.
durch seine mirakelhaften Zusätze entstellt und verdorben
habe. Gerade die „mirakelhaften" Züge sind den
Martyrien von Anfang an eigentümlich, und der Meta-
phrast hat die Substanz der Erzählungen überhaupt nirgends
verändert, sondern ihnen „nur ein neues, rhetorisch
aufgeputztes literarisches Kleid gegeben" (S. 707).
Vor allem aber: durch seine Reform sind zwar die alten
Texte natürlich zurückgedrängt worden, aber sie sind
darum doch nicht oder höchstens nur zu einem verschwindend
geringen Teil tatsächlich verloren gegangen.
Fast für jeden metaphrastischen Text besitzen wir heute
noch dessen ältere Fassung.

So führt die Untersuchung schon jetzt in vieler
Hinsicht zu sicheren und endgültigen Ergebnissen. Ihr
Verf. hat in der Absicht, zunächst nur „Überlieferung
und Bestand" zu sichern, durchweg ebenso vorsichtig wie
sicher gebaut. Er kennt die Macht des Zufalls (S. 536.