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Ausgabe:

1940

Spalte:

49-51

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lütgert, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Ethik der Liebe 1940

Rezensent:

Wünsch, Georg

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satz trägt, muß bei einem Christusmythos enden und
kann, wie dies Buch zeigt, die wahren Fragen, die es im
Offenbarungsproblem zu lösen gibt, überhaupt nicht
mehr sehen. Christliche Theologie kann sich von diesem
Buche „in alle Zukunft" lehren lassen, was es heißt, innerste
Bedingtheiten menschlichen Daseins überhaupt
überspringen zu wollen, wie es hier mit dem Denken
geschieht. Das muß — wo immer solch Sprung auch
versucht werden mag — sich darin rächen, daß man wie
hier die Grundtatsache christlich-theologischen Denkens:
den historischen Jesus von Nazareth aus den Augen verliert
. An seine Stelle schieben sich Phantasmen und Konstruktionen
wie ein genetischer, pragmatischer, sarkischer
und pneumatischer Christus, von denen der sarkischc
Christus — eben jener Zimmermannssohn nur ein untergeordnetes
Interesse beanspruchen kann! Im Ganzen
aber muH solch Denken, wie dies Buch illustriert, in
die Widersinnigkeit verhaltet bleiben, als nicht-raumzeit-
bezogenes Denken sieh von den Aussagen historiscli bedingter
Texte nähren zu müssen.

Nicht jenseits von raumzeitlichen Größen liegt die
Lösung der Fragen einer christlichen Theologie! Nicht
in der Abstoßuug des Objekt-Subjekt (Ich-Du) Verhältnisses
gewinnt man die Aufhellung der Geheimnisse, die
um die Offenbarung stehen. Es geht kein Weg vorbei
an dem Jesus von Nazareth, der nun einmal eine historische
Gegebenheit ist und gerade darin die Offenbarung
Gottes als Person. Dieweil es sich angesichts dieser
nicht wegzuleugnenden Tatsächlichkeit bei der christlichen
Offenbarung also immer um ein Geschehen handelt
, für das die Historizität ein an den Kern der Sache
rührendes Gewicht hat, so ist die jede Welt des Historischen
löschende Aufhebung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses
und seines Korrelates des raumzeitbezogenen Denkens
eine Unmöglichkeit gerade für die christliche Theologie
. Die Gi'uiiderfa'hruiig christlichen Glaubens weiß,
daß das reale Objekt-Subjekt-Verhältnis — sei Gott oder
Mensch als Subjekt gesetzt — dem nicht nachkommt,
was „eigentlich dem Glauben durch die Offenbarung
widerfährt". Jedoch die einfache Löschung solchen Verhältnisses
führt zum Abweg, da sie christlichem Glauben,
der sich auf einer historischen Tatsächlichkeit auferbaut,
überhaupt den Boden nimmt, gesund und wahrhaftig zu
bleiben. —

Gießen C. H. Ratschow

Lütgert, Wilhelm: Ethik der Liebe. Gütersloh: C. Bertelsmann
1938. (XII, 286 S.) gr. 8° = Beitr. z. Fördg. christl. Theologie, 2. Reihe
: Samml. wiss. Monographien, 39. Bd. RM 9—; geb. RM II—.
Das Buch ist nicht, wie der Titel nahelegen könnte,
eine Monographie über die christliche Liebe, sondern
eine vollständige Ethik unter dem alleinigen Gesichtspunkt
der christlichen Liebe oder der Liebe überhaupt,
da es für den Verfasser eine andere wahre Liebe als die
christliche nicht gibt. Er glaubt damit die christliche
Wahrheit nach einer Seite zu entwickeln, die im bisherigen
Protestantismus: in der Reformation, besonders aber
in der Orthodoxie und der neuesten Theologie, zu kümmerlich
und im deutschen Idealismus verfehlt zum Ausdruck
kam.

Der erste Hauptteil gibt die „Grundlegung". Durch
die Schöpfung hat der Mensch die Anlage, die Sehnsucht
, das Verlangen nach Liebe erhalten, die ihn treibt,
über Welt und eigene Existenz hinauszufragen. Sie ist
die Wurzel der Religion und der Ethik, die beide unzertrennlich
zusammengehören. Die Liebe widerspricht nicht
dem Selbsterhaltungstrieb, sie hindert nur seine Entartung
in Selbstsucht und findet in ihm das Organ für ihre
Empfänglichkeit. Die eindringliche Bestimmung der Liebe
als einer „produktiven Kraft",, die im Andern mehr
findet und erzeugt, als in ihm selbst gegeben ist, führt
zu der Grundthese, die die ganze Darstellung durchzieht:
Wirkliche Liebe ist nur als religiöse möglich; sie hat
ihren Grund in der Offenbarung des Schöpfers, der sich
mit der Schöpfungstat selbst als Liebe erwiesen hat und

I Dankbarkeit und Vertrauen als die Wurzeln der Liebe
i erzeugt. Was Liebe ist, wird dann als Gottes- und Nächstenliebe
entwickelt. Dazwischen ist von der Kirche
als der vollendeten Gemeinschaft der Liebe die Rede, der
eine andere Liebesgemeinschaft nicht zur Seite gestellt
werden kann. — Der zweite Hauptteil enthält die „Entfaltung
". Er entwickelt, wie sich die Liebe auf den einzelnen
Lebensgebieten zu bewähren und zu verwirklichen
hat: so im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit, mit
der Wahrheit und auf dem Gebiet der Wissenschaft,
mit der Ehre im Unterschied vom Ehrgeiz; Liebe
verklärend die Schönheit, gestaltend das Verhältnis
der Geschlechter, Liebe in Wirtschalt, Staat und
Volk, als Lebenskraft und Tapferkeit, als Freiheit und
Freude. Es ist unmöglich, im einzelnen hier zeigen zu
. wollen, wie sich der Verf. die Auswirkung der Liebe
in der Mannigfaltigkeit der Lebenswirklichkeit denkt.

Der Verfasser konnte, wie das pietätvolle Vorwort
der Herausgeberin zeigt, nicht mehr die letzte Hand an
das Werk anlegen. Die gelegentlichen Wiederholungen
I und skizzenhaft nur angedeuteten Partien fallen aber
nicht schwer ins Gewicht gegenüber der Größe und
Wärme des Inhalts, der mit Einsicht und Reife emp-
i funden und dargestellt ist. Die „Liebe" ist das große
Lebensproblem des Verf. gewesen. Und es ist ein Verdienst
, entgegen der üblichen Theologie der letzten Jah-
j re, auf diese schwer vernachlässigte und verkümmerte
j Seite solchen Nachdruck gelegt und damit eine wesent-
j liehe Seite der christlichen Wahrheit betont zu haben.

Dadurch haben sich in vorliegendem Buch nicht alltäg-
! liehe Einsichten erschlossen, denen ich freudig zustimme,
j weil sie in unserer Zeit höchst notwendig zu betonen
sind. So vor allem die entscheidende Wichtigkeit einer
christlichen Ethik überhaupt, die sich ergibt aus der
Tatsache, daß aus Gottes geoffenbarter' Wirklichkeit
mit selbstverständlicher Notwendigkeit die Liebe als
Forderung, als Pflicht, als Sollen folgt (S. 31). Überall
drängt der Verf. auf Echtheit, Wahrheit, Realität; er
macht ernst mit der Weltregierung Gottes, die bewirkt,
I daß Reich Gottes und diesseitige Geschichte irgendwie
j im positiven Zusammenhang stehen müssen, der durch
i Gottes Liebe bestimmt wird. So weiß er auch die Sün-
| de als „opus alienum Dei" positiv zu verstehen im Hin*
j blick auf die Liebe, für deren Erfahrung sie Voraus-
! Setzung ist; dasselbe gilt von den geschichtlichen Kämp-
i fen, die in Gottes Liebe ihren Sinn haben müssen. Weil
j neben Offenbarung und Natur die Geschichte positiv ge-
| würdigt wird, zeigen sich bei Behandlung der politischen
| Ethik in den Grundzügen Erkenntnisse von Tiefe und
Fruchtbarkeit. Ich freue mich, daß der Verf. in man-
! chen Stücken die Sache ähnlich sieht, wie ich sie in mei-
I ner „Ethik des Politischen" dargestellt habe.

Freilich darf ich daneben wesentliche Bedenken nicht
| verschweigen. Kann man wirklich allein auf die Liebe
eine vollständige christliche Ethik systematisch gründen?
I In des Verf. Darstellung zeigen sich Partien, wo er ge-
! waltsam konstruiert, so wenn er Liebe mit Wissenschaft
und Kunst zusammenbringt und diese aus jener begründet
. Liebe wird ihm dann unter der Hand zum Sachin-
j teresse, und das ist etwas anderes als christliche
Liebe. Andere Partien zeigen überhaupt keine Beziehung
zur Liebe. Vor allem aber verbirgt diese Verein-
I heitlichung auf die Liebe wesentliche inuerchristliiche
I Konflikte. Denn es ist auch da Gehorsam gegen Gott
gefordert, wo er der Liebe offenkundig zu widerstreiten
, scheint. Der Verf. konstruiert da harmonisch zu einem
Ideal zusammen, was praktisch kaum lösbare Konflikte
| — und zwar Konflikte vor und in Gott selbst — für
! unser menschliches Verständnis sind. So wird das Verhältnis
von Liebe zur Gerechtigkeit, zu Staat und Ehre,
zu Arbeit und Eigentum, vor allem die Feindesliebe
j viel zu einfach, ja beinahe naiv behandelt. Gewiß können
auch diese Konflikte aus der Liebe Gottes verstanden werden
, aber erst nachem sie vorher viel ernster genommen
! und radikaler als Widerspruch erfaßt sind. —Ganz und