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Ausgabe:

1940 Nr. 11

Spalte:

324-325

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Karl

Titel/Untertitel:

Der Tod bei Heidegger und Jaspers 1940

Rezensent:

Karowski, Walter

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Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 11

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sich erweisen, und hier nun ergibt die Arbeit des Verf.
selber, daß bei seinem Versuch die gesuchte „'Gestalt"
sich in eine lockere Reihe von Einzelproblemen auflöst.
Mag man den Versuch machen, von dem religiösen Impuls
des Cusaners ausdrücklich abzusehen, so verkennt
man doch das Wagnis und die Schwere solchen Versuchs,
wenn man den totalen Abstand des Cusaners von der
Mystik undiskutiert zugrundelegt.

Die Arbeit von J. Kitter über ,,Docta Ignorantia" (Leipzig und
BerHn 1927), die auf des Cusaners Verhältnis zur Mystik eine historisch
und systematisch vorbildlich unterbaute Antwort gibt, wird
nur herangezogen, um gegen deren eigenste Ausführungen bc'egcn zu
sollen, „wie weit der Cusaner von der Mystik entfernt ist." Kitter
dagegen sagt nur, daß die docta ignorantia „wohl dem ursprünglichen
und praktischen Sinn der Mystik, nicht aber der Mystik der
Coinzidenz, wie Cusanus sie meint" widerspricht. Ritter also anerkennt
gerade, daß es sich bei dem Cusaner um eine eigene
Form der Mystik handelt. Wenn es eine Einseitigkeit von ihm sein
dürfte, die ,»ursprüngliche Mystik" allein in der emotionalen Form,
die sie bei Bonaventura hat, zu suchen, so sieht er doch ganz richtig
, daß die Haltung des Cusaners jedenfalls auch eine Qcstalt der
Mystik ist, und völlig richtig beschreibt er die docta ignorantia
als eine ,,äniigmatischc Oottescrkenntnis".

Übrigens wohnte der „intellektuellen" Mystik, die
selber eine genuine Urgestalt der religiösen Mystik
ist (vgl. vor allem auch die indische Mystik des
Sankara), immer das Streben ein, die Dinge in Gott
und Gott in den Dingen zu sehen, d. h. durch das Immanente
und seine Schau hindurch zum ganz Anderen zu
dringen und aus der Verwurzelung in diesem der
Welt selber inne zu werden. Aus dem Gesarntrahmen
dieser Mystik hatte die besondere Art auch des cusani-
schen Philosophierens herausgearbeitet werden sollen.
Besteht es einmal in jenem sogenannten „Agnostizismus
" der docta ignorantia, der auch gegenüber der
Mystik eines Meisters Eckhart zweifellos gesteigert ist,
so zum anderen in dem lebendigen Impuls, der sich auf
dem Untergrunde dieses Rätsels und von ihm getragen
auf die Entdeckung der Objektwelt wirft. Weder die
Einheit beider Richtungen noch die letztere für sich
kommt bei Rogner zu voller Klarheit.

Merkwürdig ist bei der grundsätzlichen Einstellung des Verf.s,
daß für die abschließende Darstellung des Hauptthemas, die Erkenntnisbewegung
, die ausgesprochen theologische Frühschrift des Cusaners
de docta ignorantia die Hauptquelle ist, obwohl Verf. diesem Aufstieg
zur coincidentia oppositorum eigentlich nur die Anerkennung
der „gnoseologischen Erkenntnisgrenze" als philosophisch wertvoll
entnehmen kann. Eben deshalb hat er wohl die beiden Richtungen,
die beim Cusaner engstens zusammengehören, von einander getrennt.
Aber eben dadurch bringt er sich auch um die Möglichkeit, den Ertrag
jenes Aufstiegs für die in die Welt gerichtete Erkenntnisbewegung
zu erkennen. Die Fruchtbarmachung jenes Prinzips der
coincidentia als symbolischen Ausdruck des Prinzips der dynamischen
Genesis z. B. der Linie aus dem Punkt, des Winkels aus der Bewegung
der Linie oder des Prinzips der Kontinuität der Formen wird
außer Acht gelassen. (Vgl. vor allem de beryllo, cap. 7 und de
coniecturis II, cap. 3 und 8). Wo aber die Frage nach dem Unendlichen
ausdrücklich gestellt war, hätte diese Vorwegnähme Leibnizcns
nicht übergangen werden dürfen. Offenbar ist dem Verf. das cusa-
nische Prinzip der „Erzeugung" der Erkenntnisgegenstände in der
Tätigkeit dies Geistes standpunktlich nicht gelegen, zumal er mit
einem eigentümlichen Perspektivismus der individuellen Erkenntnis
verbunden ist.

Es mag einem auf das an sich Gültige gerichteten
Denken der „Relativismus" verdächtig sein, zu dem der
Cusaner von seinem Prinzip aus, daß in allem Erkennen
letztlich nur der Geist sicli selbst erkenne, weiterschreitet
: „Alles Universelle, Generelle und Spezielle
julianisiert in dir, Julian, wie die Harmonie auf der
Flöte flötet, auf der Zither zithert". (de coniecturis II,
3). Wer nach der Erkenntnisbewegung beim Cusaner
fragt und dabei ausdrücklich das Problem des Unendlichen
als Zentralproblem entwickeln will, darf sich
hier mit dem Hinweis auf die Unzulänglichkeit des Subjekts
nicht begnügen, sondern muß auch „bei aller
Eigenwilligkeit", wie Verf. sie für sich in Anspruch
nimmt (S. V), klar stellen, daß der Cusaner hier im Gegenteil
einen von ihm durchaus positiv begrüßten Perspektivismus
des Erkennens ableitet. Den Relativismus

i überwindet der Cusaner dabei gerade durch seine theo-
| logische Voraussetzung. Die erste Antwort des Cusaners
ist der Zusammenschluß aller Sichten im absoluten,
alle Sichtweisen umspannenden „Auge Gottes". Daran
schließt sich sofort zweitens das emphatische Ja zu dem
von dem Unendlichen ausgehenden Impuls zum Eigen-
i sein und zur tätigen Weltdurchdringung vom eigenen
] Standort aus. Hier wird die vom Verf. nur genannte
und sofort verworfene „Überformung" des menschlichen
t Erkennens durch das göttliche Erkennen in grandioser
Weise fruchtbar, nämlich als Stiftung des sich zu eigenen
Selbst aus dem tragenden Selbst Gottes (vgl- vor allem
die Schrift de visione, insbes. cap. 7). Daß dieser ausgesprochene
Personalismus, diese Entdeckung der Persönlichkeit
vom Verf. völlig verschüttet wird, hängt mit
I seiner antitheologischen Voreingenommenheit engstens
i zusammen. Wer in der docta ignorantia nur die Formel
] für die gnoseologische Erkenntnisgrenze sieht (S. 58),
der kann den Impuls nicht sehen, der aus dem schweigend
-unaussprechlichen Bewußtsein letzter Sinngetragen-
neit in der Welt die Hülle jenes Sinnes sucht und von
ihm selbst sich in seinen Grenzen so umfangen wie in die
I Welt gewiesen weiß. An diesem Zentrum der der Welt
sich zuwendenden Personalität wird des Verf.s Entgegen-
stellung der theologischen „geistigen Struktur" und der
den Weltproblemen zugewandten „geistigen Gestalt" evident
unhaltbar. Die Personalität, wie der Cusaner sie
entdeckt, ist selber das systematische Zentrum, in welchem
alle Linien seines Denkens sich verschmelzen,
und wie man selber zur Theologie stehen mag, hier erweist
sich gerade die theologische Position des Cusaners
in ihrer unmittelbaren Auswirkung als philosophisch
zentral und die Vernachlässigung derselben
als Hindernis der Erfassung der „geistigen Gestalt".
Marburg Th. Siegfried.

Lehmann, Dr. theol. Karl: Der Tod bei Heidegger und Jaspers.

Ein Beitrag zur Frage: Existentialphilosophie, Exislenzphilosophie und
Protestantische Theologie. Heidelberg: Evangelischer Verlag J. Com-
tesse 1938. (95 S.) 8°. RM 1.90.

„Ein Beitrag zur Frage: Existenzialphilosophie, Exi-
stenzphilosophie und protestantische Theologie", wie der
Untertitel des Buches lautet, ist diese Schrift ganz und
gar nicht- Sie stellt lediglich die Ansichten zweier großer
Philosophen über den Tod dar. Wer sich über Heidegger
und Jaspers orientieren will, der wird zu ihren
Büchern selbst greifen, weil kein Interpret dem Leser
die Eigenwilligkeit und die in ihr liegenden Schwierigkeiten
ihrer Diktionen abnehmen kann. Durch Herausnahme
eines Teilproblems (hier dessen des Todes) geht
ihm der Aspekt des Ganzen ihrer Philosophie darüber
verloren. Was L. über den „weltanschaulichen Umkreis"
der Philosophien Heideggers und Jaspers- sagt (S. 66
bis 73), ist der Forschung längst bekannt. Den Gedanken
des „Sprunges" (S. 60, 72) wird man eindeutiger
auf Kierkegaard als auf Goethe zurückführen. In Abschnitt
„VIII. Heideggers Analyse des Seins zum Tode
und die Theologie" sind dem Verf. einige Ausführungen
unterlaufen, die dazu angetan sind, seine eingangs (S. 9
bis 10) geäußerte Absicht, zwischen Theologie und Philosophie
eine Verständigung herbeiführen zu helfen, ganz
und gar zu vereiteln. Daß — wie der Verf. meint —
die Heideggersche existenziale Fundamcntalontologie
nicht das ganze Dasein zu erfassen vermochte, ist ein
durchaus als Diskussionsgrundlage zu benutzendes Urteil
. Doch was soll man dazu sagen, wenn der Verf. den
Satz wagt: „Das ganze Unternehmen einer in sich selbst
I geschlossenen Existenzialontologie, das Versteheiiwollen
| der Grundstrukturen des Daseins von ihm selbst her —
und sei es auch in der fast völlig formalen Existen/ial-
struktur — ist als solches schon unter dem Gesichtspunkt
! der Sünde zu sehen" (S. 81)? Dazu möchte ich zweier-
I lei, ein Sachliches und ein Persönliches, bemerken:
1) Diese „Feststellung" verurteilt vor einem pseudotheologischen
Richterstuhl (wir meinen den auf ihm thronen-