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Ausgabe:

1940 Nr. 11

Spalte:

322-324

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rogner, Hildegund

Titel/Untertitel:

Die Bewegung des Erkennens und das Sein 1940

Rezensent:

Siegfried, Theodor

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Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 11

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schlossenen und halboffenen Fürsorge, die Einwirkungen
Wichen» auf die Berliner Liebesarbeit, die Stadtmission,
die Arbeit der Hofkreise und die kirchliche Wohlfahrtsarbeit
von 1918—1932. Wer diese Entwicklung in den
letzten 50 Jahren von außen verfolgt und von innen miterlebt
hat, ist dankbar für die gerechte, klare und gütige
Darstellung des großen Stoffes. An einigen Punkten ist
die Darstellung durch die letzten Entwicklungen überholt
, hier und da findet sich auch ein kleiner Irrtum in
Namen und Daten, der aber nur dem ganz Eingeweihten
bewußt wird; er tut nichts zur Sache. Eine ungeheure
Stoffsammlung stand dem Verfasser zu Gebote und wurde
sparsam und weise von ihm verwendet. Wir sehen
die Entstehung der Berliner Diakonissen- und Krankenhäuser
, der Charite, der Häuser am Urban, des Kaiser-
Friedrich- und des Virchow-Krankenhauses, des von Goß-
ner gegründeten Elisabeth-Kraukenhauses, der Königlichen
Stiftung Bethanien, das einst als Krankenhaus des
Schwanen-Ordcns gegründet wurde, der freilich bald seinen
Schwanengesang anstimmte. Wir sehen Flicdner in
Berlin und erleben die feierliche Einweihung von Bethanien
. Das Lazarus-Krankenhaus, das Paul-Oerhardt-Stift,
das Oberlinhaus in Nowawes und das Königin-Elisabeth-
Hospital, Salem in Lichtenrade, der Diakonievercin bis
hin zum Martin-Luther-Krankenhaus — so ziehen sie an
uns vorüber. Wir können nicht auf alle Kapitel näher
eingehen, aber Konstantin Liebig und sein Dienst an
Arbeitslosen, Bodelschwingh mit den Kolonien Hoff-
niuigsthal und Gnadenthal, das Wadzecksche Waisenhaus
, das Oberlinhaus in Nowawes mit seiner Krüppel-
iind Taubstumimenfürsorge, die Kindergartenbewegung
und der Khidcriettimgsvercin treten lebendig vor uns
hin. Strafentlassene und Trinker werden von der Inneren
Mission betreut. Nun kommt Wichern nach Berlin. 1844
ruft man ihn, der König empfängt ihn am 5. November
in Audienz, am 11. Juni 1840 spricht er vor der Berliner
Pastoralkonfercnz. „Wenn wir unsere Aufgabe an dem
Volke nicht ergreifen, so ist nicht das Christentum, aber
die Kirche verloren." Die ersten Parochialvcreine und
die Vereine für Innere Mission, die christlichen Hospize
entstehen, ein evangelisches Sonntagsblatt wird geschaffen
, der Christliche Zeitschriftenverein wird gegründet.
Es ist die Tragik der Berliner Inneren Mission, daß sie
sich zersplitterte, Stadtmission, Zeitschriftenverein und
anders gingen neben einander her. Da auch die Stadtmission
mit kirchenpoiitischcii Zielen sich verband, kam
Wicherns üedanke nicht zur vollen Entwicklung. Wir
erleben ihre Gründung mit Adolf Stoecker als ihrem Leiter
lebendig mit. Von Stoecker ging eine große, die
Massen ergreifende Kraft aus. Wer aber Stoeckers Kirchenpolitik
nicht unterstützte, der bekämpfte auch die
Stadtmission, wie z. B. Bismarck, Vizepräs. Freiherr v. d.
Goltz und die kirchlich liberalen Kreise. Unter den königlichen
Frauen waren es besonders drei, die die Innere
Mission in Berlin förderten, nämlich die Prinzessin Marianne
Wilhelm, die nach dem Tode der Königin Luise
die Repräsentationspllichtcn am Hofe übernommen hatte
; die Königin Elisabeth, geb. Prinzessin von Bayern,
die früher katholisch gewesen war und die darum in
Berlin nicht warm geworden ist; und die Kaiserin Auguste
Victoria, die eine Samariterin auf dem Throne war.
In den Jahren von 1890—1900 wurden in Groß-Berlin
58 neue Kirchen gebaut und 10 vollendet. Die Frauenhilfe
und der Ev.-kirchl. Hülfsverein mit ihrer Gründung
und ihrer segensreichen Tätigkeit werden geschildert.
Der Verfasser führt uns tief in die kirchenpolitischen
Spannungen und Probleme aus dem Ende des vorigen
Jahrhunderts ein. Wir sehen aber auch die Gründung
Und Bauten des Johannesstiftes und der Hoffbauer-Stiftung
in Hermannswerder, der Sozialen Arbeitsgemeinschaft
, von Siegmund-Scliultze gegründet, und manches
andere. Die kirchliche Wohlfahrtspflege zwischen 1918
bis 1933 wird sachlich und nicht ohne Kritik geschildert.

Wer die letzten 25 Jahre der Arbeit der Inneren
Mission in Berlin kennt, an ihr mitwirkte oder sie beobachtet
, findet in der Wendlandschen Schrift eine klare,
nüchterne und gerechte Beurteilung. Er wird jetzt erst
auch die Struktur mancher Anstalten von Groß-Berlin.
recht verstehen und würdigen können.

Berlin-Dahlem G. Füllkrug

PHILOSOPHIE

Rogner, Hildegund: Die Bewegung des Erkennens und das
Sein in der Philosophie des Nikolaus von Cues. Heidelberg: Carl
Winter 1937. (VII, 69 S.) 8°. RM 3.50.

Als Hauptthema seiner Arbeit nennt Verf. selbst das
Problem der Unendlichkeit im Denken des Cusaners.
Besondere Aufmerksamkeit solle deshalb des Cusaners
„Ausbruch aus dem rationalen Bereich des Erkennens"
! geschenkt werden. Der erste Abschnitt beschreibt das
j rationale Erkennen. Hier ist es die ratio, die die entia
rationis, die logischen Kategorien, die mathematischen
Gebilde, überhaupt die Begriffe schafft (S. 14), aber
doch in solcher Gestaltgebung deren Selbständigkeit anerkennt
- Indem der Geist die entia rationis, die er im
I sich selber vorfindet, erfaßt, bildet er die Bezeichnungen
| und Zeichen, durch die er das real Seiende sich reprä-
| sentiert, ohne zu einer voll adaequaten Erkenntnis des
letzten zu kommen. Der zweite Abschnitt behandelt
j die theologische Voraussetzung des Cusaners, seine prae-
! suppositio, daß das Unendliche gleichzeitig die Voraus-
j Setzung des Realen und unserer Erkenntnis desselben
i sei, indem die Allverbundenheit des Seienden selber
als Erkenntnisverhältnis des Schöpfergeistes zum Geschaffenen
aufgefaßt wurde und diesem Verhältnis dann
das menschliche Erkenntnisverhältnis zu den Dingen
nachgebildet wird und entspricht. Der Cusaner gehe
| hier über das Prinzip des Minimums an Voraussetzungen
hinaus, indem er zur Erkenntnis der realia die Erkennt-
I nis ihres Prinzips, des Unendlichen, voraussetze. Der
j dritte Teil entwickelt das Verhältnis von Einheit und
Andersheit, d. h. des Ureinen und Oes Vielen an einer
Reihe von Einzelfragen, u. a. an des Cusaners Begriff
! der contingeutia und seiner Auffassung des Universalien-
problems- Im abschließenden Abschnitt wird die „Erkenntnisbewegung
" in ihrem Hinausschreiten über das
Rationale entwickelt, und zwar in ihrem Ursprung, dem
Trieb zur Betätigung, ihrem Wege, der Negation auch
noch jener Teilhabe oder partieipatio, durch die zunächst
! das Verhältnis des Endlichen zum LInendlichen begriffen
wird, die aber, wenn das Unendliche selber in seinem
letzten Wesen gedacht werden soll, weil sie nur teilhabe
und nicht die Sache selbst ist, negiert werden muß,
und in ihrem Ziele, der simplex visio. Mit Recht
wird betont, daß diese selbst begrifflich unterbaut ist
und nur im intellektuellen Überschreiten alles Anschau-
j liehen und diskret Begrifflichen gewonnen wird. Die
j berühmte coincidentia oppositoruun ist also kein abstrak-
1 ter metaphysischer Gedanke, sondern Ergebnis des durch
die Widersprüche hindurch sich bewegenden Denkens.
Der Arbeit liegt eine gute Kenntnis des Quellen ma-
; terials zugrunde, sie zeugt von großem Fleiß und bietet
eine im allgemeinen gediegene Interpretation der von
ihr in reichem Maße und umsichtig herangezogenen
| Texte. Ihren Anspruch, „einiges Gültige und Bleibende"
| aus dem Denken des Cusaners herauszuheben, erfüllt sie
durchaus, sei es, daß es sich um das Verhältnis von
Subjekt und Objekt, die Eigenständigkeit der mathematischen
Gebilde oder der Werte handelt. Dem weitergehenden
Anliegen, die geistige Gestalt des Cusaners
zu begreifen, steht die im Blick auf die Einzelfragen
zwar fruchtbare Methode der losen (und nicht immer
übersichtlichen) Problemaneiiianderreihung entgegen.
Die ausgesprochene Tendenz, von den persönlichen
: religiösen Impulsen wie von den theologischen Konzeptionen
des Cusaners abgesehen, ist im Blick auf
viele Einzelfragen sinnvoll. Ob dabei auch die geistige
Gestalt herausinodelliert werden kann, müßte am Ertrage