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Ausgabe:

1940

Spalte:

280-281

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Pfister, Rudolf

Titel/Untertitel:

Das Problem der Erbsünde bei Zwingli 1940

Rezensent:

Weber, Otto

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'279

Theologische Literaturzeitimg 1940 Nr. 9/10

280

arbeitet.

Verf. nimmt zum Ausgangspunkt daher zwei moderne
Mißverständnisse dieses dogmatischen locus, die er als
„Moralisierung und Psychologisierung des Sündenbegriffs
" abweist (S. 15). Nicht der Mensch wird am Menschen
gemessen (eine auch im kathol. Heiligen-Begriff
nahegelegte Irreleitung cf. S. 38), sondern der Mensch
wird von Calvin Gott als dem „absolut Reinen und
Heiligen, dem Richter und Rächer der Sünde des Menschen
" vorgestellt: „ne ad modulum nostrum metiamur,
qua operum integritate divino iudiieio satisfaciat" (In-
stitutio-Zitat, S. 29). Wenn aus der Erkenntnis der Fak-
tizität der Sünde die eigene Anerkennung wird, ist dies
schon ein Zeichen göttlicher Arbeit am Menschen; daher
kann Verf. auch von einem „Offenbarungs-"Charakter
der Sündenerkenntnis sprechen. Nicht ohne Grund ist
an dieser Stelle ein Hinweis auf Holls'Arbeiten zum
Luther-Erlebnis gegeben (S. 47, cf. auch S. 67). Überhaupt
bemüht sich Verf. ein dichtes Netz von Verbindungslinien
zwischen Calvin und Luther einerseits, sowie
zu Arbeiten „moderner Theologen" andererseits in Anm.,
Hinweisen und Zitaten zu geben.

Der zweite Hauptteil der Arbeit besteht aus einer
reichen Entfaltung der Sünde ihrer Erscheinung nach.
Eine nähere Aufzählung würde in diesem Rahmen doch
völlig ungenügend bleiben, daher hier nur zwei Calvin-
Worte: „Jeder wollte gern selig sein . . . aber keiner
will sich Gott nahen" (S. 77) und „Wenn man sich nicht
auf Gott zu leiten lassen will, muß er andere Regenten
zum entgegengesetzten Ende herauffü'hren . . ." (S. 73,
cf. auch S. 56ob.). Hinsichtlich des Gesetzes wird der
beachtliche Satz aus der Institutio zitiert, daß bei einer
Übertretung des Gebotes „nicht einfach zu bedenken gilt,
was geboten wird, sondern wer es ist, der gebietet"
(S. 54). Verf. kann hier auch manche Untersuchungen
über diesen Punkt bei Calvin weiterführen.

Zuletzt wird noch die Frage nach der „Vererbung"
der „Erbsünde" oder „der Verantwortlichkeit des Menschen
für sie" (S. 80 ff.) aufgezeigt. Erbsünde ist nicht
„physiologischer Zusammenhang", sondern gleiche „Haltung
Gott gegenüber" wie „sie der erste Mensch seit
seinem Fall zu Gott einnahm" (S. 99). „Sünde ist
eben nicht nur ein Accidenz seines „Soseins", sondern
Sünde ist mit seinem Dasein insofern und insoweit gegeben
als „Dasein" „Inderweltsein" bedeutet" (S. 107).
Nur einer ragt einsam und einzig hoffnungsvoll hervor:
„Jesus Christus, der „zweite Adam" und als solcher der
einzige sündlose Mensch, dessen Sündlosigkeit aber nicht
auf der „Jungfrauengeburt" beruhte" (S. 100). Mehr als
eine Klarlegung, an welchen beiden Punkten Calvin
„religiös" interessiert war, kann und will Verf. zum
eigentlichen Erbsünde-Problem nicht geben; eine restlose
systematische Harmonisierung wird wie von Calvin
abgelehnt. Einmal: Gott ist primär gerecht (cf. S. 86
ob. das für Calvin selbst außerordentliche aufschlußreiche
Zitat: „Ubi mentionem gloriae Dei audis, illic iu-
stititiam cogita. Justum enim esse oportet, quod laudem
meretur") und sodann: Der Mensch fiel durch eigenes
Verschulden in Sünden (S. 104 ff.).

„Daß Calvin um seines religiösen Anliegens willen
unter Umständen auch logische Widersprüche ertragen
konnte, ist gegenüber allem bloßen Epigonentum ein
Beweis seines ursprünglichen und tiefen religiösen Erlebens
" (S. 92). Man kann hier abschließend erinnern
an einen Ausspruch, den ich in meiner Calvin-Arbeit als
letztes Wort Calvins in ähnlichen Dingen zu Tage förderte
: ihm sei das Urteil eines vor Gott ehrlich gewordenen
Gewissens wertvoller und beweiskräftiger als tausend
neugierig spekulierende Fragesteller.

Die Arbeit des Verf. wird Calvin voll gerecht und
dient damit der Kirche in einem die Zeiten überragenden
Sinne. Der Verleger verdient Dank für eine preiswerte
Bereitstellung dieser klar gegliederten Arbeit in
2. Auflage.

Im Felde Günter Gloede

Pfister, Pfnrrer Dr. theol. Rudolf: Das Problem der Erbsünde

beiZwingli. Leipzig: M. Heinsius Nachf. 1939. (XV.119S. ) gr. 8"=
Quellen u. Abh. z. Schweizer. Reformationsgeschichte (II. Serie
der Quellen z. Schweizer. Reform.-Gesch. IX — XII der ganzen
j Sammlung —). RM 5_.

Zwingli hat bekanntlich in der Lehre von der „Erbsünde
" Sonderanschauungen vertreten, die man herkömm-
| lieh vor allem darin veranschaulicht findet, daß er die
Erbsünde als „präst" bezeichnet. Dieser Ausdruck und
die damit zusammenhängende Bestreitung des unmittelbaren
„Schuld"charakters der Erbsünde hat die Be-
I hauptung ermöglicht, Zwingli huldige einer pelagianisie-
I renden Anschauung. Das wichtigste Anliegen der vorliegenden
, von E. Brunner angeregten Arbeit ist es, jene
Behauptung zu widerlegen. Zu diesem Zweck aber war
es erforderlich, den gesamten Problemkomplex ins Auge
zu fassen. Pfister gibt daher zunächst eine Darstellung
von Zwingiis Erbsündenlehre, dann Beiträge zur Entwicklungsgeschichte
der Lehre bei Zwingli und dann endlich
sehr beachtliche Ausführungen zu dem Schriftbeweis,
: dessen sich Zwingli bedient. Man kann über die Frage
j streiten, ob dieser Aufbau ganz glücklich war: die beiden
j ersten Teile hängen so stark zusammen, daß Ueber-
I schneidungen und Wiederholungen nicht zu vermeiden
i waren. Im ganzen aber ist die Beweisführung klar und
sorgfältig begründet.

Für Pfister stellt sich die Sache folgendermaßen dar:
, Bis 1525 bestand zwischen Luther und Zwingli in der
Frage der Erbsünde keine Differenz; im Gegenteil:
i Zwingiis Lehre ist erst unter dem Einfluß der Schriften
Luthers gestaltet worden. Unter dem Eindruck seiner
Auseinandersetzung mit dem Täufertum (Taufschrift von
1525 als Einschnitt) beginnt dann Zwingli seinen eigenen
Standpunkt zu beziehen. Er bestreitet den Scliuld-
I Charakter der Erbsünde, weil er Sünde und Gcset/. in
j festem Zusammenhang denkt und darum nur da von
i Schuld reden kann, wo das Gesetz (als lex naturae) be-
I kannt ist und als solches übertreten wird. Die Erbsünde —
j der „präst" = amor sui (= coneupiscentia bei Luther)
i bewirkt Verdammnis, weil der Mensch nicht der lex,
sondern eben i h r folgt und damit schuldig wird. Sie
ist aber als solche nicht Schuld. Von hier aus gelangt
Zwingli zur Bestreitung der Verdammlichkeit der kleinen
[ Kinder, die ja vom Gesetz nichts wissen können. Nur
bei diesen fehlt die Verdammlichkeit; der Erwachsene
i kennt ja das Gesetz! So sieht Pfister denn auch einzig
I an diesem Punkte einen Gegensatz zwischen Luthers
j und Zwingiis Auffassung. Daß Zwingli dem 4. Marbur-
! ger Artikel, der lutherisch lehrt, zustimmen konnte, er-
j klärt er damit, daß dort der strittige Punkt unerwähnt
blieb. Indessen ist es bei Zwingli, so stellt es Pfister
weiter dar, dann doch zu einem Rückbiegen auf die ge-
I meinreformatorische Linie gekommen: in der Fidei ratio
! wird die Verdammlichkeit auch der kleinen Kinder gelehrt
- Zwingli ist also nicht konsequent geblieben. Als
| Grund gibt Pfister das starke Vordringen der Prädestinationslehre
in Zwingiis Denken an.

Das geschichtliche Bild, wie es Pfister entwirft, ist
I m. E. im wesentlichen richtig. Wenn man bedenkt, daß
1 die Arbeit unter dem Einfluß eines so stark anthropologisch
interessierten Systematikers wie Brunner entstanden
ist, so ist es ein besonderer Vorzug der Arbeit, dal)
i zwar die Gegenwartsprobleme allenthalben durchzufühlen
sind, aber nie in das geschichtliche Bild eingetragen
werden.

Indessen dürften zwei Fragenkreise durch die vorliegende
Arbeit noch nicht erledigt sein. Einmal: Es
ist richtig, daß auch bei Luther „Sünde" und „Gesetz"
fest aufeinander bezogen sind. Besteht der Gegensatz
zwischen ihm und Zwingli aber nicht darin, daß beide
für Luther Mächte mit einem Herrschaftsanspruch
über den Menschen sind, für Zwingli dagegen Akte
bezw. Gegenstände menschlichen Tuns oder Erkennens
(vgl. die Argumente gegen die Verdammliciikeit
der Kinder)? Der Gegensatz zwischen Luther und Zwing-