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Ausgabe:

1940

Spalte:

273-274

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Flemming, Herbert

Titel/Untertitel:

Johann Gottfried von Herder und die Deutung des Lebens 1940

Rezensent:

Borcherdt, Hans Heinrich

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 9 10

274

Wenn man endlich gar mit dem Verfasser „jene Hypostase
der Natur, die sich in dem zeigt, was unter uns
ist, aufteilt und sie teils der Hypostase der Gottheit,
teils den anderen Erscheinungsformen der Natur zuweist
", so erreicht die Verwirrung ihren Gipfel (74).

Wo Goethes persönliches Ethos behandelt
wird, fehlt jeder Hinweis auf die Tragik, die ein so
außerordentliches Leben mit sich bringt. Wem die Fähigkeit
fehlt, das Wesentliche, Hedeutende von dem Belanglosen
ZU unterscheiden, der kann aus Goethe alles
herauslesen. Jede tiefere Behandlung von Goethes Ethos
wird von der Tatsache ausgehen müssen, daß Goethe,
der alles Umfassende und alles Überschauende, für diese
große Gabe einen Preis bezahlen mußte; daß er z.B.
jenes Ethos des Opfers und der Hingabe nicht aufzubringen
vermochte, das er selber mit Neid und tiefer
Ergriffenheit an einseitigeren Naturen wie Byron oder
Schiller bewunderte. Es ist gewiß löblich, den Fehler
älterer theologischer Kritiker zu vermeiden, welche Goethes
eigenwillige Lebensführung vom Standpunkt einer
engen bürgerlichen Moral in Grund und Boden verdammten
. Aber das Gegenteil, die unbedingte Verteidigung
und Verherrlichung, ist um kein Haar besser. Für die
beißende Kritik eines Kierkegaard wäre dies „theologische
" Buch ein gefundenes Fressen. So meint der Verfasser
z- B., man werde „vergeblich nach einem Beleg
für die Laxheit Goethes in der Frage des Eheethos
suchen" (81). Die unbestreitbare Tatsache, daß Goethe
politisch hochkonservativ war, sucht der Verfasser in
folgender Weise wegzuargumentieren: „Goethe hatte Verständnis
für den politischen Umstürzler. Sah er doch wie
jener den Verfall der Fürstenhöfe." Das erkenne man
aus Mephistos Lied in Auerbachs Keller: „Es war einmal
ein König, Der hatt' einen großen Floh . . ." (89).
— Man legt das Buch mit Bedauern aus der Hand. Es
ist mit starkem Selbstgefühl und mit innerer Anteilnahme
geschrieben; auch ist sein Verfasser in Goethe selber
wie in der einschlägigen Goetheliteratur wohl bewandert.
Es fehlt der Arbeit aber durchaus an systematischer
Klarheit und an wissenschaftlicher Exaktheit; sie kann
weder in den Fragen von Goethes Ethik noch von
Goethes Ethos als zuverlässiger Führer angesehen
werden.

Hamburg Erich Franz

FI e m m i n g, Dr. Herbert: Johann Gottfried von Herder und die
Deutung des Lebens. Grundlagen der liildungswirkliclikeit. Berlin :
Junker u. Dünnhaupt 193g. (60 S.) gr. 8° = Dt. Forschgn., Abt.
Neuere dt. Literaturgesch. Bd. 22. RM 2.&0.

Vorliegende Schrift macht den Versuch, das Weltbild
Herders in neue Beleuchtung zu rücken, indem sie betont
, wie sein Wesen auffallend ähnliche Züge mit der
deutschen Weltauffassung der Gegenwart zeigt. Dementsprechend
geht die Einleitung von der Ganzheitsschau
Herderl aus, die mit dem Ringen um den modernen Lebensbegriff
identifiziert wird. Der Hauptteil ist dann
Herders Lebensdeutung gewidmet, wobei sich der Verfasser
vor allem auf die organischen Naturvorstellungen
in den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit" stützt. Der Schlußteil „Wertung" hebt dann
hervor, daß Herder seiner Ganzheitsschau und seinem
festen Glauben an nur eine organische Kraft untreu
wird, indem er der Vernunft einen fremden Bereich
einräumt und darum bei dem Menschen einen sonderbaren
Widerspruch feststellt, da er als Tier der Erde
dient, als Mensch aber den Samen der Unsterblichkeit
und die Fälligkeit zur Humanität in sich trägt. In dieser
Anschauung sieht der Verfasser Herders Unvermögen,
Natur und Geist in allseitiger notwendiger Einheit zu erblicken
. Darin liegt für ihn die zeitliche Begrenztheit,
die Herders Weltbild von der Gegenwart trennt.

Es lag doch sehr nahe, das organische Weltbild Herders
mit dem Goethes aus der ersten Weimarer Zeit, das
die Anregungen Herders weitei denkt, zusammenzusehen.
Hätte der Verfasser dies getan, so wäre ihm sicherlich

seine irrige Schlußfolgerung erspart geblieben. Gewiß
sieht Herder Widersprüche zwischen der tierischen und
geistigen Natur des Menschen, und sie führen nach seiner
Überzeugung zu der menschlichen Unvollkommen-
heit, aber Geist ist für Herder — das zeigt nicht zuletzt
seine Auseinandersetzung mit Rousseau — genau so eine
Lebens- und Naturkraft, die freilich erst auf der Stufe
des Menschen erkennbar wird, die aber der Anfang ist
eines neuen Kreislaufs der Natur, der zu immer größerer
Vollkommenheit und über den Menschen hinaus zu höheren
Stufen emporführt, die Herder als Theologe unter
dem Bilde des Engels veranschaulicht. Aber gerade diese
eigentümlichsten und entscheidensten Gedanken in Herders
Weltbild werden von dem Verfasser nicht mit
einem Worte berührt, weil sie nicht zur Gegenwartssicht
in Parallele gesetzt werden können. Und damit ist die
Problematik der ganzen Schrift gekennzeichnet: Statt das
Weltbild Herders unter dem Blickpunkt der Lebensidee
im Zusammenhang mit den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen
darzustellen und daraus dann in einem Schlußabsatz
die Parallele zur Gegenwart zu ziehen, begnügt
sich der Verfasser damit, zahllose Zitate, die mehr ats
die Hälfte des Bändchens füllen, aneinanderzureihen,
ohne zu berücksichtigen, daß sie im Zusammenhang des
Ganzen bei Herder oft einen anderen Sinn haben als die
als Parallele in den Anmerkungen herangezogenen Belegstellen
aus modernen Schriften, zumal der Verfasser
mit keinem Worte andeutet, daß die Naturidee Herders
und damit auch seine Lebensidee sich auf einer panen-
theistischen Gottesauffassung gründet. Wer sich auch
nur einigermaßen mit Herder beschäftigt bat, wird daher
aus dieser Schrift wenig gewinnen, zumal ein gut Teil
der modernen Herderliteratur dem Verfasser unbekannt
geblieben ist. So bleibt nur das Verdienst, auf die innere
Verwandtschaft Herders mit unserem modernen Weltbild
hingewiesen zu haben, aber auch damit hat der Verfasser
nichts grundlegend Neues gesagt. Im übrigen bestätigt
die Arbeit die Wahrheit des Lierderschen Wortes, daß
jeder große Schrittsteller die Muttermale seiner Zeit an
sich trägt und daher nur aus dem Geiste seiner Zeit
heraus richtig gedeutet werden kann.
München Hans Heinrich Borchcrdt

Groos, Dr. Helmut: Willensfreiheit oder Schicksal? München:
E. Reinhardt 1939. (277 S.) er R". RM 4.80; Reb. RM 6.50.

Der neue Titel der zweiten, umgearbeiteten und stark
erweiterten Auflage von G.s Werk „Die Konsequenzen
und Inkonsequenzen des Determinismus" ist zwar wirkungsvoller
, aber nicht treffender. Im ersten Teil referiert
G. über einige, z. T. wenig hervorgetretene Vertreter
des Indeterminismus aus der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts und versucht die Unhaltbarkeit ihrer
Auffassung nachzuweisen. Auch die Deterministen gleiten
inkonsequent in indeterministische Restvorstellungen
zurück (62). Als unkonsequenter Determinist erweist
sich vor allem E. von Hartmann, der im Anschluß an
den von G. immer wieder zitierten N. Kurt sehr ausführlich
behandelt wird, aber auch Arthur Drews und
Friedrich Paulsen, Büchner und J. C. Fischer, Müffel-
mann und Mauthner, Laas und Wundt, Th. Lipps und
von Liszt schrecken vor der unvermeidlichen Konsequenz
des Determinismus, dem Fatalismus, zurück. Die von
der neuen Physik ausgehende indeterministische Tendenz
kann die Gesamtbewegung zum Determinismus,
die vor allem durch die Rassenlehre neu gestärkt worden
ist, nicht aufhalten. Der Determinismus empfiehlt sich
auISerdem, da er schwächliche Naturen „von der Fiktion
befreit, die Behebung eines Mangels in der Anlage hänge
vom Willen ab, wo dies tatsächlich nicht mehr der
Fall ist" (39». Der praktisch-teleologische Sinn der Verantwortlichkeit
ist die zeitgemäße Konsequenz des Determinismus
(90). Freiheit „als Philosophie im Sinne eines
ernsthaft vertretbaren Standpunktes kommt für unser
Problem nicht in Betracht" (94), „Spontaneität lediglich
als Einschaltung des Bewußtseins als Faktor des (dadurch