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Ausgabe:

1940

Spalte:

271-273

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schülke, Horst

Titel/Untertitel:

Goethes Ethos 1940

Rezensent:

Franz, Erich

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271

Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 9/10

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KrU unterscheidet Lehmann explizite indirekte Hinweise
[d. h. solche, in denen sich Kant auf di€
Thematik der KrU bezieht,] (Begriff des organischen
Körpers, Stufung der Lebenskraft, Spezifikationsgesetz
, Bildrede vorn Archäologen der Natur, Weltorganisation
, Abweisung des Hylozoismus) und implizite indirekte
Hinweise [ d. h. solche, die keinen thematischen
Bezug auf die KrU haben, deren Fragestellung aber mit
den begrifflichen Mitteln der KrU erarbeitet wird. ]
(Hier benutzt Lehmann die Grundprobleme der KrU:
die des Übergangs, des Ganzen und der subjektiven
Gültigkeit als Leitfaden zur Auffindung solcher impliziten
indirekten Hinweise, S. 49ff.). Im Mittelpunkt der
folgenden Erörterungen steht die Diskussion der Ätherhypothese
des NLW (S. 51—57). Ad c) Als Gesichtspunkte
, die für eine Interpretation des Zusammenhanges
der KrU und des NLW entscheidend sind, gibt Lehmann
die Begriffe 1. der Technik der Natur, 2. der technischpraktischen
Vernunft, 3. der Selbstsetzungslehre und 4.
der Selbstaffektion und Erscheinungsstufung .an. Das
Verständnis für die Kantische Diskussion dieser Begriffe
ist so schwierig, daß es nur mit Hilfe einer ganz gründlichen
Vertrautheit mit der Kantischen Philosophie (besonders
der Synthesislehre) erreicht werden kann. Als
Ergebnis der Interpretation des Zusammenhangs beider
Werke erscheint die Idee einer Kritik der technischen
Vernunft. Der Begriff einer Technik der Natur, das
Problem der Technik als Anwendungsproblem, die Beziehung
der Technik zur Kunst, das Verhältnis von technisch
-praktischer und moralisch-praktischer Vernunft und
die Einordnung der Mathematik in die technisch-prak-
tisch-theoretische Vernunft werden an Hand des Materials
im NLW untersucht.

Berlin Waller Karowski

S c h ü 1 k e, Lic. Dr. Horst: Goethes Ethos. Eine systematische Darstellung
der goeihcschen Ethik und ein phänomenologischer Vergleich ihrer
wesentlichsten Züge mit der christlichen Ethik der Goethe/.eit.
Schwerin: Evg. PresSevwbandMecklenburg 193k (213S.) er.8°. RM5.25.
Der Verfasser will, und zwar als erster, eine systematische
Behandlung der üoetheschen Ethik geben. Er erklärt
zu Beginn mit einer gewissen Feierlichkeit, es liege
bislang „noch keine besondere systematische, monographische
Darstellung der Ethik des grollten Deutschen
nach Luther vor". Die vorliegende Arbeit wolle „diese
Lücke in der sonst so vollständigen Goetheliteratur
füllen" (5)- Aus dem Umstände, daß Goethes geistige
Entwicklung eine starke Kontinuität aufweist, leitet er
das Recht seiner rein systematischen Untersuchungsart
her: „Die Darstellung folgt nicht den Perioden des langen
Lebens Goethes, sondern harmonisiert seine ethischen
Anschauungen zu einem einheitlichen Ganzen ohne
besondere Aufzeigung einer Entwicklung" (8). Auffällig
ist, daß im Haupttitel als Thema genannt wird Goethes
Ethos, im Nebentitel dagegen Goethes Ethik. Sollte
der Verfasser keinen Unterschied zwischen diesen beiden
Begriffen annehmen? In der Tat gehen, sehr zum Schaden
systematischer Klarheit, das ganze Buch hindurch
beide Themen bunt durcheinander. — Auch der zweite
Hauptteil, der Vergleich der ethischen Anschauungen
Goethes mit denen Kants, Nicolais, Hamanns, Herders,
Jacobis, Lavaters, Schleiermachers erhebt den Anspruch,
„etwas im Bereich der Goetheliteratur Neues" zu bringen
. Er stellt im Einzelnen mancherlei Ähnlichkeiten J
und Verschiedenheiten heraus, um zuletzt zu dem Ergebnis
zu kommen, die christliche und die Goethesche
Ethik seien „im großen und ganzen wesenseins". Das
ist einerseits eine wenig klare Fragestellung und ande- j
rerseits ein verwunderliches Ergebnis. Die Genannten
gelten z.T. doch gegenwärtig manchen, zumal theologi- j
jSchen, Forschern als Vertreter einer nichtchristlichen, ;
wenn nicht gar antichristlichen Ethik. Der Verfasser be- 1
zeichnet auch hier sein Ziel sehr unklar. Bald will er
Goethes Ethik vergleichen mit „der christlichen Ethik"
(113), bald mit „der christlichen Ethik der Goethe/.cit"

(1), bald „mit den ethischen Anschauungen innerhalb der
Christentümer der Goethezeit" (5). Welches Thema soll
j nun gelten? Was sind „Christentümer"? Besonderer
Nachdruck wird darauf gelegt, daß nicht die religiösen
| Anschauungen dieser verschiedenen Geister verglichen
j werden, sondern die ethischen. „Denn das Ethische
I ist das Zentrale bei Goethe . . . und angesichts der Tat-
J sache, daß Goethe Dichter und Denker, aber nicht
i eigentlich Keligionskünder oder Theologe war, sich
also(?) nur sehr indirekt religiös expektoriert hat", sei
| die Frage nach seiner Christlichkeit auf ethischem Boden
weit besser zu beantworten als auf religiösem. Und
j da, wie schon erwähnt, Goethes Ethos mit dem christlichen
„im großen und ganzen wesenseins" ist, so wird
dadurch auch die Christlichkeit Goethes bejaht. — Das
Buch ist für Menschen, die Freude an systematischer
Klarheit haben, eine mühsame und unerquickliche Lektüre
; im übrigen freilich eine sehr bequeme, da im Plau-
I derton eines Feuilletons mancherlei Berichte gegeben
werden, die bei der heutigen geringen Goethekenntnis
I gar manchem willkommene Belehrung bieten können.
! Wissenschaftliche Ansprüche aber kann das Buch nicht
I machen. Dazu sind seine Irrtümer, Unklarheiten und
Flüchtigkeiten zu groß. Ganz zu schweigen von dem
sehr nachlässigen Stil. Ein Beispiel von S. 53: „Die aus
seiner aktiven Gesinnung heraus notwendige Ablehnung
jeder Behinderung des frischen Handelns durch das
Grübeln erweitert sich bei Goethe schließlich zu einer
Kritik jeglicher Spekulation und Metaphysik." Die Arbeit
wimmelt von überflüssigen Fremdwörtern, vieldeutigen
Schlagworten und geschmacklosen Neubildun-
i gen deutscher Wörter. Was ist „das Monistische", „das
Unindividuelle"? Wir hören von „Relativismus", „Naturalismus
", „Individualismus", von ^konfrontieren", „ex-
I pectoriereu", „Kontur", „historizistischer Konstruktion",
von einer „Theoretik des Dozenten", einer „Raffinesse
des Diabolischen", von der „Introvertiertheit" der Monologen
Schleiermachers, von „Jacobis Pantheismus" (!),
von der „herrscherischen" Tat, von dem „Täterischen",
von dem „Hingabeetlios". „Das Dramatische ist das
Dynamische, das Lyrische stammt aus einer statischen
Mentalität" (03). In einem Zitat S. 209 werden verwechselt
„heterogen" und „heteronom", ferner „Objekt" und
„Subjekt". Wir hören von dem „Unermüdlichkeitscha-
rakter" der üoetheschen Ethik, von dem „Realis.nus-
charakter der Erscheinung des Goetheschcn Denkens".
Was ist ein „einmaliges Genie"? In den Zitaten werden
Goethesche Verse verändert, erweitert, verkürzt, Wörter
umgestellt. Das Motto aus den Wanderjahren „Besitz
und Gemeingut" erscheint zeitgemäß in neuer Form:
„Besitz und Gemeinnutz". Die hymnischen Sätze Tob-
lers aus dem sogen. „Fragment über die Natur", das
s. Z. irrtümlich in Goethes Werke aufgenommen wurde,
werden wiederholt als echte Goetheworte zitiert. Die
bekannten Verse „Feiger Gedanken / Bängliches Schwanken
. . ." stehen in Goethes Gedichten unter der Oberschrift
„Ein Gleiches", womit G. sagen will: Auch sie
enthalten gleich dem vorangehenden Gedicht eine „Be-
herzigung". Der Verfasser liest aber statt „Gleiches"
„Gleichnis" und läßt sich durch dies Versehen zu
längeren Ausführungen über den angeblich symbolischen
Sinn der Verse verleiten. Goethes Lehre von den verschiedenen
Formen der Ehrfurcht wird vom Verfasser
willkürlich umgestaltet. Goethes erste Form ist
bekanntlich die Ehrfurcht vor dem, was „über uns" ist;
hier wird das Göttliche nach Analogie der menschliciien
Persönlichkeit gedacht. Statt dessen spricht der
Verfasser hier von einer „Hypostase" der Natur:
„Ihre drei Hypostasen . . . sind das Universum oder
das All-Eine, der andere Mensch und das Ich des betrachtenden
und handelnden Menschen" (73). Die Ehrfurcht
vor dem, was „unter uns" ist, mißversteht der Verfasser
als Ehrfurcht vor „den unter uns Seienden", d. h.
vor tiefer stehenden Menschen; Goethe dagegen meint
untermenschliches Elend und Leid, Schmach und Schuld.