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Ausgabe:

1940

Spalte:

229-233

Autor/Hrsg.:

Wünsch, Georg

Titel/Untertitel:

Protestantisches Geschichtsbewußtein 1940

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Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 9/10

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und O die Lesart des Archetyps bewahrt hat. Man
könnte noch lange so fortfahren: aber die beigebrachten
Beispiele genügen für den Nachweis, daß die Methode
Q.s am Material gescheitert ist. Der Archetyp läßt sich
nicht mechanisch aus GOA gewinnen, indem man stets
der Lesart der Majorität folgt. Das wäre richtig und
zwingend, wenn die drei Hss. unmittelbar und unabhängig
von einander dem Archetyp entnommen wären.
Das ist aber nicht der Fall, und damit verliert die Regel
ihre Zwangsläufigkeit: Q.s mühsame Mathematik hat
sich, wie wir Kritiker vorausgesagt haben, als ein Umweg
erwiesen, der nicht zum ersehnten Ziele einer unfehlbaren
Sicherheit führt- Bei einer derartig massenhaften
und geographisch über das ganze Abendland verzweigten
Überlieferung versagen die Methoden, die auf beschränktem
Gebiet ihre Triumphe feiern. So richtig es aus allgemeinen
Erwägungen und dem Entscheid der meisten
Fälle auch ist, den Text auf G A O zu basieren: restlos
geht auch dies Exempel nicht auf. Gen. 45,23 lesen
G A Ü mit einigem Gefolge fälschlich asinos und der
richtige Archetyptext asinas stellt bei C und der Mehrzahl
der übrigen Hss. Jud. 3,5 ist in der Masse der
jüngeren Hss., richtig überliefert die Völkerliste et etthei
et amorrei et plwrezei: aber ü läßt das erste, A die beiden
ersten und V das dritte Volk weg, also kann keine
dieser Handschrilten die Zwischenstufe zwischen dem
Archetyp und den späteren Zeugen vermittelt haben.

Hätte Q. seine Theorie so eisern angewendet, wie er
es einst in Aussicht stellte, so würde für die Textgestaltung
dieser Ausgabe ein erheblicher Schade entstanden
sein. Glücklicherweise hat er aber in seiner Praxis die
Möglichkeit der Abweichung von der strengen Linie
einen so reichlichen Gebrauch zur Geltung gebracht, daß
sein Text weithin den Beifall der Kritiker verdient und

als ein erheblicher Fortschritt über die Clementina hinaus
bezeichnet werden muß. Und es finden sich nicht
wenige Stellen, an denen die Auswertung der allen
Handschriften die echte Überlieferung erstmalig zu Tage
gefördert hat- So besonders hübsch Exod. 15,6, wo bisher
gelesen wurde dextera tua magni/icata est in forlitu-
dine. Statt magnijicata est lesen G* A O mit ein paar
andern älteren Hss. magnijicem, woraus Q. richtig den

, dem Hebräischen entsprechenden Vocativ magnijice als
hieronymianischen Urtext gewinnt. Q.s Mitarbeiter sind

j seinem Beispiel mit Nutzen gefolgt: Jud. 6,13 ist die
alte Überlieferung in manibus statt in mann oder in ma-
nus wieder hergestellt.

In Summa: die neue Ausgabe ist durch ihr reiches
I handschriftliches Material ein vorzügliches Arbeitsinstru-
i ment und damit für alle künftige Vulgataforschung
grundlegend. Ihr Text bedeutet einen erheblichen Fortschritt
über die Clementina hinaus in der Richtung auf
die älteste Überlieferung. Aber es bleibt noch Raum für
weitere Auswertung des Stoffes und methodische Untersuchungen
, denn die von Q. vorgeschlagene mathematische
Philologie hat den von ihr erwarteten Dienst
nicht geleistet.

Es muß noch hinzugefügt werden, daß die Ausgabe
auch mit allen Beigaben ausgestattet ist, die von den
Hss. geboten werden: also mit den mannigfachen Kapitelverzeichnissen
, sowohl den aus den altlateinischen Öi-
i beln übernommenen als den auf Grund der Vulgata
neu angefertigten. In Bd. 1 ist vorausgeschickt des
Hieronymus Brief 53 an Paulinus, die einschlägigen
j Stücke aus Isidors Etymol. Buch 6, die metrischen Pro-
1 löge des Alkuin und Theodulf und des Hieronymus
Praefatio zum Pentateuch.

Protestantisch!

Von Georg W ü

Protestantisches Geschichtsbewußtsein—gibt es das?
Die Mehrzahl der heute jüngeren Theologen, die durch
die „dialektische" Schule gegangen sind, wird es leugnen
. Und was hat „geschicntsphilosophische Besinnung"
mit Protestantismus, d. h. mit reforinatorisch-christli-
chem Glauben zu tun? So wie dieser Glaube wenigstens
heute vorwiegend verstanden wird? Geschichtsphilosophie
entsteht aus menschlichen Erwägungen und Meinungen
, während christlicher Glaube radikale Konzentration
auf Gott, Gehorsam gegen Gottes Wort und Befehl
bedeutet; im Protestantismus besonders schart getrennt
und gereinigt von menschlichen Ideen und Konstruktionen
. Dem Verfasser ist diese Schwierigkeit bekannt, und
doch unternimmt er das Wagnis, von protestantischer
(ieschichtsphilosophie zu sprechen und zu zeigen, wie sie
aussehen muß. Er will als Philosoph reden und sich
hüten, in den Bereich der Theologie einzudringen. Seine
Absicht ist lediglich „in der Sprache und in den Denk-
formen der Philosophie, in Anknüpfung an die philosophische
Überlieferung unserer klassischen Epoche, das
zu klären und gedanklich zu begründen, worin er das
Wesentliche und dauernde am protestantischen Ge-
schichtsverständuis glaubt finden zu sollen".

Der Gedankengang der kleinen, aber inhaltsschweren
Schrift ist folgender: der Protestantismus habe es von
je her schwer gehabt, sein eigentümliches Verhältnis zur
„Welt", und da insbesondere zur Geschichte als der
Welt, die der Mensch verantwortlich hervorbringt, zu
bestimmen. Sein Jenseitsziel habe nach dem Urteil seiner
Widersacher die „Welt- und Wirklichkeitsentwertung
" zur Folge. Andererseits aber haben Männer von
bewußt protestantischer Grundhaltung die ersten und
größten Systeme der Geschichtsphilosophie geschaffen

l) Litt, Theodor: Protestantisches Oescbichtsbewuütsein.
Eine gcschiclrtsphilosophischc Begegnung. Leipzig: L. Klotz 1Q3Q.
(64 S.) 8". RM 1.80.

s Geschichtsbewußtsein'

i s c h (Marburg a. L.)

und wollten nichts anderes als „das Walten Gottes in
der Geschichte mit der zwingenden Gewalt des Begriffs
ans Licht bringen": im deutschen Idealismus. Aber gerade
dieser Versuch wird von den „führenden Richtungen
im Protestantismus unserer Tage" als irrtümliche
Säkularisierung des Christentums abgelehnt. Mit dieser
Ablehnung scheint unzertrennlich gegeben die radikale
Diesseitsverleugnung und Entwertung der Geschichte.
Die Widersacher des Christentums scheinen also recht zu
behalten. — Diese Ablehnung nun trifft nach der Meinung
des Verf. mit Recht die Geschichtskonstruktion
des Idealismus, wobei er wesentlich Hegel im Auge hat.
Denn diese wird der wirklichen Rolle des Bösen in der
Welt nicht gerecht, das entweder bagatellisiert oder als
notwendige „Negation" betrachtet wird, ohne die es eine
Entwicklung zur „Position" nicht geben kann. So wird
der Verlauf der Geschichte optimistisch gerechtfertigt,
und er erfährt seine „Versöhnung" dadurch, daß er
„gewußt", d. h. in seiner Gesamtentwicklung verstanden
wird. Mit Recht betont der Verf., daß Hegel damit
das Christentum philosophisch ausdeuten und seinen Gehalt
als geschichtliche Entwicklung verständlich machen
will. Tatsächlich aber gelange er — ohne es zu wollen —
zu einer Selbstverherrlichung und Selbstvergottung des
Menschen, die unverträglich mit christlicher Anthropologie
sei.

Diese finde sich dagegen bei einem Außenseiter des
Idealismus: bei Pestalozzi. Zwar gehört er, was die
Denkform, nämlich die Dialektik betrifft, in den Rahmen
der damaligen Zeitphilosophie. Aber in dieser
Denkform liegt nicht der Fehler, im Gegenteil: sie ermöglicht
es, die Gegensätze ohne sie auszuilgcn, „zu
einer in sich verspannten Einheit", zusammenzufassen.
Das geschehe — wenn ich recht verstehe — bei Pestalozzi
in reinerer Weise als bei den großen Idealisten, indem
er in der Bewegung des Denkens das Böse nicht