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Ausgabe:

1940

Spalte:

217-219

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bolkestein, Hendrik

Titel/Untertitel:

Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum 1940

Rezensent:

Ulrich, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 7/8

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Bibel wortc liegen etwa in der Wegbereitung des Olaubens inmitten un-
ruhvoller Zeiti in dem Erschauern vor dem Herrn, der die Oewalt über
uns hat, in dem Qlaubenszusammcnhang von Tod und Leben. Auch
das Gebetsringen (Gen. 32,27) wird zu neuer Eindringlichkeit:
.Zögernd, nur ganz zögernd enthüllt Gott sein Angesicht!'

Wertvollste Glaubcnscinsicht erwächst aus der ncutestamcntlichen
Predigt. So wird der Glaube an Lc. 10,5 als Friedensbegegnung
mitten im kriegerischen Ocschehen sich bewußt. Diese Olaubenser-
fahrung ist typisch für die Kriegszeit I Der Krieger, aber auch wir
Übrigen brauchen Stunden innerer Füllung und Sammlung, sie sind
wie ein innerer Ausgleich (Diastole-Systole!) gegenüber der ungeheuren
Beanspruchung durch den äußeren Daseinskampf. Aus 2. Kor.
4, 7 ff. wird sehr wirksam der Glauhcnsappell hörbar: .Nicht müde zu
werden I' allerdings weniger bezogen auf die Zumutungen und Erschwerungen
einer Kriegszeit, als inmitten der kirchlichen Situation von
heute, was freilich eine leichte Umbiegung bedeutet. Wie überhaupt
Kirche zu selbstverständlich vorausgesetzt wird. .Jesus als Herr der
Kirche', — kann vom heutigen Menschen nicht ohne Weiteres als
Cilaubenshaltung verstanden werden, selbst wenn man Kirchenpolitik
und Kirchcnkampf als eine schon gestrige Angelegenheit ansehen wollte
, die beide an der Kriegssituation zuschanden gekommen seien. Wohltuend
wirkt an allen Predigten das vornehme Schweigen von Kirchenpolitik
angesichts des Ernstes und der Gemeinsamkeit der Kriegssituation
aus Olauben.

Sehr wertvoll ist die positive Glaubenshaltung zum Zeitgeschehen
selbst. Der Anteil des Glaubens tritt groß hervor. Die Liebcsabsich-
ten Oottes inmitten des Ernstes und der Unberechenbarkeit eines Krieges
werden gedeutet. Das Oesetz des Krieges wird im Glauben zu
dem inneren Ja der gläubigen Entscheidung gebracht. Wo der Nicht-
glaubende vor dem äußeren Muß steht, wächst der Glaubende in den
Gehorsam hinein, aus innerer Notwendigkeit nicht anders handeln zu
können. — Der Herausgeber selbst — um ihn als einzigen zu apostrophieren
— zeigt in einer Predigt über Matth. 11, 28 ff. wieder seine warme
seelsorgerliche Art, die Predigt wird zu einer wirklichen Zwiesprache
des Pfarrers mit der Gemeinde. Hier ist die Christusbegegnung mitten
im Kriege die Überwindung der Furcht: ,Wo Er bei uns ist, hat die
Angst kein Recht mehr! Denn wir sind bei ihm in den Händen
Oottes selbst'.

Den wesentlichen Unterschied von der letzten Kriegspredigt
sehe ich in dein Fehlen jeder Problematik gegenüber
dem Kriegsgeschehen selbst. Der Krieg wird' vorausgesetzt
als das jeder religiösen Problematik spottende
Schicksal ohne die innere Belastung des für und liegen
, womit sich die letzten Kriegsprediger oft unnötig
quälten. Natürlich fehlt auch die billige Erbaulichkeit.
Ernst, gehalten muten diese neuen Predigten an und
werden so ebenbürtig der allgemeinen Haftung unseres
Volkes in diesem Kriege. Damit fehlt freilich diesen Predigten
die Begeisterungsfähigkeit der ersten Kriegsjahre
vom letzten Mal und der innere Schwung. Nur eine Predigt
,Die Kraftquelle im Kriege' zeigt in ihrer Gestaltung
und Formgebung diese Steigerung zum Pathos.
Nur einmal S. 24 verrät sich auch die religiöse Problematik
: ob jeder, der für's Vaterland fällt, erlöst sterbe?
Wer ein tausendfaches Sterben auf dem Schlachtfeld
selbst miterlebt, weiß von der Versöhnung und Gnade
solcher Stunden, — er würde niemals so fragen können
. —

Dem weiteren Fortgang dieses höchst bedeutsamen
Unternehmens wünschen wir die Berücksichtigung der
gesunden Kritik, die von der Front her im letzten Kriege
erhoben wurde. Es mag nicht unbescheiden gelten,
wenn ich auf mein eigenes Frontbuch verweise. Die
Vollmacht des Glaubens muß zur Begegnung kommen
mit der Vollmacht vor dem Kriegserlebnis selbst.

Jena Erwin L a n g n e r

Bol kest e i n, Prof. Hendrik: Wohltätigkeit und Armenpflege im
vorchristlichen Altertum. F;in Beitrag zum Problem „Moral und
Gesellschaft". Utrecht: A. Oosthoek 1939. (XVI, 492 S.) gr. 8°.

fl. 13.50.

Wenn der Verfasser im Vorwort seines Buches sagt,
daß das Wesen des Wohltuns bei Griechen und Römern
im vorchristlichen Altertum sowie die sittliche Beurteilung
der Wohltätigkeit als Tugend und die Bedeutung
ihrer Pflege für das soziale Leben der Zeit bisher noch
niemals Gegenstand einer speziellen Untersuchung gewesen
sei, so hat er mit dein vorliegenden großen Werk
die hier vorhandene Lücke der Altertumswissenschaft
aufs Beste ausgefüllt. Es ist eine Freude, der sicheren

Führung des Verfassers auf den verschlungenen Wegen
der wissenschaftlichen Untersuchung zu folgen und sich
von ihm nicht nur durch die Welt der Antike, sondern
auch durch die Armenpflege und soziale Moral in Ägypten
und Israel auf Grund einer eingehenden und sorgfältigen
Quellenforschung führen zu lassen. Bolkestein geht
davon aus, daß der Begriff der Wohltätigkeit — Liebestätigkeit
= Caritas auf Grund der christlichen

j Anschauung geprägt sei, nach der die Liebe zu Gott
die Liebe zu den Menschen e i n schließt und die Wohltätigkeit
im Wesentlichen Unterstützung von Armen
bezeichnet, während die klassischen Völker weder ein
göttliches Liebesgebot noch eine organisierte Armenpflege
kannten. Er sieht den Grund für diese Tatsache
darin, daß die Wohltätigkeit und Armenpflege im Altertum
nur als Hintergrund der Geschichte der christlichen

| Liebestätigkeit erscheint, wie bei Uhlhorn, Ratzinger,
Liese, Lallemand. Der Historiker des Altertums hat die

j antike Überlieferung aus ihrem eigenen Inhalt zu
interpretieren und zwar im Zusammenhang mit

| der Gesamtheit der politischen, sozialen und geistigen
Zustände ihrer Zeit. Er hat die Probleme historisch zu
untersuchen und findet dabei einen ganz anderen Ge-

| gensatz als den zwischen Christentum und Heidentum,
nämlich den Gegensatz zwischen Morgenland und Abend-

| land im Altertum, worin sich zugleich das Problem zwischen
Moral und Gesellschaft in einem neuen Lichte
zeigt. i r>

Der Verfasser geht nun so vor, daß er zunächst untersucht, was
bei jedem der von ihm behandelten Völker unter Wohltätigkeit zu verstehen
ist, und wie sie als Tugend bei ihm eingeschätzt wird, und
zwar als ge lebte Moral (die allgemein anerkannte sittliche Anschauung
) und als gepredigte Moral (nach dem Urteil der Moralisten
). Er weist die Motive nach, deren sich die Menschen nach
ihren eigenen Angaben bei ihrem Wohltun bewußt waren und fragt,
ob ein Zusammenhang zwischen der sittlichen Forderung der Wohltätigkeit
und der Religion bestehe. Als weiterer Inhalt ergibt sich ihm
eine Zusammenstellung der umlaufenden Ansichten über Armut und

I Handarbeit, über die Bettelei; wiederholte und eingehende Ausfüh-

I rangen über die Gastfreiheit, die Armenpflege in Tempeln, das Asyl-
recht und Obrigkcitsniaßnahmen der sozialen Politik; am ausführlich-

| sten dargelegt bei den Griechen, (Kap. II, S. 67—286) bei den
Römern (Kap. III, S. 287—378) bis zum Beginn unserer Zeitrechnung
, bei den Ägyptern und Israeliten vor und nach der Hellenisicrung
(Kap. I und IV, S. 1—67 und 318—414). In Kap. VI sucht er
dann, den Gegensatz der morgenländischen und abendländischen Auffassung
von Armut und Wohltätigkeit und die Bedeutung dieser Erklärung
für das Verständnis der altchristlichen Caritas zu bestimmen.

Es ist eine ungeheure Fülle von Wissen, das der Verfasser vor
dem Leser ausbreitet. Ob man an die Grabschriften in Ägypten
(Roeder, Erman, Baillet) das ägyptische Toteubuch oder die Spruchweisheit
denkt; ob man von der sozialen Politik der ägyptischen Kö-

j nige, bei Israel von der Theodicee des Hiob, oder den Tugenden der
Gerechtigkeit (Zedaka = Liebe = Mitleid) Sanftmut etc. hört. Ob

I man zu den Quellen der griechischen Wohltätigkeit in den ugul Bou-

I %vywi geführt wird, an die Freunde und Mitbürger, die Ixexat

| denkt, oder an die Tugend der ftuMtUHHrVn hei Xenophon, Plato,
Aristoteles, die Terminologie für die „Armen", die „Bettler" in Griechenland
und ihre Beurteilung von Homer an bis zum Hellenismus,

I die Eranoi, die staatlichen Maßnahmen und die soziale Moral bei den
Römern (virtus, fides, pictas), der Sinn der egenitas, die cura

| annonum, die frumentationes oder zum Schluß der Bedeutungswandel
einzelner griechischer Worte als Ausdruck des Gegensatzes von Philan-

i tropia, Eleomosyne, eÜjioieIv und füeqyeteiv kennen lernt.

Eine ganz neue Seite der Geschichte wird hier auf-
! geschlagen. Es wird nachgeholt, was bei den Erfor-
j Schern des Orients und der Antike bisher zu kurz gekommen
ist oder kaum gestreift wurde. Einwandfrei wird
' heraus gearbeitet, daß im Orient die Armenpflege im
! Mittelpunkt der sozialen Fürsorge steht, während im
' Griechentum die Philoxenia als Ausdruck der Philan-
tropia vorherrscht (gl. Boekh: „Die Barmherzigkeit ist
keine hellenische Tugend"). Richtig ist auch, daß sich
das Römertum in der ausgehenden Antike der Auffassung
des Morgenlandes nähert. — Einzuschränken oder
leicht mißzuverstehen ist der Satz (S. 484), daß die alichristliche
Caritas ihrem Wesen nach Philantropia
im Sinne der iptAoxTa>x(t), der Liebe zu den Armen, sei.
Gewiß tritt die Hilfe für die Armen im Neuen Testament