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Ausgabe:

1940

Spalte:

208-209

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Benz, Ernst

Titel/Untertitel:

Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums 1940

Rezensent:

Odenwald, Theodor

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Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 7/8

'208

lungen geliefert worden, die uns indessen alle nicht zu
befriedigen vermochten, weil wir kein Gesamtbild von
Nietzsches Denken erhielten. Die Fülle der von Nietzsche
in seinem Werk eingenommenen Standpunkte brach
immer wieder auseinander, weil der Oesamtaspekt darüber
, der sie zusammenhält, fehlte. Ich möchte glauben,
daß Heintel diesen Gesamtaspekt erstmalig deutlich vor
Augen gestellt hat. Er wählt dabei eine Methode, die
man die problemgeschichtliche nennen kann. Sie will die
von der Einzelpersönlichkeit unabhängigen, in solchem
Betracht ewigen Probleme, die den Menschen nie loslassen
, in Nietzsches Werk diskutieren. Heintel muß
zugeben, daß dies gerade bei einer so „überreichen Persönlichkeit
" (216) wie der Nietzsches eine mühselige
und meistens unbelohnte Arbeit ist. Gleichwohl möchte
ich der problemgeschichtlichen Methode den Vorrang
vor der sogenannten geistesgeschichtlichen geben, die
man ihr im allgemeinen wissenschaftlichen Sprachgebrauch
entgegenzusetzen pflegt. Denn die geistesgeschichtliche
Methode kann sich nur um die historischen
Gestalten der Affektion der Menschen durch die Probleme
kümmern. Hierbei möchte ich auf einen grundlegenden
Tatbestand hinweisen, ohne dessen Anerkenntnis
der Streit zwischen beiden Methoden ins Uferlose
führen muß. Die Vertreter der geistesgeschichtlichen
Methode sagen: Wir, die wir um die Aufhellung der Affektion
des Menschen durch die Probleme bemüht sind,
gehen vom Menschen aus, von der Persönlichkeit und
ihrer historischen Situation. Was aber ist einleuchtender,
als daß zuerst der Mensch da ist und nach ihm erst die
Probleme? Er macht sie gleichsam erst. Folglich kommt
unserer (d. h. der geistesgeschichtlichen) Betrachtungsweise
der Primat vor der problemgeschichtlichen zu.
Hier liegt ein ontologischer Grundirrtum vor! Nicht der
Mensch macht die Probleme, sondern er findet sie vor.
Sie haben ihr Dasein auch ohne seine Kenntnisnahme
von ihnen. Sie bestehen an sich. Zwar vermögen sie
auch in der Erkenntnisrelation für den Menschen zu bestehen
, aber sie sind indifferent dagegen, ob sie für ihn
bestehen oder nicht, d. h. sie sind gleichgültig gegen
ihre Erkennbarkeit. Das Zutreffen dieser Behauptung
kann folgendes philosophiegeschichtliche Beispiel zeigen:
Das Bestehen der seit Descartes entdeckten, d. h. aber
nichts anderes als in der Erkenntnisrelation dem Menschen
zugänglich (gegenständlich für ihn) gemachten
Problematik des Substanzdualismus (von Descartes res
cogitans und res cogitata genannt) begann nicht erst
mit dem Augenblick, als Descartes ihr auf die Schliche
kam, sondern sie war lange vorher da, bevor man sie
entdeckt hatte. Bleiben wir bei diesem Problemzusammenhang
von cogitatio und extensio stehen! Heintel
weist in einer wertvollen Übersicht nach, daß dies Problem
in modifizierter Form der Philosophie Nietzsches zu
Grunde liegt. Cogitatio und extensio, sie beide sind zu vereinigen
. Leibniz suchte, Descartes' Problemstellung aufnehmend
, sie als Kausalität (res cogitata) und Finalität
(res cogitans) zusammenzuführen. Auch Nietzsche fand in
seiner Zeit Bestrebungen vor, diese Synthese zustande zu
bringen. Der jüngere Fichte, Lotze und viele andere weniger
bekannte Denker rangen im IQ. Jahrhundert in heißer
Mühe um sie, wenn auch mit geringer Aussicht auf Erfolg
. Nietzsche nimmt den Problemfaden auf und sucht
ihn auf seine Weise weiterzuspinnen. Er erkennt das
Problem in der Frage: Wie ist es möglich, den sich als
frei erlebenden Menschen mit dem als bloßes Naturprodukt
und darin als determiniert erkannten Menschen in
Harmonie zu bringen? (130 u. ö.). „Kurz gesagt: Nietzsche
will Freiheit und Notwendigkeit zusammendenken"
(179). Er umschreibt in erklärender Weise diese Problematik
durch das "Gegenüber und Widereinander zweier
Positionen, der des Wissenschaftlers und der des Philosophen
. Jener stellt immer nur fest, was ist, und be-
scheidet sich bei seiner Realität; dieser dagegen drängt
über sie hinaus, weil ihn sein schöpferischer Wille zur
Verwirklichung der ihm vorschwebenden Wertsetzungen

treibt (122, 152). Beide Positionen zusammenzuführen,
| hat Nietzsche durch sein ganzes Schaffen hindurch ver-
j sucht. Heintel weist überzeugend nach, wie sich dies
Problem und die sich auf es richtenden Lösungsversuche
durch alle Perioden des Nietzscheschen Schaffens hindurchziehen
: In der Frühzeit kommt dieser Problenrdi.n-
lismus im Grundgegensatz des Dionysischen und Apollinischen
zum Ausdruck, in der mittleren sog. positivistischen
Epoche gewinnt das Apollinische die Oberhand gegenüber
dem Dionysischen, obwohl dies keineswegs verschwindet
(188 ff.). In der Spätzeit nimmt dieser Gegensatz
immer schärfere Formen an, wobei im „Zaratlm-
stra" das Apollinische in trunkenem Höhenflug weit zu«
| rückgelassen wird. Beide Positionen kommen in den
I äußersten kontradiktorischen Widerspruch (195). Aber
Nietzsche mußte einsehen, daß er die Auflösung dieses
ewigen Problems nicht finden konnte. Er hat darunter
tief gelitten. Nietzsches System ist mit Heintel „allein
durch den Hinweis auf jene Grundspannung wirklich zu
charakterisieren, es ist, kurz gesagt, nichts anderes als
das von einem Manne mit größter intellektueller
Empfindlichkeit und stärkster Intensität der psychischen
Abläufe überhaupt gelebte Grundproblem der neueren
Philosophie" (211), wobei nicht zu verkennen ist, daß
Nietzsche in vielen systematischen Fragen widerspruchsvoll
, oberflächlich, ja leichtsinnig war, was z. B. daraus
ersichtlich ist, daß er es nicht für nötig hielt, Kant,
Fichte und Hegel gründlich zu studieren. Er glaubte sie
mit Schlagworten abtun zu können. In diesem Betracht
bedeutet das Philosophieren Nietzsches „einen Einbruch
der Ungründlichkeit in das deutsche Denken, das seine
welthistorische Größe doch gerade dem Umstand verdankt
, daß es Tiefe des Erlebens und Weite des Blicks
mit echter Gründlichkeit und Geisteszucht so häufig in
einer schöpferischen Persönlichkeit zu vereinigen wußte
" (207). Dies ist allen mit Nietzsches Aphorismen
spielenden Dilettanten zuzurufen!
Berlin Walter Karowski

S YSTEMA TISCHE THEOLOGIE

Benz, Ernst: Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums.

Stuttgart: W. Kohlhammer 1938. (150 S.) 8° = Sonderdruck aus
„Zeitschrift f. Kirchengeschichte", Dritte Folge VII, 56. Hand.

RM 3.60,

Benz stellt sich in vorliegendem Buch die Aufgabe,
I Nietzsches originale Ideen über den Ursprung und die
Geschichte des Christentums aufzuzeigen, Damit füllt
es in der geistesgeschichtlichen Nietzscheforschung eine
Lücke aus. Doch darin allein liegt nicht die Bedeutung
dieser Arbeit. Sie hat ihren wissenschaftlichen und aktuellen
Wert dadurch, daß sie die bisherigen Erörterungen
innerhalb des Fragekreises „Nietzsche und das Christentum
" meistens überflüssig macht. Die Untersuchung
I von Benz setzt in dieser Frage einen Neuanfang.

Wir kennen Benz als klugen und gewandten Debatter
und als einen äußerst verläßlichen wissenschaftlichen Arbeiter
. Aber dadurch allein wäre dieses Buch wohl eine gute
Arbeit neben anderen. Es ist aber mehr, denn es eröffnet
von Nietzsche her eine Sicht für das religiöse Suchen unserer
Gegenwart. Dies gelingt Benz dadurch, daß er den
I Ansatz seiner Nietzscheinterpretation anders als üblich
I wählt. Er setzt da ein, wo Nietzsches Leben kreist, in
| der Verwirklichungsmöglichkeit der Renaissance; macht
] von hier aus Nietzsches Stellung zu Luther einleuchtend
und zwingend, weil es Luther ja gerade war, der das
Aufgehen der Kirche Roms in der Renaissance verhinder-
i te, indem er die sterbende Kirche zu neuem Leben erweckte
. So wird zunächst im Schrifttum Nietzsches seine
i schroffe Ablehnung des Kirchenchristentums als des
| Christentums des Dogmas und der „reinen" Lehre sichtbar
.

Doch Benz erhellt, daß Nietzsche das Christentum
nicht nur negativ kennt, sondern auch als Träger einer
Lebensmächtigkeit. Freilich ist diese nur in Jesus zu