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Ausgabe:

1939 Nr. 5

Spalte:

171-173

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Käsemann, Ernst

Titel/Untertitel:

Das wandernde Gottesvolk 1939

Rezensent:

Michel, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 5

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Auf das gleiche Resultat führt die Betrachtung der
modernen literar- und traditionskritischen Arbeit im 2.
Kap. Hier stehen wir im Brennpunkt unserer augenblicklichen
Kritik. Es ist klar, daß die Fragen nach der
Priorität von „Q" oder „G", nach dem Recht der
Harnackschen Rekonstruktion von „Q" nebst den daraus
sich ergebenden kritischen und theologischen Folgerungen
u. a. keine eigentliche Antwort erhalten können
. Es wäre zu fragen — und m. E. bedarf dieses Problem
einmal einer ausführlichen Erörterung —, ob
Schniewind und in seiner Nachfolge Busch nicht allzu
früh den „Verzicht" aussprechen, die Echtheitsfrage zu
stellen. Wenigstens scheint mir daran die an R. Bultmann
geübte Kritik zu leiden, so Treffliches sie zu sagen
weiß und so klar sie auf den wirklichen wunden Punkt
hinweist: wie verhält sich der „Mythus" zu dem
„Kerygma", wie zu der „Tradition über die Geschichte
Jesu"?

Das dritte Kapitel legt die Stellung von Mk. 13 innerhalb
des Evangeliums klar und erarbeitet das von A.
Schweitzer inspirierte, aber wesentlich vertiefte Ergebnis:
Mk. 13 stellt die „Abschiedsrede" des zum Kreuz Gehenden
an die Jünger dar, sein Sinn ist: so wie Jesus
nur als der Christus sub cruce verstanden wird, so kommt
er zu seinen Jüngern mit dem Erweise seiner Herrlichkeit
nur in ihrem Dienen und Leiden, ihrem Lieben
und leidenden Bekennen seines „Namens". „Mk. 13 ist
eine Explikation von Mk. 8,34". Hand in Hand mit
dieser Erkenntnis geht die weitere, überzeugend vorgetragene
Einsicht, daß die alte These, Mk. 13 sei eine
jüdische Apokalypse, unhaltbar ist.

Der letztgenannten These geht das vierte Kap. weiter
nach, das Mk. 13 in den Bereich der alttestament-
lichen und gleichzeitigen jüdischen Tradition hineinstellt.
Sollte sich der hier immer wieder erbrachte Nachweis,
daß Mk. 13 über die jüdische Tradition zurück an altt.
Gedanken anknüpft, erhärten lassen, so stellte diese Erkenntnis
das Kap. allerdings auf einen neuen Verständnisboden
. Hier ist die Forschung ernstlich gefragt.

Das fünfte Kap. endlich faßt ergänzend und abrundend
den sachlichen Gehalt der „Apokalypse" in einer
theologischen Exegese zusammen. Hier kommt die während
der Lektüre des Buches öfter gewünschte Diskussion
der bekannten Stellen Lk. 17,20. 21,28. Mt. 10,23.
Mk. 9, 1 u. a. zur Sprache, hier erscheint eine nochmalige
Auseinandersetzung mit Bultmann sowie eine instruktive
Erörterung des Verhältnisses des „geheimen Messias
" zur dtjes. Messiasgestalt.

Der Überblick zeigt, welch eine Fülle von Problemen
der Verf. verarbeitet hat. Hier haben wir eine Untersuchung
wieder, die einerlei, wie man das Resultat der
Arbeit nun beurteilt, uns hineinstellt in den lebendigen
Strom wissenschaftlicher Arbeit. Aber mehr noch: die
saubere und echt theologische Art der Auslegung ruft,
auch weitere Kreise, ruft den Pfarrer zu einer fruchtbaren
Auseinandersetzung mit der so leicht und oft gefürchteten
und mißverstandenen „synoptischen Apokalypse
". Man legt das Buch mit Dank für reiche Belehrung
und Anregung aus der Hand.
Schwerin i. M. H.J. Ebeling

Käsemann, Pfarrer Lic. Ernst: Das wandernde Gottesvolk.

Eine Untersuchung zum Hebräerbrief. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1939. (156 S.) gr. 8° = Forsch, z. Religion und Literatur
d. Alten und Neuen Testaments. Neue Folge 37. Heft, der ganzen
Reihe 55. Heft. RM 9—.

E. Käsemanns Untersuchung will das Motiv des
wandernden Gottesvolkes als die „heimliche Basis des
Hebräerbriefes und seiner einzelnen Gedankenkreise"
darstellen. So wird in Hebr. 3,7—4,13 der eigentliche
Ausgangspunkt gesehen, und der mit 10, IQ beginnende
Schlußteil unseres Briefes erscheint als die eigentliche
Entfaltung dieses Grundmotives. Die entscheidenden
Schlußverse Hebr. 13,9 ff. rechnen nach K. vielleicht
mit sektiererischen Anwandlungen, können aber eine
judaisierende Tendenz nicht erweisen. Judaisierende Zersetzung
oder einen Rückfall ins Judentum nimmt K.

für unsern Briet nicht an; ein endgültiges Begräbnis
dieses verbreiteten Vorurteils würde nach Ansicht unseres
Verf. ein Gewinn sein. Es folgen zunächst lehr-
j reiche Begriffsbestimmungen, zu jn<mg (S. 20, Verhältnis
zu &ronovi'| und ehiiq, Unterscheidung von Paulus
), jtaooT)o(a (S. 23: „Das freudige Eintreten für eine
von Gott bereits in einem objektiven &.ey/oq verbürgte
! Sache"), duaptta (S. 24—27: Zusammenhang zwischen
du-aptia und äoöEVEia). Zur Interpretation von Hebr.
12, 22 ff. zitiert K- Od. Sal. 33; Apk Joh. 14 vertritt also
wie Hebr. 12, 22 ff. dasselbe Schema (vgl. E. Lohrneyer,
Offenbarung des Johannes 1926, 32). Zur wixämma^-
Spekulation wird das reiche rabbinische und synoptische
| Material herangezogen und als Ergebnis notiert, daß
{ Hebr. hier an einem entscheidenden Punkt eine alexan-
drinisch-gnostisch bestimmte Weisheits- und Erlösungs-
! lehre voraussetzt (S. 45). K. zieht die (iaoiAixT) 686?, den
| Königsweg zur Wiedergeburt und Vergottung bei Philo
I vergleichend heran und sieht mit J. Pascher in der
j KaxaKavau; das Zentrum der gesamten Lehre Philos.
„Mit alledem ist jede direkte Abhängigkeit des Hebr.
von Philo ohne Weiteres abgetan. Nicht so einfach werden
sich hingegen bei beiden gemeinschaftlich verwertete
Traditionen ablehnen lassen". (S. 47). Von neuer
Seite erscheint die religionsgeschichtliche Problemstellung
, wenn wir den gnostischen Mythus vom erlösten Erlöser
nach Berührungspunkten mit dem Hebr. fragen,
j Die Untersuchung erweist eine starke Parallelität in dem
| Grundmotiv wie in den Einzelzügen zwischen Hebr.
I und dem Mythos. Der Versuch, eine für beide gemein-
| same Tradition herauszustellen, erscheint als gerechtfertigt
(S. 58). Damit ist der Unterbau für eine Unter-
j suchung der Christologie gegeben. Hebr. 1,5 (5,5 ff.)

und Phil. 2,5 ff. verraten das gleiche christologische
| Schema. Die Zusammengehörigkeit des Sohnes mit den
Söhnen, die J. Kögel besonders hervorgehoben hat, wird
bei K. durch die Urmenschlehre und den Mythus vom gno-
j stischen Erlöser erklärt (S. 78f.; 82; 94 f.). „Die Chri-
' stusbotschaft des Hebr. bedient sich also zur Darstellung
des Erlösungsgeschehens der mythischen Tradition,
i aber sie gibt sich dieser nicht rückhaltlos und in Bausch
und Bogen preis" (S. 95). Wertvoll erscheint mir der
Abschnitt über öuoXoyta (S. 105 ff.). Hebr. kennt zwei-
I fellos bereits geprägte Schultraditionen, aber es ist wenig
j wahrscheinlich, daß Schultraditionen oder Katechismus-
I stücke als onoXoyfa bezeichnet weiden sollten. 'Oiiotoyta.

ohoXoyeiv hat einen gewissen proklamatorischen Charakter.
! Sollte die 60.0X071« von 3,1; 4,14; 10,23 in der Gottes-
j dienstfeier ihren Ort haben und die dort gehaltene Liturgie
meinen (S. 107)? Dann wäre die Christologie
des Hebr. eine ausgeführte Darstellung und Interpretation
der liturgischen Gemeinde- 6)10X071« (S. 108). Dann
würden auch die atlichen Zitate des Hebr., besonders
die der ersten Kapitel, einen prägnanten Hintergrund
erhalten (S. 109). Zur Hohenpriester-Vorstellung: „Während
aus Hebr. nur hervorgeht, daß Christus Hoherprie-
ster ist, begründen die spätjüdischen Texte zugleich,
warum Moses, Elias, Metatron, Melchisedek und Michael
Hohepriester sein können: sie sind Inkarnationen
j Adams, der auf Grund einer göttlichen Ordnung als
j Erstgeschaffener der Welt ebenfalls Hoherpriester war"
(S. 132f.). Jene spätjüdischen Texte lehren, daß dem
I Urmenschen als solchem in einer bestimmten Überlie-
j ferung das Hoherpriester-Prädikat zukommt (S. 134).
j Wie in wenig anderen Schriften des N. T.'s wird im
j Hebr. deutlich, was christliches Evangelium in helleni-
I stisch-gnostischer Umwelt besagt (S. 152). Die Ver-
I mutung von Schiele (American Journal of Theology 9,
| 1905, 290—308) und V. Monod (De titulo epistolae
I vulgo ad Hebraeos inscriptae 1910), daß die Überschrift
„Hebräerbrief" symbolische Bedeutung habe („die heimatlos
über diese Erde ziehenden, die himmlische Heimat
suchenden Frommen" Gen. 14,13 LXX; 1. Reg.
13,7 LXX; Philo de migr. Abrah. 201; Euseb. praep.
evang. VII, 8,14f.) wird von K- erwogen, jedenfalls
nicht abgelehnt (S. 156). Es scheint so, als werde diese