Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1939 Nr. 4

Spalte:

147-150

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Thielicke, Helmut

Titel/Untertitel:

Geschichte und Existenz 1939

Rezensent:

Wiesner, Werner

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

147

Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 4

148

Vf. im II. Teil zu Kants Beweis der außerbewußten Existenz
von Dingen an sich (S. 46 ff.). Die Schwierigkeit
liegt darin, daß Kants Terminologie an der betr.
Stelle der „Widerlegung des Idealismus" (Kr. der r. V. |
2. Aufl. 1787 Akademieausgabe III, S. 191) zwei- !
deutig ist, wenn es dort heißt: „Lehrsatz. Das bloße, j
empirisch bestimmte Bewußtsein meines eigenen Denkens
beweist das Dasein der Gegenstände im Räume
außer mir". Nun ist die Frage die: Hat Kant bei den
Gegenständen „im Räume" auch an die Gegenstände
„an sich" gedacht? Dies hat die neukantianische,
streng erkenntnistheoretisch idealisierend gerichtete Kant-
interpretation verneint. Gersch muß zugeben, daß in
der Tat der kantische Lehrsatz nur vom „Dasein der
Gegenstände im Raum außer mir" spricht. Dies würde
nach anderen Stellen nicht Dinge an sich, die im transzendentalen
Verstände außer uns sind, bedeuten, sondern
nur äußere Erscheinungen oder empirisch äußerliche
Gegenstände, da die räumlich geordneten Dinge der
äußeren Wahrnehmung zwar im empirischen Sinne außer I
uns sind, nämlich außerhalb der Sphäre des nur zeitlich I
bestimmten Selbstbewußtseins; der Raum aber im trans- !
zendentalen Sinne als Anschauungsform innerhalb der j
Sphäre des erkennenden Bewußtseins ruht (S. 54—55). i
Hier liegt eine Aporie vor. Der Beweis für die außerbewußte
Wirklichkeit von Dingen an sich wird von |
G. in den §§ 9 und 10 vorgetragen. In § 9 ist im Anschluß
an den kantischen Satz von der Bewußtheit des
ichhaften Daseins als eines in der Zeit bestimmten die
Zeit als beständig fließende vorgestellt. Dieser Fluß
der Zeit ist nichts Beharrliches. Ein solches muß daher
außerhalb seiner gefunden werden. Da nun das Ich
seines Daseins als eines durch die Zeit bestimmten bewußt
ist, so muß außerhalb des Ichs das Beharrliche
sein. Es findet sich als das Reale der äußeren Körperwelt
. Das ist der negative Teil von Kants Grundlegung
der kritisch-transzendentalen Wirklichkeitslehre. In § 10
führt Gersch den positiven Teil vor, indem er zeigt,
wie Kant den empirisch äußerlichen Gegenständen im
Räume noch Gegenstände außer uns im transzendentalen
Sinne unterstellt. Diese Gegenstände sind die Dinge an
sich. Wir können nur ihr „daß", nicht aber ihr „was"
ausmachen (S. 33, 76 u. ö.). Dieser Tatbestand dürfte
als genuin kantischer nunmehr klar geworden sein. Solche
überzeugende Klarstellung haben wir der philosophisch
exakt wie stilistisch flüssig geschriebenen, in natürlicher
Sicht an das schwierige Realitätsproblem herantretenden
Abhandlung von Walter Gersch zu verdanken.

Berlin Walter Karowski

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Thiel icke, Helmut: Geschichte und Existenz. Grundlegung
einer evangelischen Oeschichtstheologie. Gütersloh: C. Bertelsmann
1935. (XVI, 369 S.) gr. 8°. RM 15-; geb. 17—.

Der Gegenstand dieses Buches ist das für den Christen
in den letzten Jahren geradezu zentral gewordene
Problem der christlichen Stellung zu den geschichtlichen
Ordnungen. Es ist die vielleicht umfassendste und tiefgründigste
Arbeit, die in dieser Zeit über die brennende
Frage erschienen ist. Th. erweitert die Frage nach den
Ordnungen, indem er nach dem theologischen Verständnis
der geschichtlichen Existenz des Menschen überhaupt
fragt, „inwiefern sich der Mensch als geschichtlich zu
verstehen habe" (S. V). Er will sie durch eine „evangelische
Geschichtstheologie" beantworten. Dabei entwickelt
sich sein Gedankengang in ständiger, sei es
offener, sei es verschwiegener kritischer Auseinander- ;
Setzung mit einer Theologie der „Schöpfungsordnungen", j
wie sie von seinem Lehrer Paul Althaus sowie von E.
Brunner und Fr. Gogarten vertreten wird. Es geht da- I
bei um die Frage, ob es theologisch möglich ist, die geschichtlichen
Ordnungen als von der Sünde nicht betroffene
Geschöpflichkeit aus der gefallenen Schöpfung herauszuheben
und die Sünde auf die individuelle Tat im

Rahmen der Ordnungen und die Innerlichkeit des Willens
einzugrenzen, höchstens einen Einfluß der Sünde
auf die empirische Verwirklichung der Ordnungen zuzugeben
. Th. verneint dies. Er sieht in dieser Auffassung
eine Einschränkung des biblischen und reformatorischen
Verständnisses von der Sünde. Das Urteil Sünde trifft
nicht nur das individuelle Tun, sondern die Gesamtverfassung
des menschlichen Seins. Dies kann aber aus seiner
Geschichtlichkeit nicht herausgelöst werden.

Th. zeigt dies, indem er zwei Dimensionen der Geschichte unterscheidet
. Die vertikale Dimension der Geschichte ist die Heilsgeschiclite
Gottes mit dem Menschen, in der Schöpfung, Gericht, Rechtfertigung,
Erlösung usw. geschehen. Die horizontale Dimension ist die Geschichte
als Produkt menschlichen Tuns. Sofern nun die Geschichte in der
horizontalen Dimension Tat des Menschen ist, ist er im Lichte der unbedingten
Forderung Gottes, wie sie uns etwa in der Bergpredigt trifft,
für sie verantwortlich. Er muß sie vor Gott als seine Geschichte auerkennen
, sie ist unbeschadet ihrer Geschaffenheit nach der vertikalen
Dimension mit dem menschlichen Sein identisch. „Ich bin meine Geschichte
", so muß der in konkreter geschichtlicher Situation stehende
Mensch angesichts der unbedingten Forderung Gottes bekennen. Wird
nun vor der Forderung Gottes der Mensch als Sünder und die Sünde
als coneupiscentia d. h. „Selbstseinwollen" enthüllt, so damit schon die
Struktur der Geschichte in ihrer horizontalen Dimension als der makrokosmische
Ausdruck der Sünde, des Selbstseinwollens. Dies sucht Th.
nun „geschichtstheologisch" nachzuweisen, indem er die geschichts-
philosophisch analysierte Geschichtsstruktur im Lichte der unbedingten
Forderung theologisch deutet. Dabei zeigt sich, daß schon die Struktur
der Geschichte dem unbedingten Liebesgebot widerspricht, indem sie
zwischen Icn und Du die vom Selbstseinwollen geschaffenen geschichtlichen
Ordnungen mit ihren Eigengesetzlichkeiten schiebt und so die
unmittelbare Liebesbeziehung im Sinne des Gebotes verhindert sowie
eben durch die Ordnungen den Einzelnen, ob er das will oder nicht,
in einen Kampf mit dem Nächsten stellt. Darüber kann auch die gemeinschaftsmäßige
Bindung an den andern in den Ordnungen nicht
hinwegtäuschen, einmal, weil diese Bindung stets eine mittelbare ist,
und ferner, weil die Ordnung, wie z. B. am Staat gezeigt wird, indem
sie das individuelle Selbstseinwollen einschränkt, es vor der Selbstzerstörung
bewahrt und so gerade ermöglicht. Daraus ergibt sich schon,
daß mit der Geschichtsstruktur überhaupt auch die Ordnungen unter
dem Gericht der göttlichen Forderung stehen, also nicht als In die Geschichte
sündiger Menschen hineinragende Reste ursprünglicher Schöpfung
der sündigen Menschlichkeit gegenübergestellt werden können. Der ethische
Anspruch der Ordnungen ist daher nicht von der Schöpfung her
zu begründen. Wohl aber von der erhaltenden Gnade Gottes aus. Die
geschichtlichen Ordnungen tragen nämlich ein Doppelgesicht. In der
horizontalen Dimension sind sie gänzlich Produkte und Ausdruck des
sündigen Selbstseinwollens. In der vertikalen Dimension gesehen sind
sie einmal Gerichtsordnungen, durch die uns Gott an unser sündiges
Selbstseinwolleii bindet (servum arbitrium), zugleich aber doch „Gnaden-
ordnungen", insofern „Gott uns in ihnen In unserer geschichtlichen
Existenz erhält und diese Existenz nicht an dem entfesselten Drang des
zum Chaos drängenden Selbstseinwollens zugrunde gehen läßt" (S. 221),
und damit auch die von Gott im Rahmen der sündigen Geschichtsstruktur
, also unter der Voraussetzung bleibender eigentlicher Unmöglichkeit
eingeräumte „ethische Möglichkeit" der Gottes- und Nächstenliebe
, die von der Forderung unmittelbarer Liebe nach wie vor gerichtet,
aber von Gottes Gnade als Erfüllung des Liebesgebotes zugerechnet wird.
Von da aus haben sie für den Christen eben als einzige „ethische Möglichkeit
" im Räume der Geschichte normativen Charakter. Von da aus
gibt es aber auch für die Kirche neben ihrer Verkündigimgspflicht eine
geschichtliche Gestaltungsaufgabe, die überindividuelle Geschichte so zu
formen oder formen zu lassen, „daß sie dem Evangelium nicht in programmatischer
Antithese entgegensteht", d. h. dem Glauben auch noch
die „ethische Möglichkeit" nimmt. Die daraus folgende christliche Kulturgestaltung
ist aber letztlich nur eine dem Worte Gottes und seiner
Verkündigung dienende Aufgabe und stellt sowenig wie alle andere Geschichtsgestaltung
einen ewigen Geschichtsertrag dar. Der echte Oe-
schichtsertrag ist allein das Werk der Gnade i n der Geschichte, nämlich
die Gemeinde der .Kinder des Reichs". So vollendet nicht etwa
die Geschichte die Schöpfung, sondern die Gnade vollendet sich an der
Geschichte und zwar an ihr gerade als sündiger Geschichte, die in den
„Kindern des Reichs" bußfertig heimkehrt.

Ein wunderbar geschlossenes Bild bietet sich un-
serm Blick dar, der nur durch die etwas unsystematische,
an Einzelfragen und Einzelpolemiken sich oft zu sehr
aufhaltende Darstellung des Buches ein wenig beeinträchtigt
wird. Der Fortschritt, den diese Position in der Debatte
über das Geschichts- und Ordnungsproblem darstellt
, liegt darin, daß mit dem Gerichtsurteil Gottes
über die ganze geschichtliche Existenz des Menschen
ernstgemacht wird. Damit ist jede Möglichkeit, die ge-