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Ausgabe:

1939 Nr. 4

Spalte:

136-140

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lietzmann, Hans

Titel/Untertitel:

Geschichte der Alten Kirche ; 3.Die Reichskirche bis zum Tode Julians 1939

Rezensent:

Dörries, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 4

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Theologen ließen sich weithin von der Problematik nicht
berühren, die die religionsgeschichtliche Forschung Boussets
und Reitzensteins und der deutschen Nachkriegstheologie
hervorgerufen hatte. Das zeigt die vorliegende Monographie
über Paulus aus der Feder von Nock. In
einer sehr aufschlußreichen, zunächst für angelsächsische
Studenten bestimmten Literaturübersicht nennt Nock aus
der deutschen Literatur neben Schweitzer noch Eduard
Schwartz' Paulusskizze in den Charakterköpfen aus der
antiken Literatur (übrigens bemerkt er dazu: is brillant
and should be translated) und Lietzmanns Kommentare
zu den großen Paulinen. Man braucht nicht zu versichern
, daß der Religionshistoriker Nock natürlich die
deutsche religionsgeschichtliche Arbeit genau kennt. Es
ist ihm gelungen, ein wirklich überzeugendes religionsgeschichtliches
Essay über Paulus zu schreiben, ohne die
Individualität des Paulus zu verwischen zu Gunsten
eines in seiner Bedeutung für Paulus problematischen,
allgemeinen religionsgeschichtlichen Prozesses, der von
der Schwierigkeit belastet ist, den lebendigen Glauben nur
aus später Gedanklichkeit erklären zu können.

Die Darstellung gliedert sich nach den Stadien des Lebens des
Paulus. Eine Einleitung gibt eine Übersicht über den Überlieferungsbestand
und die Entwicklung der Probleme des Lebens Pauli aus den
Quellen. Cap. 2. .Tarsus and Jerusalem' bestimmt die Momente des
Lebens des jungen Paulus. Hier schon wird das Generalthema des Buches
herausgestellt: Paulus versteht man nur als Pharisäer, sein Werk
ist abhängig von seiner Umwelt in den Synagogen, den Kreisen pharisäischer
Frommen. Das dritte Kapitel möchte ich als das wichtigste
und beste des ganzen Buches ansehen. Aber nicht nur deshalb, sondern
weil es für ein kurzes Referat am aufschlußreichsten ist, möchte icli kurz
über dieses berichten. Paulus trifft auf Juden, die auf die Hoffnung
Israels warten. Die Qesetzverehrung dieser Kreise wird durch die Idee,
das Oesetz erfülle sich beim Kommen des Reiches, spiritualisiert. Jesus
der letzte der Vorläufer der Hoffnung predigt in dem bezeichneten Sinne
das Reich und ihm steigert sich die Erwartung zu einem messianischen Bewußtsein
, dessen Begriff und Formel nicht eindeutig ist. Auf jeden Fall
drängt er auf Verkündigung und Nachfolge als der Erfüllung des Gesetzes
und tritt damit in radikalen Widerspruch zum geschriebenen Gesotz
und der Tradition. Die Vorausahnung seines Todes erschließt
ihm sein Sterben als ein dem ,Hereinbrechen des Reiches mit Macht'
vorhergehendes Ereignis. Bei und nach seinem Tode wandelt sich in
seinen Jüngern die Hoffnung er würde Israel erlösen zu der Gewißheit,
der Messias lebt und bezeugt sich im Geiste. „Die christliche Theologie
beginnt also nicht mit dem Denken des Paulus, sondern indem
sich die Gemeinde zu Jerusalem mit dem Tode Jesu in Übereinstimmung
bringt und diesen Tod mit dem Alten Testament in Beziehung setzt."
Die entscheidende Wendung des Lebens des Paulus ist die Erfahrung,
daß das Gesetz als Weg des Lebens versagt hat. Wäre Paulus später
nur praktischen Gesichtspunkten gefolgt, so hätte er in seiner Verkündigung
die Gestalt Christi in ein „liberalisiertes hellenistisches Christentum
" eingefügt. Die Predigt des Paulus, seine Gedanken lassen sich
nur verstehen, wenn man beachtet, daß Paulus als Pharisäer gelernt
hatte, ein durch die Weisungen des Gesetzes gestärktes Gewissen könne
alle Leidenschaften, insbesonders das „Fleisch" als ,evil impulse' überwinden
. Diese Erfahrung verdichtete sich in ein apokalyptisch gedeutetes
Sündenbewußtsein. Alle Gedanken des Paulus sind die Bewußt-
werdung dieser Erfahrung. Von ihm aus enträtsele sich auch das Unlogische
des christlichen Glaubens. Der Tod Jesu wurde Paulus zum
Beweis der Unvollkommenheit des Gesetzes, den Weg des Heiles zu
vermitteln. Damit war aber auch ein neues Schriftverständnis gegeben,
das der Urgemeinde noch nicht zugänglich war. Die persönliche Berufung
erschloß Paulus den Sinn des Glaubens ohne Gesetz eines
Abrahams und des Habakukverses. Die Bezugnahme auf Christus gab
dem Glauben, der für jüdisches Denken ein Werk neben der Gesetzeserfüllung
war, eine neue Bestimmung aus der persönlichen Erfahrung
Christi und damit Gottes. „Paulus hatte nur dies zu entwickeln und
ihm eine besondere Verbindung zu Christus und durch Christus zu
Gott zu geben, die seiner eignen Erfahrung entsprach." Und so gewann
das Wort und die Sache .Gnade' einen neuen Sinn, der auch eine Verschärfung
der sittlichen Verantwortung des einzelnen zur Folge hatte.
Nock lehnt es ab, Paulus aus der Welt des Hellenismus zu erklären.
Da aber sich die jüdischen eschatologischen Erwartungen als der Ausgangspunkt
des paulinischen Christentums erweisen und seine Theologie
und sein Sakramentalismus durch ihre Begriffe erklärt werden kann,
sind so meint N. — wir gehalten diese Deutung zu bevorzugen.
„Die Differenzen zwischen dem paulinischen und hellenistischen Sakra-
mentalismus sind entscheidend und nicht oberflächlich, und die oft berufene
Idee eines allgemeinen hellenistischen Sakramentalismus als das
Wesentliche in dem Denken der Zeit ist nicht durch die vorhandenen
Zeugnisse gesichert. Der hellenistische Einfluß, der Paulus erreichte, erreichte
ihn hauptsächlich durch das hellenisierte jüdische Milieu." Mit

diesem Satz ist die Art des Buches hinreichend gekennzeichnet. Man
! begreift, wie durch diese Deutung die folgenden Kapitel: die erste und

später christliche Periode des Paulus, die Reisebriefe (geteilt in drei
. Kapitel) und die Gefangenschaftsbriefe nach allen Seiten Persönlichkeit
J und Werk des Paulus gegenseitig erhellen. Ein Schlußkapitel: der Stil

und die Gedanken des Paulus faßt die Darstellung zusammen und er-
! läutert die Hauptthese des Buches durch einen Vergleich Philos und Paulus'.

Die schriftstellerische Leistung Nocks muß besonders
hervorgehoben werden. Sein Paulusessay bindet
die atomisierende Interpretation. Die Überlieferung bietet
ja großenteils nur einzelne Mosaiksteine zu einem
Paulusbild. Nock gelingt es aber die Hypothesen und
Aporien, die sich aus der Sache ergeben, in Motive der
Darstellung zu verwandeln, ohne das Ungewisse und
I Dunkle willkürlich aufzuhellen oder Zweifel zu beschwichtigen
oder zu verleugnen. Bei dem Versuch, den ganzen
J Paulus uns zu schildern, vermag es Nock durch seine
große Vertrautheit mit der Religionsgeschichte des Hellenismus
aus den Aporien der Interpretation den dunklen
Stellen der Überlieferung so scharfe Konturen zu
geben, daß selbst das von den Quellen Verschwiegene
oder ungewiß Belassene zum Aufbau des Geschichtsbildes
beitragen muß.

Das Buch greift in die wichtigste Fragestellung eines
historischen Verständnisses des Paulus gerade auch innerhalb
der deutschen Forschung ein: Die Bestimmung
des Verhältnisses von Judentum und christlichem Glauben
in der Frühzeit des Christentums. Nock hat eindringlicher
als andere zeitgenössische Forscher die Persönlichkeit
des Paulus und ihre Erlebnismächtigkeit als
den Grund der Loslösung des Christentums von seinen
jüdischen Ursprüngen nachgewiesen. Durch Paulus selbst
! ist der mit Jesus beginnende Prozeß der Auflösung
! der spätjüdischen Frömmigkeit und der Entstehung eines
| neuen Glaubens, der allein von einer Person erweckt
j wird, entscheidend weitergeführt worden.

Ich stehe nicht an, Nocks Paulus als das beste neu-
testamentliche Buch des Jahres 1938 zu bezeichnen. Man
legt es mit dem Wunsche aus der Hand, es möge sich
ein Übersetzer und ein Verleger finden, die dem deutschen
Publikum das Buch vermitteln.

Berlin H.-G. Opitz

KIRCHENGESCHICHTE

Lietzmann, Prof. D. Dr. Hans: Geschichte der Alten Kirche.
III. Bd.: Die Reichskirche bis zum Tode Julians. Berlin : W. de Qruyter
& Co. 1938. (VIII, 345 S.) gr. 8°. Geb. RM 4.80.

Es gehört zum Stil der Lietzmannschen Kirchengeschichte
, wenn auch der dritte Band eröffnet wird durch
ein färben- und gestaltenreiches Bild des Schauplatzes
der Ereignisse, die er erzählen will. Und dieser Einsatz
hat hier noch ein besonderes Recht. Denn das Werden
der Reichskirche, von dem der Band handelt, stellt
ja mit Konstantins Neubau des Römischen Reiches in
engem Zusammenhang, der uns nur darum meist
nicht bewußt wird, weil die Auswirkungen jenes Geschehens
und Handelns bis zur Gegenwart dauern und
noch unser Urteil mitformen. Wenn aber die Forschung
der letzten Generationen herauszustellen suchte, wie sehr
schon vor dem Eingehen des Bundes mit dem Staat die
Kirche bündnis f ä h i g geworden war, so gilt es jetzt
vor allem sich klar zu werden, wie stark doch der Eingriff
war, den auch die staatswillige Kirche des Toleranzedikts
noch zu erfahren hatte, ehe sie die Gestalt der
Staatskirche annahm. Eine neue Darstellung des konstan-
tinischen Zeitalters durch einen Kirchenliistoriker ist deshalb
ein dringendes Erfordernis.

Kapitel I schildert Gestalt und Gehalt der dioklctia-
nischen Reform mit ihren Voraussetzungen und sucht die
Kräfte zu fassen, die auf heidnischem Boden noch lebendig
sind. Auch die Baudenkmäler stehen als Repräsentanten
ihrer Zeit: die Porta Nigra als Ausdruck des römi-

j sehen Behauptungswillens in den Jahren der Bcdrohtheit;
der palmenumkränzte Tempel der Zcnobia als Zeichen

I des sich selbst überlassenen Eigenwillens der östlichen