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Ausgabe:

1939 Nr. 4

Spalte:

115-121

Autor/Hrsg.:

Kümmel, Werner Georg

Titel/Untertitel:

Rudolf Thiel und die Quellen der Geschichte Jesu 1939

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 4

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Rudolf Thiel und die Quellen der Geschichte Jesu1

Von Werner Georg Kümmel (Zürich)

Das 19. Jahrhundert hat in der Erforschung der j evangeliums wählen oder zwischen beiden einen irgend-
Quellen für die Darstellung des geschichtlichen Jesus, wie gearteten Mittelweg suchen. Daß bei der Darsteider
synoptischen Evangelien, ein weithin anerkanntes
Resultat erreicht, die sog. Zweiquellentheorie, nach der
Markus den beiden andern synoptischen Evangelien zugrunde
liegt, die beide ihrerseits daneben noch eine
2. verlorene Quelle (Redenquelle, Q) benützt haben.

lung Jesu von dem so gewählten Ausgangspunkt aus
dann noch eine Fülle exegetischer und theologischer
Einzelfragen zu lösen ist, ist ja selbstverständlich.

Rudolf Thiel hat die Anregung zu einer Beschäftigung
mit den Problemen des Lebens Jesu von

Da somit das Markusevangelium als das älteste erwiesen 1 Reichsminister Kerrl erhalten. Seine Absicht war, einen
war-, hat die Leben-Jesu-Forschung des ausgehenden 19. I Rechenschaftsbericht über die Ergebnisse der Leben-
Jahrhunderts ihre Schilderung Jesu auf den Aufriß des ! Jesu-Forschung zu geben, und den Laien deren Resultate
Markus begründet. Diese Sicherheit brachte Wredes verständlich vorzulegen. Im Laufe der Einarbeitung in
„Messiasgeheimnis in den Evangelien" (1901) ins Wan- | dieses dem Verf. völlig fremde Gebiet wurde er zum
ken mit dem Nachweis, daß das Markusevangelium nicht ! selbständigen Forscher, dem eine vollständig neue li-
nach historischen, sondern nach dogmatischen Grund- terarische Hypothese über die Entstehung des Markussätzen
aufgebaut sei. Wollte man also zu einer sicheren evangeliums aufleuchtete, die er nun mit großer Beharrhistorischen
Quelle für die Darstellung Jesu kommen, | lichkeit bis zum Ende durchführte. Diese Entdeckung
ohne die durch viele Gründe gesicherte Zweiquellen- | dreier Quellen des Markusevangeliums, die der Verf.
theorie aufzugeben, so gab es nun nur noch zwei Mög- als „einen wunderbaren, nie im Traum erwarteten Er-

lichkeiten. Entweder man suchte hinter das Markusevangelium
in der Weise zurückzudrängen, daß man
literarische Quellen des Markus aufdeckte, um diese
dann womöglich als sichere historische Quellen zu benutzen
; oder man erkannte, daß weitere literarische
Quellen nicht auffindbar oder wahrscheinlich seien, und
widmete sich der Erforschung der vor den schriftlichen

folg" bezeichnet, ist in dem wissenschaftlichen Werk
„Drei Markus-Evangelien" ausführlich begründet und
wird auch in der zweiten Hälfte des für Laien bestimmten
Jesusbuches in populärer Form vorgetragen. Die
erste Hälfte des Jesusbuches dient im großen und ganzen
einer allgemeinverständlichen Schilderung der wissenschaftlichen
Situation der Jesus-Forschung, und es ist

Evangelien in der mündlichen Weitergabe sich bilden- i wohl zweckmäßig, erst darüber zu berichten, ehe wilden
Tradition. Die erstgenannte Methode, die sog. Ii
terarkritische Forschung, hat sich teils an den Versuch
gemacht, zwei oder mehrere Quellen des Markus aus

uns der eigentlichen Forscherarbeit Thiels zuwenden.

Der Verf. geht in seinem Jesus-Buch aus von der
doppelten Feststellung, daß Jesus sich mit jüdischen und

findig zu machen und teilweise sogar im Wortlaut zu ' spätgriechischen Gedanken berühre, daß die Lehre Jesu

rekonstruieren, hat sich teils darauf beschränkt, einen j aber eher auf dem Boden der spätgriechischeii Kultur ge-

Urmarkus anzunehmen, der Matthäus und Lukas vorge- I wachsen, als aus jüdischem Geist entsprungen sei (dabei

legen habe und in unserm Markusevangelium nur in ■ wird freilich zu wenig betont, daß Jesu Lehre eine

überarbeiteter Form erhalten sei (vgl. die Keimzeichnung { radikalisierte Umbildung jüdischer Gedanken darstellt),

der neueren Urmarkushypothesen durch Schniewind, j Richtig wird weiter ausgeführt, daß die historische Exi-

Theol. Rundschau 1930, 137 f.). Häufiger und beson- | stenz Jesu nicht wirklich b e w e i s b a r ist, obwohl Thiel

ders in den angelsächsischen Ländern sehr beliebt war ' daran keinen Augenblick zweifelt, und daß wir außerhalb

die Aufdeckung einer oder mehrerer Quellen des Mar- I des Neuen Testaments keine historisch brauchbaren

kus, über deren Zusammenhänge mit der Redenquelle Nachrichten über Jesus haben. Der Verf. wendet sich

und den Sonderquellen des Matthäus und Lukas dann
noch die verschiedensten Anschauungen möglich waren
(eine kritische Übersicht über diese neueren Theorien
findet man bei K. Grobel, Formgeschichte und Synop-

dann der Kanonsgeschichte zu, zeigt die Entstehung des
Neuen Testaments im Kampf mit der Gnosis und betont,
daß im Neuen Testament nur 8 Paulusbriefe apostolische
Verfasser haben. Weiter wird die Unsicherheit des Textische
Quellenanalyse, siehe meine Anzeige in dieser tes aufgezeigt, jedoch auch betont, wie unwesentlich
Zeitung 1938, 300f.). Andern Forschern ist es aber ; die meisten Varianten sind: „Kaum ein Buch des Alter-
sehr fraglich gewesen, ob Markus überhaupt Spuren wei- j tums ist reiner, sicherer, genauer überliefert als die

terer literarischer Quellen zeige, und ob es je historisch
interessierte Urberichte innerhalb der von der

Bibel"; Thiel ist der Ansicht, daß seine Entdeckung der
drei Markusquellen auch zum ersten Mal die Möglich-

eschatologischen Erwartung bestimmten Urgemeinde ge- keit geschaffen habe, die Güte der Handschriften objektiv
geben haben könne. Aus solchen Überlegungen und j zu prüfen. Als einzige für die Leben-Jesu-Forschung
Beobachtungen an den Texten selber entstand die Er- I wirklich wichtige Variante wird dann ausführlich Matth,
forschung der vorliterarischen Tradition, wie sie beson- j 1,16 besprochen. Thiel hält die Lesart des Sinaisyrers
ders rlie sog. „formgeschichtliclie" Forschungsrichtung i „Joseph zeugte den Jesus" für den Matthäustext und beleistete
(vgl. über diese Forschungen M. Dibelius, Theol. j tont, daß Jesus in der ältesten Zeit für den leiblichen
Rundschau 1929, 185 ff.). Je nach der Einstellung zu Sohn Josephs gehalten wurde. Dem Schluß, daß also
diesen literarisch-methodischen Fragen wird sich dann Jesus Sohn des Davididen Joseph und damit Jude ge-
das Urteil über den Quellenbefund für die Darstellung | vvesen sei, weicht Thiel aus mit der Feststellung, daß die
Jesu auch verschieden gestalten. Denn die literarkri- ! Abstammung Josephs von David erfunden sei, und daß
tische Forschung ist immer mehr oder weniger dar- , Mark. 12,35 ff. (der Text wird dann freilich doch Je-
auf ausgegangen, eine historisch sichere Basis für eine 1 Sus abgesprochen) die Abstammung des Messias von
zusammenhängende Darstellung Jesu zu finden, während i David widerlege. „Und der Tischler Joseph kann sehr
die formgeschichtliche Betrachtungsweise keinen histo- ; wohl aus einem Geschlecht stammen, das nach Galiläa
risch zuverlässigen zusammenhängenden Bericht, wohl j eingewandert ist oder schon vor der Judenzeit dort saß",
aber eine große Zahl zuverlässiger Einzelberichte an- { Nun ist es sicher richtig, daß Jesus in der ältesten Zeit
erkennt. Wer darum heute von Jesus ein historisch ge- ! für den leiblichen Sohn Josephs gehalten wurde, so
sichertes Bild geben will, muß zwischen diesen beiden ! wenig ich auch die Lesart des Sinaisyrers für den echten
grundsätzlich verschiedenen Betrachtungen des Markus- ; Matthäustext halten kann; und auch darüber kann man

,) Thiel, Rudolf: Jesus Christus und die Wissenschaft. 1 ^rci,tcn' ob1ie£?us sic£ fÜru ein!" 0bwCS

Mit einem Nauort von Reichsminister Hanns Kerrl. Berlin: Paul Neff Mark. 12>„j5Lff- E' S° ^deutet Werden muß.

1938. (372 s.) 8°. Ders.: Drei Markus-Evangelien. Berlin: W. de 1 Aber die Behauptung, daß Jesu Vater aus einem nicht-

Gruyter 1938. (237 s.) 8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, hrsg. v. ! jüdischen Geschlecht stammen könne, ist keine hi-

E. Hirsch u. H.Lietzmann, 26. 1 storische Behauptung, da der Verf. sehr genau weiß,