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Ausgabe:

1939 Nr. 3

Spalte:

108-109

Autor/Hrsg.:

Jaspers, Karl

Titel/Untertitel:

Existenzphilosophie 1939

Rezensent:

Kesseler, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 3.

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auf einem andern Weg, nämlich auf dem Weg der Erkenntnis
. Die zeitgenössische Skepsis konnte ihm nicht
wesentlich schaden, „er hatte zuviel an Glauben eingebüßt
, um sich den Luxus der Verachtung des natürlichen
Wissens zu gestatten". Die Skepsis war für ihn
nur ein Durchgangsstadium, sein Führer wurde Descar-
tes.

Spinoza überwindet den Skeptizismus, aber es war ein
„Pyrrhussieg", „weil Spinoza von einem Überwissen auf
metaphysischem Gebiet nicht lassen konnte", „es macht
fast den Eindruck, als ob er seine kurzlebige Metaphysikscheu
hundertfach gutmachen wollte". Das geschieht
unter dem Einfluß der kartesianischen Philosophie, der
Verfasser redet geradezu von einem „unheilvollen Einfluß
Descartes". Spinoza war trotz aller Kritik im einzelnen
fortan überzeugt, daß er „hier vor einer absoluten
Wahrheit" stehe- „So kann man sagen, daß Despinoza
unter dem cartesianischen Fundament ein neues Traggewölbe
aufführte, dadurch den ganzen Bau in Stil und
Zweck veränderte, etwas ganz Neues, Originelles auf dem
entlehnten Boden und den entlehnten Grundsteinen erstehen
ließ, aber der ursprüngliche Plan des cartesian-
schen Grundrisses blieb für immer erkennbar; für den
Philosophen deckte er sich mit dem von ihm selbst entworfenen
".

In den religiösen Fragen kam Spinoza vom Väterglauben
über die Skepsis zu einer „rein natürlichen und
philosophischen Religion". Das Christentum sah er mit
den Augen seiner Philosophie. Mit Christus und Paulus
fühlte er sich eins, Christus war ihm ein Meister der
Erkenntnis, ein Lehrer seiner Alleinslehre. So näherte
sich Spinoza unter dem Einfluß von Descartes dem
Christentum, aber er brach zu früh ab, um auf dieser
Bahn zur vollen Wahrheit vorzudringen. „Er hat zu
früh aufgehört zu forschen..... Er hat der Wahrheit
Halt geboten, als sein Herz vorläufig befriedigt war;
das ist die große Irrung seines Lebens". Ausdrücklich
aber bescheinigt ihm der katholische Forscher, daß Spinoza
Wesentliches gegen den Ansturm des Unglaubens
geleistet hat. „Was er gegen die Anmaßungen eines radikalen
Religionshasses geleistet hat, darf man ihm nicht
vergessen". Die Synagoge tat ihn in den Bann, der einstige
Rabbinatsanwärter wurde ein Lehrer der philosophischen
Religion. Davon reden die folgenden drei
Bände, deren ersten und zweiten ich hier bereits besprochen
habe.

Ich habe gelegentlich dieser Besprechungen schon
darauf hingewiesen, daß ein ganz wesentliches Verdienst
dieser Bände in den reichhaltigen Anmerkungen am Ende
besteht. Das muß auch bei diesem ersten Band gesagt
werden. Die Anmerkungen bieten eine Fülle von Material
, das neu erschlossen und hier leicht erreichbar
vorgelegt ist. Dazu kommt die ganze Art der Darstellung
: es ist nicht die Darlegung eines Systems, sondern
die lebendige Bewegung, in der ein philosophischer
Mensch in der Auseinandersetzung mit dem Geist der
Zeit wird: Spinoza der Barockphilosoph.

*

Der Verfasser gibt dem vierten Band seines großen
Spinozawerkes den Untertitel: Das Lebenswerk.
Hier erreicht die Darstellung mit der Behandlung der
„Ethik" ihren Höhepunkt und Abschluß. Vorangeht die
Analyse der Briefe und die Behandlung des theologischpolitischen
Traktates. Methodisch geht der Verfasser
wie in den bereits besprochenen Bänden so vor, daß er
Spinoza im Rahmen der geistigen Auseinandersetzungen
seiner Zeit zeichnet, wobei die Gestalt des Philosophen
manchmal in der Fülle der Umwelt verschwindet. Die
Briefe zeigen Spinoza im geistigen Austausch mit Zeitgenossen
über die die Zeit bewegenden Probleme, sodaß
auch sie ein kleines Stück Geistesgeschichte bieten, nur
daß hier Spinozas persönliche Art stärker hervortritt.
Ein Charakterbild, das Spinoza in der Spannung zwischen
Ideal und Leben zeigt, beschließt diesen Abschnitt.

Den Theologen interessiert der Teil über den theologisch
-politischen Traktat am meisten. Der Bibelkritiker
Spinoza erscheint im Rahmen der bibelkritischen Bemühungen
jener Tage. Die Darstellung der zeitgenös-

j sischen Bibelkritik auf rund 150 Seiten ist — ganz unabhängig
von der Spinozafrage — eine wissenschaftliche

| Leistung, für die man nur dankbar sein kann. Gegenüber

j einer allzuradikalen Bibelkritik erscheint Spinoza geradezu
„altständig". Die Einzelprobleme der Bibelkritik (Pen-

i tateuchfrage, Propheten, Wunder, Inspiration usw.) werden
herausgestellt und die Stellung Spinozas auf dem
Hintergrund seiner Anreger dargelegt. Der Verfasser
lenkt dabei den Blick vor allem auf die methodologischen

I Probleme, weniger auf die inhaltlichen Stellungnahmen,
die damals natürlich nur erste Anfänge waren und
heute weithin überholt sind.

Die Darstellung der „Ethik" arbeitet die großen
in der Ethik erörterten Probleme heraus: Substanz, Substanz
und Attribute, Modi, der unendliche Verstand und
die unendliche Idee, die Affektenlehre. Auf viele Ein-

J zelheiten fällt dabei durch die Beleuchtung von der
zeitgenössischen Lage aus neues Licht. Da ist beson-

j ders beachtlich die eingehende Beleuchtung der Unitarier

! und ihrer Bedeutung für Spinozas Stellung, ferner seine

I Hineinstellung in die Diskussion der Immanenzfrage.
Man muß das in dem Buche selber nachlesen.

Zu allem werden wieder auf mehr als hundert Seiten

| Kleindruck die Belege gegeben, die viel seltenes und
schwer zu erreichendes Material erschließen, vor allein

! aber immer wieder die Auseinandersetzung zwischen
Spinoza und den Ideen seiner Zeit verdeutlichen.

Das Gesamtwerk liegt jetzt in vier großen Bänden
abgeschlossen vor. Es hat die Schwäche, die solchem
im Lauf von Jahren fortschreitend entstandenen Werk
erklärlicherweise leicht anhaften, daß gewisse Licblings-
gedanken des Verfassers in den verschiedenen Händen
wiederholt werden, es läßt wohl auch die systematische
Linie in der Fülle des geistesgeschichtlichen Stoffs etwas
stärker verblassen, als es erwünscht wäre. Eine Neuauf-
läge könnte hier straffen und unterstreichen. Es ist aber

I das entscheidende Verdienst des Buches, daß es die Gestalt
Spinozas aus der Fülle des Lebens erstehen läßt,

■ und daß es diese Fülle des Lebens mit verschwenderi-

! scher Freigebigkeit vor uns ausbreitet.

Lanz (Westprignitz). Kurl Kesseler.

Jaspers, Karl: Existenzphilosophie. Drei Vorlesungen gehalten
am Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt a. M./September 1937.
Berlin: W. de Gruyter & Co. 1938. (86 S.) 8". RM 3.60.

Die kleine Schrift ist ein recht gelungener Versuch,
an einigen Beispielen klar zu machen, was Existenzphilosophie
ist. Am Begriff des „Umgreifenden" wird
gezeigt, daß das Sein umfassender ist als das Sein
j der dinglichen und persönlichen Wirklichkeit des Ta-
; ges, mit dem es die Wissenschaft zu tun hat, und das
' von ihr vor aller Philosophie erkannt werden muß. Das
| Umgreifende ist der keiner Ableitung fähige, nur in
! der Begegnung mit ihm zu erfassende Seinshintergrund,
aus dem die einzelnen Seinstatsachen ans Licht treten,
j uns entgegenkommen, ohne daß wir je das Ganze des
Seins erkennen könnten. Aus der Welt kommen die
Weltdinge auf uns zu, aus unserer persönlichen Existenz
: die Inhalte unseres Lebens. So schreitet also die Philo-
■ sophic über alles Seinswissen der Wissenschaft vor zu
dem allein einzelnen Sein vorgegebenen, es tragenden
' umgreifenden Sein. „Das Philosophieren in den Weisen
j des Umgreifenden ist Sache eines Entschlusses. Es ist
der Entschluß des Seinswillens, sich zu lösen von allem
bestimmten Seinswissen, nachdem ich es in seiner Präg-
j nanz angeeignet habe, damit in Wahrheit das Sein selbst
zu mir kommen könne".

Der Weg zu diesem Sein ist der Weg der Wahrheit.
| Damit ist nicht die Wahrheit der Lebenspraxis, auch
! nicht die Wahrheit der systematischen Erkenntnis gc-
- meint, sondern das Offensein für das Letzte, das in
allem einzelnen immer auf uns zukommt, ohne daß wir