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Ausgabe:

1939

Spalte:

464-469

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bohatec, Josef

Titel/Untertitel:

Die Religionsphilosophie Kants in der "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" 1939

Rezensent:

Karowski, Walter

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Theologische Literaturzeitun»; 1939 Nr. 12

464

seine Herrschaft über den Leib durch das Wort und Predigtaml aus.
Der Organismusgedanke ist dann auch folgerichtiger als bei Luther
die Grundlage für die calvinische Kirchenverfassung geworden, in der
Calvin die Einheit des ministerium mit der .Mehrheit gliedlicher Ämter
verbindet. Dabei ist nicht etwa ein gesetzlich verstandener Bibelbuchstabe
, sondern der von Gott in Christus geschaffene Organismus
maßgebend, dem die Verfassung sich anpaßt. Das Einende und Differenzierende
ist der Geist Gottes, der den kirchlichen Organismus zur
Pncumatokratie im eigentlichen Sinne macht. Die kirchlichen Ämter
sind ,,pneumatisch-charismatische Ämter" (S. 430) die Verfassung
ist „die Form und Gestalt, die sich der Geist gibt" (S. 441), die
darin selbst auf die Pneumatokratie hinweist, daß sie keinem Amte
absolute Vollmacht gibt, sondern die Ämter gliedlich und die Aints-
träger wieder kollegial gegen einander begrenzt, aber auch, etwa im
Wahlmodus, die Amtsträger durch die Gesamtgemeinde, wenn sie auch
als Vertreter des kirchlichen Organismus ein Übergewicht gegenüber
der Gesamtgemeinde behalten. Die Obrigkeit hat in der Kirche ebenso
wie bei Luther als hervorragendes Glied eine, wenn auch nicht ausschlaggebende
Funktion bei der Predigerwahl. Die Kirchenordnungen sind
nach Calvin menschlich und göttlich zugleich, göttlich als In der
Schrift vorgeschriebene allgemeine Regel des decorum et ordo (S.
530), menschlich aber in den konkreten der Lage angepaßten Einzelbe-
stimmungen. Die Kirchenzucht bei Calvin ist nicht, wie Sohm behauptet
, ein weltlich-rechtlicher, sondern ein seelsorgerlichcr Akt als
Moment der Verkündigung, wie überhaupt das Ordnungsrecht der Kirche
kein mit Zwangsgewalt ausgestattetes weltliches, sondern ein
pneumatisches Recht des Wortes und der Seelsorge ist, „die Regel des
organisch-pneumatischen Wollens in der Kirche" (S. 569), das Freiheit
voraussetzt und dessen Substanz der Wille Gottes in Gesetz und
Evangelium ist.

Entscheidend für die Sozialethik Calvins ist ja nun,
in welchem Verhältnis er den Staatsorganismus und den
Kirchenorganismus zueinander sieht. Das Mittelalter
kannte nur den einen christlichen Gesellschaftskörper,
der Kirche und Menschheit zugleich ist und von der
geistlichen und weltlichen Gewalt in einem freilich nicht
geklarten Verhältnis zueinander regiert wird. B. zeigt
hier richtig, daß Calvin einen christlichen Gesellschaftsorganismus
, der weltliche und geistliche Gewalt umfaßt,
ein corpus christianum nicht kennt. Der Menschheitsorganismus
auf Grund der Schöpfung und das corpus
Christi mysticum werden von ihm ausdrücklich unterschieden
. Ebenso lehnt Calvin eine theokratische
Staatsbeherrschung durch die Kirche wie das Staats-
kirchentum ab. Der Staatsorganismus wird vom Kirchenkörper
zwar klar unterschieden, was aber die
mannigfachen wechselseitigen Beziehungen nicht ausschließt
. Daher kann man von einer Gliedschaft
der Obrigkeit am Kirchenkörper reden (vgl. S. 617).
Dem Verf. liegt daran, bei Calvin überhaupt die soziologisch
-organische Einheit von Kirche und Staat herauszuarbeiten
. Die letzte Einheit von Kirche und Staat liegt
aber vielmehr darin, wie mir richtiger formuliert erscheint
(vgl. S. 647 A. 54 gegen Troeltsch), daß sie
beide regimina Gottes sind und, sofern sie beide mit
göttlicher Autorität bekleidet sind, von allen Menschen
Unterordnung verlangen. Während aber der Staatsorganismus
grundsätzlich alle Menschen als Untertanen umfaßt
, erstreckt sich der Kirchenkörper nur auf die Christen
. Im Übrigen bezieht sich das geistliche Regiment
auf den inneren Menschen, das staatliche auf den äußeren
. Außerdem haben beide, in ihrer Weise der Befolgung
des göttlichen Gesetzes zu dienen. Sie sind beide,
obwohl einander entgegengesetzt wie Feuer und Wasser,
aufeinander angewiesen.

Einen großen und inhaltreichen Abschnitt hat B. der
Berufs- und Stände-Ethik Calvins gewidmet. Die Dreiständeordnung
Luthers vertritt Calvin nicht, jeder weltliche
Beruf ist bei ihm bezogen auf die Nächstenliebe
im Dienst der Gemeinschaft, d. h. des Staatsvolkes
(S. 645). Auch hier weist der Verf. wie bei dem
Staats- und Kirchenverständnis die Verbindung des Über-
ordnungs- und Autoritätsverhältnisses mit dem Bruderschaftsgedanken
nach. Aber hier fragt man sich, ob
wirklich Calvin den Staat als „Zweckeinheit" der Berufe
hinstellt (S. 647). B. findet dafür bei ihm selbst
keinerlei Beleg.

Memel Werner Wiesner

Bohatec, Prof. Josef: Die Religionsphilosophie Kants in der
„Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft". Mit

besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch-dogmatischen Quellen.
Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag 1938. (643 S.) 8°. RM 28—.
Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man einer Untersuchung
über die Religionsphilosophie Kants nur dann
einen Anspruch auf wissenschaftlichen Wert zubilligen
will, wenn es ihr gelingt, die geschichtlichen Zusammenhänge
darzulegen und zu klären. Mit diesem Anspruch
ist der Wiener Systematiker Josef Bohatec an Kants
Religionsphilosophie herangetreten, und so ist denn sein
Buch ein ganz und gar historisches geworden. Es handelt
sich in ihm um die Erkenntnis der Einbettung der
Religionsphilosophie Kants in zeitgeschichtliche Zusammenhänge
. Näher gesehen geht es um die Aufzeigung
von Verbindungslinien der „Religion innerhalb der Grenzen
der bloßen Vernunft" zur zeitgenössischen Theologie
und Philosophie. Daß dies bis heute Desiderat ist,,
wird der Kenner nicht leugnen. Ernst Troeltsch hat im
Jahre 1904 in seiner Untersuchung über „Das Historische
in Kants Religionsphilosophie" darauf aufmerksam
gemacht. Aus Warda, der die Bücher, die Immanuel
Kant in seiner Bibliothek hatte, nach Disziplinen aufführte
, ist bei den Abschnitten VII Rechtswissenscliait,
IX Theologie und X Philosophie und Pädagogik nur
sehr wenig zu entnehmen. So hat sich denn Bohatec an
eine Notiz Borowskis gehalten, der in seiner „Darstellung
des Lebens und Charakters I. Kants" 1814, S.
171 ff. erwähnt, daß Kant die „Grundlegung zur wahren
Religion" von Johann Friedrich Stapfer gelesen habe.
I An diese anekdotenhafte Notiz hat Bohatec das Problem
seines Buches gehängt, das somit folgendermaßen
zu formulieren wäre: Hat Kant in seiner Religionsschrift
die Dogmatik des Schweizer Theologen J. F. Stapfer
in dessen „Grundlegung zur wahren Religion" 1747 bis
1753 verwertet? Wie hat er sich auf sie gestützt? An
welchen Punkten ist er von ihr abgewichen? Daß da-
I neben auch noch andere theologisch-dogmatische Quel-
] len von dem nur selten historisches Quellenmaterial an-
j führenden Kant beachtet wurden, spielt neben der Be-
! nutzung Stapfers eine mindere Rolle. So steht denn am
j Anfang der neuen Untersuchung zur Kantischen Reli-
I gionsphilosophie die These: „Kant hat tatsächlich Stap-
fers „Grundlegung" sowie dessen „Sittenlehre" nicht
nur gelesen, sondern auch auf sich wirken lassen. Er
[ verdankt diesen Schriften die Kenntnis der dogmatischen
Gedankengänge, sofern diese in den Gesichtskreis
seiner moralischen Umdeutung getreten sind. . .
Die Formulierung und z. T. auch die Lösung der Probleme
verrät deutlich die Abhängigkeit von Stapfer,
soweit sich diese nicht auf andere maßgebende Systema-
j tiker, die wir noch kennenlernen werden, zurückführen
läßt" (a.a.O. S. 29). Vorausblickend auf das Ziel werden
wir hier schon sagen müssen, daß es Bohatec in
| einer überraschenden Weise gelungen ist, uns einen
! Kant vorzuführen, der in engster Anlehnung an die
I zeitgenössische systematische Theologie des 18. Jahrhunderts
— wenn auch in steter Auseinandersetzung
1 mit ihr — seine religionsphilosophischen Gedanken vor-
, trägt. Die These des Buches wird am Ende seiner Lektüre
als erwiesen betrachtet werden müssen.

Im zweiten Abschnitt (die Tendenz der Religion
I innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft) und im
j dritten Abschnitt (Vernunft und Offenbarung) arbeitet
j sich Bohatec an die Religionsschrift Kants heran. Als
Tendenz wird eine Koalition der biblisch-dogmatischen
Theologie und der reinen Philosophie betrachtet. Diese
Synthese vermag das Erbe des Protestantismus in der
i gesamten Welt Kants zu umreißen: 1) Die Unterschei-
i dung von natürlicher und geoffenbarter Religion ent-
! nimmt Kant Stapfer und Baumgarten. 2) Die Verknüpfung
des Pflichtgedankens mit dein Religionsbegriff, die
zur Kantischen Religionsdefinition „die Religion ist die
i Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote" (VI.
Bd. der Akademieausgabe von Kants Werken S. 153)