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Ausgabe:

1939 Nr. 11

Spalte:

422-424

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kolfhaus, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Christusgemeinschaft bei Johannes Calvin 1939

Rezensent:

Gloede, Günter

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 11

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sie zielt der Wille des Menschen, weil die Einheit
des Menschen nicht autark, sondern des Grundnehmens
an Anderem, also des Transzendierens zu ihm, bedürftig
ist (35). Die miseria ist in allem das Gegenstück
: ruht auf schuldhafter ignorantia (die gerade sich
selbst für das Licht hält), auf vanitas (dem Trauen
auf das weltlich Seiende, das in seiner Gebrechlichkeit
zur Seinsrettung untauglich ist), auf der delectatio an
zeitlichem Gut, die mit Todesangst und „Unheimlich-
keit" einhergeht (41—47). Ein sich selbst nicht genügendes
Sein hat die Möglichkeit der Privation, des
Zurückbleibens hinter dem Ideal, des malum (47).
Die possibilitas mali ist die Potenz der Geschöpfe,
durch eine äußere oder innere Ursache im Seinszustand
verschlechtert zu werden; sie ist also die negative Hälfte
der (auch die Verbesserungsmöglichkeit einschließenden)
Wandelbarkeit (55). Der Mensch ist Substanz (per se
subsistens), und zwar eine natürliche, keine artitizielle;
die Künste (z. B. Baukunst) gründen schon in der
Natur des Menschen als eines bedürftigen (z. B. des
Obdachs bedürftigen) Wesens (64,69). Da bei Augustin
die ideelle Präexistenz in einem Verstände sehr nachdrücklich
auch für die Naturdinge als Schöpfungen Gottes
hervorgehoben wird, gewinnt bei ihm das Schema
der Kunst vor der Natur einen gewissen Vorrang (70).
Um ihr Sein zu bewahren, muß die Substanz Mensch, die
ja nicht autark ist, Akzidenzen aus sich heraussetzen
. Qualitative Akzidenzen sind die Vermögen (po-
tentiae animae) und die von ihnen gewirkten Zustünde
(affectio im vegetativen, affectus im sensitiven, habt-
tus im intellektiven Bereiche). Die Vermögen erstreben
die Seinsrettung der Substanz durch Gestaltung von
Zuständen, in denen ein transsubjektives Material (Nah-
rungs-, Wahrnehmungs-, geistiges Material) in seiner
Förderlichkeit oder Verderblichkeit erfahren und entsprechend
verwertet ist: sanitas — laetitia — sa-
pientia et virtus (81, 88—95). Durch die Aufnahme
transzendenten Materials gewinnt die Substanz Quantität
: die körperliche Substanz Größe der Masse (durch
Nahrung), die geistige Größe der Vollkommenheit (virtus
; durch Empfindung und Wissen der Tauglichkeiten
fremden Seins) (96—8). Die Vermögen stellen Relationen
zu transzendent Seiendem her, um den eigenen Mangel
zu beheben und das Sein zu retten (100f.) Die mu-
t a t i o ist der Umschlag von einem Seinszustand in den
andern, also ein Wechsel der Reiationsart (Haben —
Nichthaben) zu förderlichem Seienden (102 t.); ihre
transzendente Ursache ist die Eigenbewegung (Sichbieten
und Sichentziehen) des fremden Seienden, ihre
immanente Ursache die Inkonstanz der potentia animae,
die ihren eigenen Kraftschwund ständig an Transzendentem
(an Gott und den Weltdingen) zu ergänzen suchen
muß; die Inkonstanz ist Folge des hochmütigen Abfalls
vom göttlichen Seinsgrund (103—6). Akzidentali-
tät (Bezugnahme auf anderes Seiendes) und Mutabilität
(Inkonstanz dieser Beziehungen) gründen also in der
indigentia (der Angewiesenheit auf rettendes Seiendes
) (108—11). Diese ist das Gegenstück der göttlichen
sufiieientia; sie gliedert sich nach den drei Transzen-
dentien (112 f.). Das unum, die Seinslage (Abhängigkeit
von Anderem) hat dabei den Primat; sie ermöglicht und
bestimmt erst Sicht und Streben (122): die Einheit
des Menschen ist eben, als Zusammensetzung aus Form
(Vermögen) und Materie (benötigtem Fremdem) indigent
und zerfallsfähig (123 f.). Die possibilitas mali wurzelt
also in der mutabilitas, diese, soweit wir das Mutable
in sich betrachten, in der indigentia, der Angewiesenheit
der Form auf Materie (128). Sehen wir die mutabilitas
relativ auf die Ursache der mutablen Substanz, so präsentiert
sich als ihr Grund das Geschaffen sein
von Gott aus dem Nichts. Das Nichts ist nicht
etwa Materialgrund (materia coaeterna), nicht Träger
irgendeiner, wenn auch nur passiven Potenz (131 f.);
aus dem Nichts heißt: nicht von Gottes Wesen (de Deo)
sein; wie der Manichäismus sind auch Pantheismus

I unu Emanation abgewiesen zugunsten des Gesetztseins
i in der Zeit (135 f.) seitens der göttlichen Allmacht
(137). Setzung durch Gott und Erhaltungsbedürftigkeit
durch ihn besagen aber schon das Nicht-per-se-Sein
und damit die indigentia (137—9).

So laufen in den Begriffen Wandelbarkeit, Ungenüge
und Geschaffensein die Fäden der augustinischen On-
tologie zusammen, die durchaus systematisch ist:
das Augustinische System ist „keine gewaltsame Er-
: findung der Interpreten", sondern in ihm selbst wirksam
(140), was S.s Buch in der Tat deutlich macht.
Das Recht, dieses Buch auch im systematischen (nicht
historischen) Interesse zu schreiben, gründet in S.s
„Glauben, daß A. die Sachen gesehen hat, . . . daß
A. und seine Ontologie modern sind" (141). Die bei
A. unmögliche Auseinanderreißung von Ontologie und
Theologie (beide gehören als laudatio Dei zusammen,
die ja das Erkennen dessen, was Gott gegeben hat,
einschließt, 18) „kann ... als das Unglück der Moderne
angesehen werden" (142). Die durchhaltenden
ontologischen Begriffe — die Transzendentien (unum,
verum bonum in ihrer Konvertibilität mit dem ens);
die vier Gründe (Materie, Form, Beweger und Zweck);
das Schema Substanz — Akzidens (Qualität, Quantität
, Relation); die ideelle Präexistenz des Produkts
im Geiste des Herstellers u. a. m. — sind durchweg
aristotelisches Lehrgut, dessen Bedeutung für
Augustin von der bisherigen am Neuplatonismus orientierten
Forschung viel zu wenig beachtet wurde (16,
141). Freilich wäre zu bedenken, daß gerade die hier
verwendeten aristotelischen Lehrstücke auch vom Neuplatonismus
weitgehend festgehalten worden sind; am
Wiedererkennen des Aristoteles lassen es eben auch
schon die Plotindarsteller hie und da fehlen! Im Anthropologischen
verrät und bekennt (15 Anm. 3) S. entscheidende
Anregungen von Heidegger (der ja selbst
von Augustin herkommt, Sein u. Zeit 199 Anm. 1), ohne
ihm bedingungslos zu folgen (so z. B. nicht darin, daß
„das Nichts nichtet", 133). S.s Buch bestätigt, was
schon Bröckers „Aristoteles" (1935, dieselbe Sammlung)
erkennen ließ: daß Heideggers Perspektiven unter der
Feder seiner Schüler klarer, überzeugender und auch.für
historische Interpretationen fruchtbarer werden als un-
| ter seiner eigenen. — In einer Zeit, in der uns die
| Selbstbehauptung als Lebenssinn (fast zum Ueberdruß)
nahegebracht wird, ist es höchst heilsam, zu zeigen,
I daß die christliche Lebensdeutung diese Sinnbestimmung
I vollständig anerkennt, freilich aber ihre Erfüllung nur im
I Grundnehmen an dem transzendenten Schöpfergott als
j möglich begreift.

Berlin Helfried Hart mann

l

Holthaus, W.: Christusgemeinschaft bei Johannes Calvin.

Neukirchen Kr. Moers: Buchh. d. Erziehungsvereins [1930). (150 S.)
8° = Beitr. z. Geschichte u. Lehre d. Reform. Kirche, 3. Band. RM 4.20.
Dieses Buch ist ein notwendiger Dienst an Calvin.
Sein wahres Gesicht wird erst — man möchte sagen —
schichtweise von den landläufigen Überlagerungen durcli
eine vom Rationalismus eingegebene Antipathie gegen
diesen Jünger Jesu und geistesmächtigen Vorkämpfer
der Reformation zu befreien sein. Ein Stück Befreiungsarbeit
stellt auch diese Monographie dar. Sie erscheint
1 in einer Reihe des heutigen Reformiertentums. Dennoch
weiß der Verf. darum (S. 60), daß solches und
Calvin selber in der Geschichte nicht immer identische
I Größen sind.

Eine längere briefliche Darlegung, in der Calvin
! selber mit der ihm eigentümlichen Kurze und Raffung
das ganze Problem der Christusgemeinschaft einem Mit-
j arbeiter darlegt, leitet sehr günstig die weitere Dar-
, Stellung ein. Eine klargegliederte Unterteilung der Stu-
j die erhöht ihren Wert sehr und macht sie daher auch
j wohl der Gemeinde lesbar, wie es der Wunsch des Verf.
i ist. In Kauf genommen werden muß dabei aber ein wis-