Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1939 Nr. 11

Spalte:

414-416

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Buehler, Johannes

Titel/Untertitel:

Deutsche Geschichte 1939

Rezensent:

Vorwahl, Heinrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

413

Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 11

414

jeglichen Versuch, an dem chalcedonensischen Beschluß
zu rütteln, für verderblich und häretisch erklären, was
z. B. offensichtlich die Meinung des Verf.s ist. Legt
man indes einen weiteren geschichtlichen Maßstab an,
so muß man zu dem Schluß kommen, daß die von Mar-
cian und Pulcheria erzwungene Entscheidung ebenso
wie die von Nicäa 325 für Reich und Kirche in gleicher
Weise unglücklich war: Denn beide führten einen
Zustand herbei, der nicht erheblich ruhiger war als der
beseitigte, der vielmehr zu Explosionen führen mußte.
Ließ sich der „Arianismus" schließlich doch ohne dauernden
" Schaden ausschalten, so führte der Weg von Chal-
cedon letztlich zur Zersplitterung des byzantischen Reiches
im Ansturm des Islam.

Die erste Explosion erfolgte schon 457, als auf die
Nachricht von dem Tode Marcians hin der von ihm
dem alexandr. Volk aufgezwungene Patriarch Proterius
ermordet wurde. Im Nu entbrennt unter Führung des
Timotheus Älurus der Kampf gegen Chalcedon, der
durch die Appellation beider ägyptischen Parteien an
den neuen Kaiser Leo, durch das Eingreifen des Papstes
und durch das seit Konstantin gewohnte Inein-
anderspielen von Reichs- und Kirchenpolitik eine unheimliche
Spannung erhielt. Kaiser Leo wählte in dieser
Lage den ungewöhnlichen Weg einer Umfrage an
alle Bischöfe über Chalcedon und Timotheus, wozu
Anatolius von Konstantinopel den nötigen Wink hinzufügte
. Nur eine Antwort fiel gegen Chalcedon aus!
Wie war es dazu gekommen? Was ergeben die Quellen
und was vor allem der Codex encyclius (CE), d. i. die
amtliche Briefsammlung der Anfrage und der Antworten
, zur Beurteilung dieser Frage?

In dieses Problem führt die Dissertation des Verf.s.
Mit großer Eindringlichkeit geht sie dem CE zu Leibe
und beschäftigt sich in 2 Teilen mit seiner „Geschichtlichen
Bedeutung" und seinem „Inhalt" (wodurch indes
nur der 1. Teil gekennzeichnet ist). Nachdem Ed.
Schwartz vor kurzem den Text des CE in den Konzilsakten
herausgegeben hat (Bd. 11,5; s. Th. L. Z. 1937,
10—12), war eine solche Untersuchung durchaus am
Platze. Der Verf. beginnt nun damit, daß er den Verlauf
des Streites von 457/8 ausführlich darlegt und
sowohl die Bedeutung dieses Weges, von einer neuen
Gesamtsynode abzusehen und von den Provinzialsyno-
den Urteile einzuholen, als auch den Wert der Entscheidung
dieser Synoden für den Fortgang der Kirchengeschichte
hervorhebt. Der Abschnitt über die Textgeschichte
ist äußerst knapp gehalten und bringt (gegen
Schwartz) den Beweis, daß es vor der lateinischen Übersetzung
durch Epiphanius schon eine ältere gegeben
habe.

Die Zusammenstellung der wichtigsten Quellen über
den Hergang des Streites ist ebenso dankenswert, wie
der Blick auf das Arbeiten der Provinzialsynoden im
5. Jahrhundert. Als immer noch ungeklärt erscheint der
eigentliche Grund zur Einholung der Urteile auf so
ungewohnte Weise. G. Krügers Meinung (Monophysit.
Streitigkeiten, 1886, S. 95) ist auch heute noch die wahrscheinlichste
: Anatolius habe aus Sorge um den 451
errungenen Vorrang Konstantinopels im Osten dem Kaiser
den Gedanken nahegelegt, von einer allgemeinen
Synode abzusehen und von allen Bischöfen Schreiben
einzufordern. So daß der 28. Kanon Chalcedon damals
gerettet hat. Denn Anatolius war im Herzen „Monophysit
". Es ging ihm jetzt aber wie dem Papste und
Timotheus im Grunde um die Macht des Patriarchates!
Der Kaiser mußte das Reich durch diese Scylla und
Charybdis hindurchführen. Seine Sorge um den Verlust
Ägyptens war nicht unberechtigt. — Auch die andere
Frage, was denn der Grund zur endlichen Entfernung
des Timotheus gewesen ist, harrt noch der Lösung.
Die Entscheidung des CE war es nicht! Er wurde
erst 460 exiliert. Daß die Politik hineinspielte — er
besaß mächtige politische Freunde — ist sicher. —

i Der Verf. neigt im übrigen in allzustarkem Maße der
Meinung zu, die Anerkennung Chalcedons sei allenthalben
freiwillig erfolgt. Damit unterschätzt er sicherlich
den Einfluß des Anastasius. Die Masse folgte dem Wink

! des Hofes jetzt ebenso „freiwillig" wie später unter
Basiliskos und Zenon.

Der 2. Teil enthält im Grunde ein nach allen Seiten
hin ausgeführtes Lob auf Chalcedon und eine Hymne
auf die Politik und den Kirchengedanken der römischen

| Kirche. Als Wurzel des ganzen „monophysitischen

I Übels" erscheint eine vollständige Verkennung der kirchlichen
Autorität (S. 127). Dem Papst als dem Oberhaupt

I des Leibes Christi wird in Schwarz-Weiß-Malerei der
ganze „Häresienschwarm" gegenüber gestellt, und diese
dauernde Befangenheit ist gewollt. Dementsprechend
schließt diese allzu kleinlich anmutende Klassifizierung
in Kirche und Ketzer mit einem Zitat des Kardinals
Newman, in dem dieser die Notwendigkeit darlegt, daß
ein nicht zur römischen Kirche Gehöriger zwangsläufig
in allem Häretiker ist, wie im 5., so im 16. und 19.

j Jahrhundert. Von hier aus beschattet der „Lorbeer
der Gregorianischen Universität" auch den ersten Teil,
so daß der eine dem Stoff angemessene historische
Methode erwartende Leser stark enttäuscht wird.
Berlin-Niederschönhausen G. Gentz

KIRCHENGESCHICHTE: MITTELALTER

Bö hl er, Johannes: Deutsche Geschichte. I. Bd.: Urzeit, Bauerntum
, Aristokratie (VIII, 413 S., 16 Taf., 4Ktn.); II. Bd.: Fürsten.
Ritterschaft und Bürgertum von 1100 bis um 1500 (IX, 423 S., 8 Taf.),
! Je RM 7.20; III. Bd.: Das Reformationszeitalter. (VII, 500 S., 16 Taf..
| gr. 8°. Berlin: W. de Gruyter 1934—1938. RM 8.20)

Der erste Band von Bühlers Deutscher Geschichte
j führt von der Altsteinzeit bis über das erste Jahrtausend
nach Christus hinaus und gewinnt damit dem Stoff eine
j besondere Note ab, daß diese meist mehrfach aufge-
| spaltene Zeitspanne einmal im Zusammenhang darge-
J stellt wird. Das rassische Element kann nach Bühler
I nicht der Ausgangspunkt für die geschichtliche Entwicklung
sein, da eine klare Scheidung des Wirkungswertes
der Rasse von den übrigen Geschichtsfaktoren
I nicht annähernd möglich, zweitens in den in Betracht
kommenden Gebieten zu keiner Zeit die Geschichte von
I Menschengruppen reiner Rassen gestaltet sei. Bei der
etwas knappen Behandlung der Vorzeit bleibt der Ver-
I fasser im Rahmen der Chronologie, wie sie von Mon-
! telius begründet wurde, und widerspricht der angeblich
astronomischen Orientierung der Steinsetzungen. Charakteristisch
für Bühlers Werk ist die Anschauung, daß
j die Wirksamkeit der christlichen Kirche für das Volks-
j ganze ungemein segensreich war. Sie fand nicht zuletzt
j als Erbin der Antike Aufnahme bei den germanischen
Völkern. Indem die Kleriker stark mit politischen Aufgaben
betraut wurden, vollzog sich der organische Einbau
der Kirche in das Staatsleben. So werden die gängigen
Schlagworte über Bonifatius und Karl als Anaenronismen
zurückgewiesen, Karl vielmehr auf Grund seiner
fälischen Merkmale als Germane bezeichnet. Wenn allerdings
von Konrad I. bis Heinrich III. die Kapitel den
| einzelnen Herrschern entsprechen, wird deutlich, daß
der Weg von der biographischen zur politischen Erfassung
unserer Geschichte bei Bühler nicht ganz durchmessen
ist. Denn auf diese Weise wird verdeckt, wo die
großen Wendepunkte liegen. Ein Abschnitt über die
Kultur des bäuerlich-aristokratischen Zeitalters ist unorganisch
eingefügt, denn einmal müßte er durch die
Niederlassung der Germanen auf römischem Reichsboden
in zwei Teile zerfallen, zweitens aber vermag er
nicht sichtbar zu machen, wie und wo diese Kultur den
politischen Ablauf bedingt hat bezw. durch ihn bedingt
ist.