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Ausgabe:

1939 Nr. 10

Spalte:

389

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Jaspers, Ludger

Titel/Untertitel:

Der Begriff der menschlichen Situation in der Existenzphilosophie von Karl Jaspers 1939

Rezensent:

Zeltner, Hermann

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389

Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 10

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der Verdienstlichkeit und der Aufbereitung für die Über- ! „soweit nicht bereits das Gericht der Verstockung ver-

natur verknüpft. „Die Askese ist nach dem Sündenfall hängt ist" (! Seite V).

die uns gemäße Lebensform. Sie ist unser verdienstlicher ! A. F. C. Vilmar wird nicht müde zu betonen, daß die

Beitrag zur Wiedererlangung der Heiligkeit ..... Alles I Kirche nicht von der Beschaffenheit ihrer Mitglieder

übernatürliche Leben in uns setzt ein Opfer am und im j zur Existenz gebracht, sondern von Christi Gegenwart

natürlichen Leben voraus. Es gibt keine Vollkommenheit, konstituiert wird: Die Kirche ist der Leib Christi in

■die nicht durch Sterben von uns miterworben wäre", seiner Herrlichkeit. So sieht Vilmar in der Kirchenge-

Man wird aber ganz abgesehen von dieser dogmatischen schichte eine fest bestimmte, vom heiligen Geist ange-

Bindung viel Wahres in den Ausführungen des Verfas- ordnete Entwicklung der Kirche, in der die Welt auf das

sers finden, die weitgehend dem Goetheschen „Stirb < regnum gloriae vorbereitet wird. Die Signatur der gegen-

und Werde" nahekommen. Jedenfalls wird auch der j wärtigen Zeit sei die der Scheidung, wodurch die neue

Protestant dem Verfasser darin zustimmen, daß kein Stunde der Kirche gegeben sei. Die Theologie müsse

Mensch reif werden und rein bleiben kann, ohne daß er ganz anders werden, oder vielmehr, sie sei in der bis-

die Kraft zur Entsagung aufbringt. Und es ist gut, daß herigen Form (als spekulierende, systematisierende, theo-

das wieder nachdrücklich eingeschärft wird, gleichviel
welches theologische System dabei im Hintergrund steht
Soweit über das Wesen der Askese. Was dann im

retisierende, doktrinäre!) abgetan für immer. Die Kontinuität
der Kirche müsse festgehalten werden: das Bekenntnis
! Neben den Abgefallenen sieht Vilmar in den

einzelnen zu den verschiedenen Formen und Stufen der ; „Halbglaubigen" eine besondere Gefahr, und diese fallen

Askese (Triebaskese, Naturaskese, Einsamkeitsaskese, As- i Jur »hn_ nilt deT Sc Y,ch * der V"lon zusam""eil.rd,lc. « fana;

kese der Treubindung) gesagt wird, das ist phänomeno- I *'sch .bekämpft. (Vilmars Zeugnis wurde Fleisch und

logisch bedeutsam. Auch darin wird man zustimmen, daß Blut in der s°g-, „Hessischen Renitenz * dessen Fuhrer,

die Askese für das persönliche Werden des Menschen dem Vater des Herausgebers das Werk gewidmet ist)

und für seine Eingliederung in Familie, Volk und Kirche
von größter Bedeutung ist. Nur daß freilich der Verfasser
— von seinem Standpunkt aus nur konsequent —
der Askese ihren letzten Möglichkeiten nach zuviel zutraut
, wenn er sagt: „Wenn wir durch die echte Askese
hindurchgegangen sind, sind wir wieder dessen fähig,
was uns durch die Erbsünde verloren gegangen war,
des reinen Opfers". Luther hat das anders erlebt. Ob
nicht auch mancher Katholik?
Lanz (Westpricgnitz) Kurt Kessel er

Jaspers, Dr. Ludger: Der Begriff der menschlichen Situation
in der Existenzphilosophie von Karl Jaspers. Würzburg: C. J.
Becker Univ.-Druck. 1936. (VIII, 93 S.) 8° = Abhandl. zur Philosophie
u. Psychologie der Religion, hrsg. v. O. Wunderle, H. 37. RM 3—.
Der Begriff der Situation ist für die moderne Philosophie
aus soziologisch-historischen Ursprüngen zu einem
Grundbegriff geworden. Für die existenzphilosophisch
entscheidenden Situationen (Tod, Kampf, Leiden, Schuld
usw.) hat Karl Jaspers den Begriff der Grenzsituationen
geschaffen. Eine genaue Analyse dieser Begriffe, wie sie
der Titel der vorliegenden Schrift zu versprechen scheint.

Eine wichtige Forderung Vilmars ist die Freiheit der
Kirche von der modernen Staatsgewalt, von dem „Regiment
derer, die selbst nichts glauben und zum Kirchen-
regimente weder göttlichen noch menschlichen Beruf
haben." Das Verhältnis der Kirche zur Welt bestimmt
sich nach Vilmar als Kampf gegen die Welt, aber auch:
u m die Welt. Kirche und Glauben seien auch das Licht
einer rechten Wissenschaft. Das interessanteste Stück
des Buches (S. 105 ff.) zeigt, wie Vilmar, der in den
entscheidenden Jahren seines Lebens Direktor des Gymnasiums
in Marburg war, das Verhältnis der Gymnasialstudien
zum christlichen Glauben und zur christlichen
Kirche sieht. „Die wahren Dienste und Vorteile
der klassischen Studien in Beziehung auf christlichen
Glauben und christliche Kirche aber liegen . . . darin,
daß wir uns in einer fremden Persönlichkeit wiederfinden
, uns an derselben erkennen lernen. Diese große
Wahrheit, durch welche alle Menschenbildung bedingt
ist, hat zwar in der Erhöhung allein ihre volle und
unbedingte Gültigkeit, leitet aber ihre Anwendung auch
auf alle untergeordneten Kreise, und wo sie irgend begriffen
, erkannt und geübt wird, da erhält die Erlösung

wäre eine lohnende Aufgabe. Aber hier wird die Rede " eASnÄ" dw Anerkennung." Die Mathematik

von der menschlichen Situation in einem mehr erbau- ^„l°mr^!^ a" em festes, gediegenes, wohlgeschlos-

licheu Sinn genommen, und so bekommen wir unter die- ^nesG*™* ,und macht a^h an den allerersten An-

ser Devise die ganze Jasperssche Existenzphilosophie | ,dle Forderungen einer Ganzheit und Vol-

referiert. Man snürt dieser Darstellung eine lebhafte le"dung »m Anschauen und Wissen, welche alle Unbe-

referiert. Man spürt dieser Darstellung eine lebhafte
innere Beteiligung an, neben der sich freilich auch eine
gewisse Voreingenommenheit von katholisch-theologischem
Standpunkt her geltend macht. Im Schlußabschnitt
wagt sich die Kritik in einigen entschiedeneren Einwän-

stimtnfheit und Ungewißheit, ja alles Hinausweisen auf
künftige Ergänzungen ausschließt"; sie leistet der christlichen
Kirche damit den Dienst, daß sie von der Halbheit
wegführt. Für die historischen Studien gilt: „Nur in-
den hervor, unter denen die Frage nach der Natur des sofern es eine Erlösung gibt, gibt es eine göttliche Weltphilosophischen
Seinsbewußtseinsg - höchste Aktivität ^"«jj. ^It /^TW^ ?

solche gibt, gibt es eine Welt- und Volker- und Menschengeschichte
." „Wo findet sich eine wahre und wirkliche
Psychologie als im Bereich der Theologie? Wo
findet die Kunde von der Seele ihren Boden, in dem sie
Wurzeln schlagen und aus dem sie ihr Wachstum und
und Gedeihen ziehen kann, wenn nicht in der kirchlichen
Wissenschaft? . . . Wer will auf diese Fragen eine Antwort
geben als die Weisheit, welche die Seele erkennet
als ein Abbild des, der da spricht: ,Ich bin, der ich sein
Wicke, Lic. Karl: A. F. C. Vilmars Zeugnis von der Kirche werde'". — Ausführliche Darlegungen Vilmars beschäf-
zusammengestellt und herausgegeben. Gütersloh: C. Bertelsmann 1937 j tigen sich mit der Gliederung und dem Organismus der
(XI, 177 S.) 8°. RM4 -;geb. 5-. I Kirche. Er lehnt das Streben nach einer (demokra-

Ohne Zweifel ist die Lehre Vilmars von der Kirche tischen) Gemeindeverfassung ab und unterscheidet die
für die gegenwärtige Theorie und Praxis von Bedeu- drei Berufsarten der Diener (Amt des Geistes), der
tung. So ist die vorliegende Zusammenstellung (in sinn- Jungfrauen (Amt der Seele) und der Gerechten, welche
voller und geschickter Anordnung und mit gutem verbin- i das Evangelium nicht nach außen verbreiten, sondern nur
denden Text) sehr zu begrüßen, umso mehr, als sie das j für sich und ihr Haus besitzen (Leib der Kirche),
heute Wesentliche bringt und als unmittelbares Zeugnis [ Ungefähr in dieser Folge ist von Wicke das Zeugin
unsere Zeit hineingeben will, — ein Zeugnis, für das nis Vilmars dargestellt. Mag im einzelnen vieles für uns
bei den Gliedern der Kirche das Ohr geöffnet sein werde, veraltet und unannehmbar sein —, der Botschaft Vilmars

oder mystische Gelassenheit? — wohl des Nachdenkens
wert ist.

Göttingen Herminn Zeltner

PRAKTISCHE THEOLOGIE