Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1939 Nr. 10

Spalte:

378-379

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Borgmann, Karl

Titel/Untertitel:

Der deutsche Religionsstreit der Jahre 1719/20 1939

Rezensent:

Lerche, Otto

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

377

Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 10

378

einige Aufgaben des Herrschers zusammengestellt, die sich aus der
Sonderstellung seines Amtes ergeben, wie sie dann in den Fürstenspiegeln
der Karolinger Zeit regelmäßig auftreten. Aber zwischen
ihnen und dem 1154 erschienenen „Polycraticus" Salis-
bury's sowie den weiteren englischen Fürstenspiegeln besteht kein
unmittelbarer Zusammenhang. „Der Herrscher", so ist der Titel
wohl zu deuten, hat als erste Abhandlung des Mittelalters mit umfassender
Erörterung staatsphilosophischer Fragen jahrhundertelang die
Staats- und Moralphilosophie beeinflußt und fand eine weite Verbreitung
, zuerst handschriftlich, später im Druck. Er möchte in
erster Linie die Verhältnisse am englischen Hof, im Sinn seiner
an der Bibel, den Kirchenvätern und heidnischer Philosophie geschulten
Ethik umgestalten, beansprucht darüber hinaus aber eine
nicht au die Gegenwart und nicht an einzelne Staaten gebundene Geltung
. Seine Staatslehre gipfelt in der Pflicht des Staates, seinen
Bürgern zum „höchsten Gut", der „Glückseligkeit" zu verhelfen, die
nicht durch irdische Güter erlangt wird, sondern durch Erfüllung
des i n der Bibel enthaltenen göttlichen Gesetzes in einem wahrhaft
sittlichen Leben, das gebunden ist an den Glauben und an die
göttliche Gnade. In diesem Sinne den Herrscher als die Verkörperung
des Staatswillcns zu beeinflussen, ist Salisburys letztes Ziel.
Das eigne Gewissen soll dem Herrscher für alle Entscheidungen Richtschnur
sein.

Der letzte große lateinisch geschriebene Fürstenspiegcl
des englischen Mittelalters, der bedeutsam über die kleineren Abhandlungen
verschiedener Verfasser emporragt, ist das im Jahre 1379
entstandene Werk von Wycliffe: „De Officio R e g i s". In engem
Zusammenhang mit den politischen und kirchlichen Verhältnissen Englands
stellt es konkrete politische Forderungen an den englischen
König, verlangt z. B. von ihm ein Verbot des noch von Salisbury
als göttliches Gesetz beurteilten römischen Rechts zugunsten des englischen
Gemeinderechts, von dem dann auch spätere Verfasser von
Fürstenspiegeln urteilen, daß es nicht im Widerspruch zu den Vorschriften
der Bibel stehe und dem göttlichen Gesetz nachdrücklicher
zur Erfüllung verhelfe als das römische. Daß der König den Ansprüchen
des verweltlichten Papsttums auf die englische Kirche entgegentrete
, erscheint Wycliffe als selbstverständliche Pflicht. Doch
höher als die Vertretung politischer und nationaler Interessen steht
ihm die Erfüllung des Sittengesetzes, und es sind die Theologen,
die festzustellen haben, ob des Königs Verhalten im Einklang steht
mit dem Gesetze Oottes; theologischer Rat ist für die Staatsführung
unumgänglich nötig. Die erzieherische Aufgabe des Königs an
seinem Volk hat einzusetzen bei der Kirche, zumal diese die Kraft
zur Reform selber nicht aufbringt. Denn der König stellt über der
Kirche. Nur in geistlicher Hinsicht steht sie über ihm. Wycliffcs
Schrift hatte nur in Böhmen eine längere Nachwirkung; in England
fiel sie dem Vernichtungsfeldzug anheim, den die Kirche gegen alle
Werke des ketzerischen Oxforder Doktors bald nach seinem Tode
eröffnete.

Die Aufforderung an den König, die Ketzer zu vernichten,
gehört seit dieser Zeit auf lange hinaus zum eisernen Bestand der
weiterhin erscheinenden Fürstenspiegel, die nun in englischer
Sprache erscheinen. Es sind Werke sehr verschiedener Art, teils nur
Ubersetzungen oder Bearbeitungen anerkannter lateinischer oder französischer
Texte. Denn „Fürstenspiegel" wurden, in Anknüpfung an
die Antike, allenthalben verfaßt, so, um nur einige zu erwähnen, von
den Italienern Vergerius und Clemens Sylvius, dem Niederländer
Erasmus, den Deutschen Mclanchthon und Sturm. Auch auf dem
Boden Schottlands entstanden sie, dort unpersönlicher und allgemeiner
als die englischen Werke. Aber die Orundforderung blieb, daß der
Herrscher Gott lieben solle durch die Tat, das heißt durch ein Leben
der Tugend. Daraus ergaben sich dann auch praktische Anweisungen
zur Hebung des Volkswohlstandes, z. B. durch Förderung der Wollverarbeitung
, um Beschäftigung und Verdienst zu beschaffen, und
durch Bekämpfung des Müßiggangs durch staatlichen Zwang zur Arbeit
. Und so sehr auch die Außenpolitik das Wohlergehen des englischen
Bürgers zu fördern hat, so haben doch auch rein politische
Entscheidungen nur nach ethischen Gesichtspunkten zu erfolgen, bis
zur gewissenhaften Erfüllung von Verträgen, selbst wenn dem Lande
dadurch Schaden entstehen sollte. Dadurch unterscheidet sich der wahre
Herrscher vom Tyrannen; für ersteren gibt es keine Interessenpolitik,
die sich über sittliche Gebote hinwegsetzt.

Das „B a s i 1 i k o n Doron" des Königs Jakob I. von England
aus dem Jahre 1598, das wohl um seines königlichen Verfassers
willen einen großen literarischen Erfolg hatte und auch in andere
Sprachen übersetzt wurde, beschließt die Reihe der im vorliegenden
Werk besprochenen Fürstenspiegel. Es ist bestimmt als
Anweisung für seinen ältesten Sohn, den Prinzen Heinrich, und behandelt
das für den Herrscher erforderliche Verhalten gegenüber
Kirche, Adel und Kaufmanns- und Handwerkerstand. Man liest da
von strenger Unterbindung aller Übergriffe der Kirche in die Machtsphäre
des Staates, von Einschränkung der Macht der großen Adeligen,
von staatlicher Handelspolitik mit gesetzlicher Preisregelung und
Heranziehung ausländischer Konkurrenz. Es handelt sich um prak-

)

I tische Methoden, die ebenso dem Volk wie dem König zum Nutzen
sind. Die sittlichen Gesichtspunkte liegen als selbstverständliche
i Norm allem zugrunde.

Unter Heranziehung und Benützung aller einschlägigen
Literatur hat der Verfasser in seinen von gründlichen
historischen Kenntnissen getragenen Ausführungen
I ein Werk geschaffen, das eine Fülle neuer Einblicke
schenkt und in der wissenschaftlichen Literatur eine beachtliche
Stelle einzunehmen berechtigt ist.
Dortmund Hermann Goetz

KIRCHENGESCHICHTE: NEUERE ZEIT

Borgmann, Dr. Karl: Der deutsche Religionsstreit der Jahre
1719/20. Berlin: Verlag f. Staatswissenschaften u. Geschichte 1937.
(133 S.) gr. 8° = Abhandlungen z. Mittl. u. Neueren Geschichte, hrsg.
v. Th. Mayer u. G. Ritter. Heft 80. RM. 6.80.

Die vorliegende Arbeit, in deren Mittelpunkte der
' Streit um die Hl. Geist-Kirche in Heidelberg steht,
ist vornehmlich aus den Akten der Staatsarchive in Hannover
und Berlin gearbeitet. Die Berichte der englischen,
kurbraunschweigischen und preußischen Gesandten in
Heidelberg, Regensburg und Wien, besonders Saint
Saphorins, Huldenbergs, Wrisbergs, Metternichs und
Burkards ergeben erstmalig benutztes Material in erstaunlicher
Fülle. Gewiß handelt es sich bei dem Streit
um die HI. Geist-Kirche in Heidelberg, bei der 80. Frage
des Heidelberger Katechismus, die das Abendmahl des
Herrn in der schärfsten Form der katholischen Messe
gegenüberstellte, und bei all den umstrittenen Auslegungen
der an sich schon genug umstrittenen Rijswijker
Klausel um Dinge mit ernstem, religiösem Hintergrunde.
Aber die Zeit war religiös keineswegs im Innersten bewegt
und dachte nicht an einen Religionskrieg.

Typisch für die Haltung der Zeit war das absolute
Unbeteiligtsein des Pfälzer Kurfürsten Karls III. (Karl
Philipp 1716—1742), der die Vorstellungen und Mahnungen
der protestantischen Stände des Reichs, die den
vertriebenen und bedrängten Glaubensgenossen in der
Pfalz zu ihrem Recht verhelfen wollten, erst dann zu
hören bereit war, wenn die Sache politisch bedenklich
für ihn wurde, wenn der Kaiser ernstlich zur Ordnung
rief und drohte, wenn Hannover-England und Preußen
nicht nur Repressalien (in Celle und Hamersleben) vornahmen
, sondern auch gefährlich mit den Waffen rasselten
. Die ganze Schwierigkeit der reichsdeutschen politischen
Lage bestand darin, daß der Satz des Augsburger
Religionstriedens „Cuius regio, eius religio" durch das
reichsrechtlich anerkannte Instrumentum pacis Osna-
brugensis keineswegs aus der Welt oder irgendwie abgeschafft
worden war. Für den pfälzischen Kurfürsten war
dieser alte bequeme Satz ein durchaus brauchbares Auskunftsmittel
; er behandelte die Religionsfrage als eine
Machtfrage, und als er der Übermacht der protestantischen
Gegner weichen mußte, als er den Anspruch auf
den Besitz der Hl. Geist-Kirche aufgeben mußte, da verließ
er in offenbarer Verärgerung über seine Residenz
Heidelberg auf immer. Man mag das entschuldigen
, vertuschen oder psychologisch erklären — in der
Rheinebene zu Mannheim hatte der Kurfürst bessere
Möglichkeiten für die Ausgestaltung und Verwirklichung
seiner Baupläne —: die Tatsache einer verlorenen politischen
Partie konnte die Pfälzer Regierung nicht wegleugnen
.

Auch alle weiteren Ergebnisse der Arbeit sind politisch
: die vortreffliche Charakterisierung der Wiener Politik
, die vom Reichsvizekanzler Friedrich Karl Grafen
v. Schönborn geschickt geleitet wurde; die schwerfällige
Berliner Diplomatie, die in allem dem voranschreitenden
Vetter von London-Hannover, oft ungeschickt genug,
nachfolgt; das leichtfertige Spiel mit dem Feuer eines
großen, langen und ausgedehnten Krieges, der ganz und
gar Kabinettskrieg gewesen wäre und der doch höchst-
| wahrscheinlich als Religionskrieg kostümiert werden