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Ausgabe:

1939 Nr. 10

Spalte:

375-376

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Haller, Johannes

Titel/Untertitel:

Der Eintritt der Germanen in die Geschichte 1939

Rezensent:

Opitz, Hans-Georg

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 10

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zu einem wesentlichen Faktor europäischer Geschichte
geworden. Mir liegt daran zunächst dieses Ergebnis des
Buches herauszustellen. Gerade für die Geschichte der
Religion und Kultur des Abendlandes im Frühmittelalter
ist es von größter Bedeutung die von außen wirkenden
politischen Kräfte zu erkennen und die politischen
Beziehungspunkte der religiösen und kulturellen Probleme
festzustellen. Scheel hat in seiner Darstellung
seine ungeheure forscherische Arbeit fast unsichtbar
gemacht. Keine Anmerkung, kein Zitat wird
angeführt; der epische Verlauf des Aufbruchs des
Nordens spricht aus sich selbst. Immerhin wird der
Mitforscher durch eine Fülle von Erörterungen zu einzelnen
Ereignissen wie selten angeregt. Es sei nur Einiges
genannt: die Kritik des Berichtes des Beda über die
Landnahme der Sachsen im 5. Jahrhundert in Britannien,
die Interpretation der altrussischen Chronik des Nestor
über die Anfänge der Varänger, dann die knappe Skizze
über den sogen. Aranismus der Ostgermanen — zweifellos
das Beste, was bisher darüber geschrieben worden
ist —, die Handelswelt der Varänger, ihr Vorstoß nach
Byzanz, die Einzelheiten der Stadt- und Handelsgeschichte
Haithabus, die Landnahme Islands, die Entdecker-
fahrten im Ozean; alles das ist mit einer wundervollen
Penetranz und Exaktheit der Interpretation erörtert. Man
bedauert daher, daß sich Scheel nicht entschlossen hat,
seinem Buche Anmerkungen beizugeben. Daher werden
es viele wünschen, daß bei einer nächsten Auflage das
Material nicht zu sparsam vorgelegt wird. Die Anlage
des Buches ist ohne Frage auf einen weiteren Kreis von
Lesern berechnet und wir sind überzeugt, daß Scheels
Darstellung zu echtem geschichtlichen Verständnis der
Wikinger anleitet. Immerhin wird gerade die Einzelforschung
durch diese Gesamtdarstellung zu einem fruchtbaren
Selbstverständnis gelangen. Dazu ist es aber wichtig
, daß uns Scheel etwas von der Mühe seiner Forscherarbeit
verrät.

Auf jeden Fall ist durch dieses Buch das Verständ1-
nis der Grundlagen der Geschichte Europas im frühen
Mittelalter ungeheuer gefördert worden. Die Wikinger
im Sinne der Deutung Scheels sind als eine weltgeschichtliche
Kraft nachgewiesen. Die Bedeutung aber des
Versuches Scheels liegt darin, daß von den Anfängen der
Bewegung der germanischen Stämme eben jene seegermanischen
Stämme als gleichberechtigtes Glied in den
ganzen Bereich der Völkerwanderung und ihrer Folgen
eingefügt worden sind. Gewiß wird mancher, dem die
Geschichte lediglich ein Lehr- und Beispiclbueh für sein
persönliches Leben ist und dem daher die kulturellen
Probleme der Geschichte die wichtigeren sind, es vermissen
, daß Scheel nicht eigentlich eine Kulturgeschichte
der Wikinger geschrieben hat. Aber in der Einordnung
der Kultur der Wikinger in der Geschichte der großen
politischen Bewegungen, ja in der fast spröden und
nüchternen Beschränkung auf die Herausarbeitung der
politischen Geschichte liegt ein kaum zu überschätzender
vorteil des Buches. Ein Stück Weltgeschichte ist uns
durch Scheel eindrucksvoll verdeutlicht worden.

Berlin H.-O. Opitz

Hailer, Prof. D. Dr. Johannes: Der Eintritt der Germanen in
die Geschichte. Berlin: W. de Gruyter 1939. (119 S.) kl. 8° =
Sammig. Göschen Bd. 1117. RM 1.62.

Gleichsam eine Ergänzung zu dem oben angezeigten
Buche von Scheel ist die vorliegende kurze und elegante
Skizze aus der Feder Hallers. Hier wird die Geschichte
der Festlandsgermanen in ihrer politischen Auseinandersetzung
mit dem römischen Reiche vorgeführt. Von den
ältesten Anfängen an bis zum Zusammenbruch des fränkischen
Reiches im 9. Jahrhundert will H. darlegen, wie
die Germanen bei ihrem Eintritt in die Geschichte sich
„mit dem römischen Weltreich in Staat und Bildung auseinandersetzten
und durch Verschmelzung der neuen Werte
, die sie mitbrachten, mit dem Erbteil der Antike ein
neues Zeitalter der Gesittung eröffnete". Weil die Franken
darin die erfolgreichsten der germanischen Stämme
waren, hat ihnen Haller mit Recht eine besonders ausführliche
Darstellung gewidmet. Aber darüber hinaus bemüht
sich Haller doch, dem inneren Problem des Eintrittes
der Germanen in die Geschichte nachzugehen,
nämlich der Frage, was sie denn eigentlich dazu befähigte
, in dieser Weise ein neues Kapitel der Weltgeschichte
einzuleiten. Er legt den Finger auf die eigentümliche
Art der Gefolgschaft und auf die Ordnungen,
die sich aus dieser Lebensform der germanischen Stämme
ergaben. Sucht man aber die Gründe des Erfolges zu erkennen
, so wird man gerade bei Haller immer auf die
Tatsache gelenkt, daß die Stämme eben durch die unverbrauchte
jugendliche Kraft in der Auseinandersetzung
mit dem römischen Reich als Sieger hervorgehen. Die
Schlußworte Hallers sind in diesem Zusammenhange besonders
beherzigenswert: „Ihr (der Franken) Werk war
es, daß die germanischen Völker nicht im Römertum untergingen
, daß auch nicht an die Stelle der zerstörten
römischen eine germanische Welt erschien, noch weniger
Römisches und Germanisches geschieden, fremd und
feindselig gegeneinander traten, sondern im Ausgleich
ihrer Naturen eine germanisch-römische Staatsordnung
und Gesittung sich bildete, die des Gleichartigen genug
enthält, um aus der Mannigfaltigkeit ihrer Teile stets
neue Antriebe der Fruchtbarkeit und Steigerung zu
schöpfen." Und der Vollstrecker dieser historischen Aufgabe
wird von Hallers darstellerischer Kunst auch mit
aller Eindringlichkeit herausgestellt: Karl der Große.
Ferner wird dem Leser eingeprägt, wie die Übernahme
des Christentums in den Prozeß jener Gestaltung der
Staatsordnung und Gesittung aus eigenem Wesen und
antiker Überlieferung zu verstehen und historisch zu bejahen
ist. Malier hat vor vielen anderen einen scharfen
Blick für die eigentümliche Art des römischen Christentums
als Petrusreligion. In diesem Zusammenhang ist
es notwendig darauf hinzuweisen, wie allein aus der Vielgestaltigkeit
des geschichtlichen Geschehens gerade in
dem Zeitalter des Eintrittes der Germanen in die Geschichte
die religiösen Phänomene aufkommen und sich
erklären. Die Religionsgeschichte ist, wie Haller uns nahelegt
, ein Stück Weltgeschichte- In dem Interessenkreise
dieser Zeitschrift gilt es dieses allgemeinere Ergebnis des
Hallerschen Büchleins zu unterstreichen und damit seine

| Lektüre nachdrücklichst zu empfehlen.

j Berlin H.-G. Opitz

I K1 e i n e k e, Wilhelm : Englische Fürstenspiegel vom Polycrati-
cus Johanns von Salisbury bis zum Basilikon Doron König
Jakobs I. Halle a. S.: M. Niemeyer 1937. (VII, 222 S.) 8°. RM 9—.
Bezeichnenderweise konnte Macchiavelli, der das politische
Handeln aus Zweckmäßigkeitsgründen von dem
neuen Begriff der Staatsraison her grundsätzlich rechtfertigte
, noch im 16. Jahrhundert in England keinen Fuß
fassen, weil hier getreu der mittelalterlichen Auffassung
als bindende Staatslehre galt, daß das politische Geschehen
nach christlich-religiösen Grundsätzen zu erfolgen
habe. Der Staat aber war in dieser Zeit nur faßbar im
Fürsten, wie ja auch die Staatsfinanzen gleichbedeutend
waren mit den persönlichen Finanzen des Herrschers;
für das Mittelalter war der Staat gleichbedeutend mit
Monarchie. Das sittliche Handeln des Staates aber floß
aus der persönlichen moralischen Haltung des Königs,
sodaß folgerichtig das Bemühen um die sittliche Durchdringung
des Staates sich auf den Herrscher zuspitzte.
Ihn im ethischen Sinne zu beeinflussen und ihm die
Größe seiner Verantwortung für das ganze Land vor
Augen zu halten, war die Absicht der „F ü r s t e n s p ie-
gel", deren Darstellung und Beurteilung von Johann
von Salisbury ab, dem reinsten Vertreter hochmittelalterlichen
Geistes in England, die vorliegende bedeutsame
Abhandlung gewidmet ist, die als Band 90 der „Studien
zur englischen Philologie", herausgegeben von Lorenz
Morsbach und Oskar Wilde, vorliegt.

Schon in einem Moraltraktat wohl des 7. Jahrhunderts sind