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Ausgabe:

1939

Spalte:

317-319

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Birnbaum, Walter

Titel/Untertitel:

Die freien Organisationen der Deutschen Evangelischen Kirche 1939

Rezensent:

Knevels, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 8/9

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ist Bredt nicht gut zu sprechen. Er betont mehrfach,
daß sie von ihrer eigenen Kirchenverfassung und vom
Kirchenrecht keine Ahnung hatten. Für diese kühne Behauptung
ist er aber den Beweis schuldig geblieben. Gerade
von einem Verfasser eines allgemeinen Evangelischen
Kirchenrechts hätte man auch vielleicht erwarten
können, daß diese Verfassungsgeschichte noch etwas
mehr in die allgemeine Entwicklung hineingestellt worden
wäre.

Hamburg J. Hashagen

Frotscher, Dr. med. dent. Gerhard: Tilemann Heshusen. Ein
Leben im Dienste der Lehre Luthers. 1527 — 1588. Versuch einer
kirchenpolitisch-familiengeschichtlichen Würdigung. Zu seinem 350.
Todestag von einem Enkel der XIII. Generation. Plauen i.V.: Vogt-
ländischer Heimat-Verlag Fr. Neupert G. in. b. H. 1938. (132 S., 3 Abb.)
8°. RM 10-; geb. 12-.

Ein erfreulicher Versuch familiengeschichtlicher Würdigung „der
inneren Gradhcit und unbedingten Uberzeugungstreue dieser grollen
Persönlichkeit" (S. 71). Leider wird der Theologe Heshusen nicht
verstanden in seiner Wahrheitserkenntnis auf Grund der Heiligen
Schrift z. Ii. in der Frage der Kirchenzucht, des Abendmahles u. ä.,
weil Fr. meint einen Standpunkt über den Konfessionen einnehmen
zu können, und der Bibel Schuld gibt an den ,,vielen unfruchtbaren
Kämpfen Tilemann Heshusens" wegen ihrer „vielen Widersprüche
und Unklarheiten" (S. 110). „Infolge des geistigen Aufbruchs und
völkischen Erwachens unserer Zeit" hätten wir die „Unhaltbarkeit
dieser konfessionell-dogmatischen Voraussetzungen" erkannt (S. 12).
So bleibt Fr. die Wahrheitsfrage vor Gott verschlossen, ohne die
Heshusen in seinem Kampfe nicht zu begreifen ist. Dazu kommt,
dal) zwar am Schluß die Quellen insgesamt angegeben werden —
obwohl auch diese nur sehr lückenhaft sind —, aber jede Belegung
der einzelnen Angaben in Anmerkungen fehlt, was den wissenschaftlichen
Wert des Buches stark herabsetzt. Dem Verfasser ist
aber zugute zu halten, dafl er nicht wissenschaftlicher Theologe,
sondern familicngeschichtlich interessierter Zahnarzt ist.

Ellierode Hans Kropatscheck

Kl Ii CA IEN G ESCH ICHTE: NEUEHE ZEIT

Birnbaum, Prof. Walter: Die freien Organisationen der deutschen
evangelischen Kirche. Ursprung, Kräfte und Bindungen,
Wirkcnsformen. Stuttgart: W. Kohlhammer 1939. (IX, 194 S.) gr. 8° =
Theol. Wissenschaft. RM 6—.

Schon lange haben wir auf ein solches Buch gewartet
, das nicht nur den riesigen Stoff gedrängt und übersichtlich
zusammenfaßt, sondern aus einer souveränen
Schau heraus das ganze üebiet verstehen lehrt, die innersten
Triebkräfte zeigt, das Wesen der verschiedenen
Gebilde enthüllt, die Entwicklungslinien erkennen läßt
und dadurch etwas zu dem Thema bietet: Was nun?
All das leistet das Werk von Birnbaum und übertrifft
alle seine Vorgänger bei weitem.

B. hat den Rahmen sehr weit gespannt und behandelt
außer der Inneren Mission mit ihren vielen, vielen
Zweigen die Äußere Mission, die Bibelgesellschaften,
die Jugendarbeit, die Gemeinschaftsbewegung, den
Evang. Bund, den Gustav-Adolf-Verein, die christlichsozialen
Organisationen, die Pressearbeit u. a.

Die Zeit von etwa 1800—1860 nennt B. die Zeit
der organischen Gebilde. In kurzen Skizzen
wird die Entstehung der Gebilde, die Persönlichkeit
der Gründer, ihr Boden geschildert, ihre Entwicklung
kurz umschrieben und ihr inneres Gesicht herausgearbeitet
. Die Bedeutung dieser Gebilde sieht Birnbaum auch
darin, daiß in ihnen ein gesamtdeutsches Denken lebendig
war in einer Zeit, da Deutschland und die deutsche
evangelische Kirche ganz zerrissen war; besonders aber
darin, daß sie große kirchliche Reformgedanken und
-kräfte mit sich führten.

So sieht Birnbaum in Wichern eine revolutionäre
Persönlichkeit und in der durch ihn entfachten Bewegung
eine Aufbruchsbewegung. Wichems Erneuerungswille erfaßt
, wie Birnbaum darstellt, Volk, Staat und Kirche
total. Er will die Kinder, die er „gerettet" und in eine
lebendige Ordnung eingegliedert hat, später dem Staat
und der Kirche als vollwertige Glieder zurückgeben. Familie
, Staat und Kirche sollen wieder auferstehen —
das ist sein Ziel. Daß der große Ansatz nicht weiter
entwickelt wurde und der Wille zur Erneuerung des
ganzen Volkes sich in einer Fülle wertvoller Einzelaktionen
auflöste, — das führt Birnbaum auf den Einzug
liberalistischen Denkens und auf die mangelnde
Einsicht Wicherns in die innere Dynamik der sozialen
Lage zurück. Auch bei Löhe arbeitet B. die geniale
Wurzel und das breite Ziel heraus. Löhe wollte ja den
Sinn für den Dienst an der leidenden Menschheit in der
ganzen lutherischen Bevölkerung Bayerns, vor allem dem
weiblichen Teile, wecken und hoffte, daß überall auf
dem „platten Lande" eine Bewegung zu einem großen
Hilfsdienst entstehe. Der gewaltige Plan zog sich aber
leider in einer Unternehmung, in Neueiidettelsau, zusammen
. Die Persönlichkeit Löhes schildert Birnbaum
weitherziger und großzügiger, als ich sie sehe (Vorfahren
von mir waren in Neueiidettelsau ansässig). F 1 i e d -
ners neue, große Idee ist der Einsatz der Frau im
kirchlichen Leben. Wie wird seine Persönlichkeit erhellt
, wenn wir hören, daß er den Antrag stellte, einige
I Wochen als Gefangener unter Gefangenen zu leben und
behandelt zu werden! Neben großer Weisheit und Weite
findet sich bei Fliedner auch schroffer Pietismus und
kalvinische Gesetzlichkeit, und für die spätere Entwicklung
der Diakonissensache wurde der Gegensatz zur
„Welt" in einer übertriebenen und zuweilen verhängnisvollen
Weise bestimmend Sehr stark weist Birnbaum auf
Karl Graul hin, der die evang.-luth. Mission zu Leipzig
1844 übernahm und ihr eine lebendig-klare Art und
ein großes Format gab: wenig Missionare, aber durchgebildete
, Beschränkung und Konzentrierung der Kraft
auf einen engen Raum, Eingehen auf die Grundzüge
des betr. Volkstums, Ziel nicht: einzelne zu bekehren und
aus dem Volk zu lösen, sondern: Gemeinden zu bilden
und das Volk mit den Kräften des Evangeliums zu
durchdringen.

Die nächste Periode ist bestimmt durch den W a n-
del vom Gebilde zur Organisation. Liberalismus
, Individualismus, vielleicht auch (verborgen) Materialismus
üben ihren Einfluß; es ist wohl ein „Mehr-
werden", nicht aber ein „Wachsen" zu beobachten; man
macht etwas, hoffend, daß es sich mit Leben füllen
werde, während man früher drängendem Leben Form
gab. Den Neugriindungen dieser Zeit mangelt der große
Zug und meistens auch die eigene Idee.

Das soziale Programm Stoeckers stellt Birnbaum,
m. E. richtig, so dar, daß die bestehenden Zustände
menschlicher gehandhabt werden sollen, also als eine
Art wohlwollenden Junkerkonservatismus; nur dürfte sein
Antisemitismus doch als weiter hinausweisend geweitet
werden. Naumann kommt ziemlich schlecht weg; daß
er die Grenzfragen und -Situationen an Stelle der wesentlichen
Mitte der Dinge überbetont habe, ist doch wohl
etwas hart geurteilt. Die Entartungserscheinungen in
der Gemeinschaftsbewegung, die Hinwendung
zum rein Gefühlsmäßigen, die subjektive Überzeugthcit
und Überheblichkeit der „Bekehrung" usw. sind scharf
herausgehoben, aber z. B. beim Jugendbund für Entschiedenes
Christentum die Schäden und Gefahren doch
zu s chwarz gemalt.

Die großen Einzelleistungen der Inneren Mission
werden von Birnbaum dargestellt und anerkannt, aber er
behauptet, wohl einigermaßen mit Recht, daß (außer
etwa in Bethel) keine durchschlagende religiöse Kraft
von ihnen ausging. Hier ist allenthalben ein Versagen
festzustellen, — aber das ganze geistige Deutschland
hat damals ja versagt.

Der letzte Teil des Buches handelt vom Krieg bis
zur Gegenwart: Überorganisation und beginnende
Umkehr. Die Überschrift sagt alles Wesentliche
. Der stärkere Zusammenhang mit dem Ganzen,
auch mit der Kirche, und der Zusammenschluß vieler zer-
spaltener Teilgebilde untereinander lasse auch bei der
jetzigen nicht leichten Lage günstige Erwartungen zu.