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Ausgabe:

1939

Spalte:

309-314

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Grau, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Antisemitismus im späten Mittelalter 1939

Rezensent:

Schneider, Theodor

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30!)

Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 8/9

310

noch gelten soll, zu entfalten. Ist es doch ,,die Eigentümlichkeit wahrhaft
großer Oedanken, daß sie mehr enthalten, als die sie erstmals
dachten, darin sahen" (S. 201). Das ist gewiß richtig, und auch das
entsprechende methodische Vorgehen ist an und für sich erlaubt. Nur
drohen darüber die bestimmten geistigen Umrisse der einmaligen
geschichtlichen Persönlichkeit immer wieder zugunsten ihrer bleibenden
„Bedeutung" und der großen, theologischen Tradition, die sie
ebenfalls vertreten soll, zu verschwimmen und zu verblassen. Das
gilt übrigens auch für Augustin, der an Anselm (so wie sonst an
Thomas) möglichst nahe herangerückt wird, obgleich es dann heißt,
Anselm sei „für die weitere Entwicklung abendländischen Denkens
kaum von geringerer Wichtigkeit" als Augustin (S. 242). Speziell in
der Beurteilung der Qottesbeweisc scheint mir die Bedeutung ihrer
,,realistischen" Grundlage unterschätzt zu sein, die sowohl dem
kosmologischen wie dem ontologischen Beweis sein charakteristisch
„mittelalterliches" Gepräge gibt. Das Interesse des Verf.s gilt fast
ausschließlich dem ontologischen, wie er sagt, „anselmischen" Beweis.
Er sucht ihn nach Möglichkeit für sich zu stellen und meint dann,
der „Realismus" und „Platonismus" sei hier nur insoweit beteiligt,
wie das bei allem „gesunden" metaphysischen Denken der Fall
sein müsse, das nicht ganz in den Bann der einseitigen, exakt-naturwissenschaftlichen
Logik und Weltbctrachtung geraten sei. Aber zur
Durchführung dieses Gedankens müssen dann z. T. sehr umfangreiche
„Einschaltungen" in Anselms Gedankengang vorgenommen werden,
und der allgemeine Nachweis, daß der charakteristische „Durchbruch
aus dem Denken in das Sein an irgendeinem Punkte" (S. 197),
z. B. in der Frage des „ersten Stoffes", auf alle Fälle unvermeidbar
sei, haben mit Anselm unmittelbar überhaupt kaum mehr
etwas zu tun.

Anselm soll eben nicht nur als der große christliche
Denker seiner Zeit und der Scholastik erkannt werden,
von der, wie immer wieder betont wird, auch die neuere
Philosophie abhängig geblieben ist, sondern er erscheint
recht eigentlich als der Begründer der „einheitlichen
Seins- und Wertmetaphysik" überhaupt, wie sie die
katholische Philosophie und Dogmatik heute noch leint,
in der die „Seins- und Sittenlehre, Ontologie und Wertmetaphysik
" auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführt
werden, die bei Anselm vor allem in dem Grundbegriff
der „rectitudo" faßbar wird.

Insofern wäre es eigentlich geboten, die Auseinandersetzung
mit diesem gehaltvollen Buche auf systematischem
Gebiet zu führen. Doch begnügen wir uns
hier mit diesem kurzen, empfehlenden Hinweis. Das Buch
hat nicht nur einen fachgelehrten Leserkreis im Auge,
und gerade der protestantische Theologe wird es mit
besonderem Gewinn lesen. Denn die Perspektiven, die
Voraussetzungen und auch die konkreten Forschungsergebnisse
, mit denen er hier bekannt gemacht wird, liegen
ihm von Haus aus heute meistens nur zu fern.
Greifswald H. v. Campen hausen

Grau, Wilhelm: Antisemitismus im späten Mittelalter. Das

Ende der Regensburger Judengemeinde 1450 — 1519. 2., erw. Aufl.

Berlin: Duncker & Humblot 1939. (316 S., 7 Taf.) 8°. RM 9.80.
Es ist noch nicht lange her, daß man den Antisemitismus
für ein Produkt des 19. Jahrhunderts hielt, hervorgerufen
von ehrgeizigen Männern, wie Ahlwardt, Stöcker,
Fritsch und Schönerer. Daß es gar im Mittelalter schon
einen Antisemitismus, ja sogar einen Rassen-Antisemitis-
mus gegeben habe, das erschien auch belesenen Historikern
noch als völlig unmöglich. Nur Theologen, die sich
für Judenmission interessierten, wußten darüber etwas
Bescheid. Vollends nach dem ergebnislosen Ausgang der
Knaben-Mordprozesse in Xanten und Könitz schien bezüglich
des schlimmsten Punktes jenes mittelalterlichen
Antisemitismus durch die Schrift des Berliner Theologen
Strack „Das Blut im Glauben und Aberglauben der
Menschheit. München 1900", das letzte Wort gesprochen
zu sein. Zwar gab es in den Kreisen um den „Reichsboten
" immer noch Leute, welche die Frage des Ritual-
inordes offen gelassen haben wollten. Aber das waren
Leute, die auch einen Kautzsch und Schürer in ihrer
bornierten Orthodoxie nicht zu ertragen vermochten und
sich dadurch aus dem Kreise ernster Wissenschaft selbst
ausschalteten. Da war es ein verdienstvolles Unternehmen
, wenn sich ein junger Gelehrter daran machte, das
genügend vorhandene Qucllenmaterial, das bisher fast
ausschließlich den Juden überlassen worden war, einmal

vom deutschen Standpunkt aus zu betrachten, aber mit
all der Vorsicht, die aus den Quellen nicht mehr herausholt
, als sie von selbst hergeben, und die auch die Einwände
der Gegner ebenso gewissenhaft prüft, wie die
der eigenen Meinung. Wenn er dabei sogar die Autorität
i eines Strack anzutasten wagte, so mußte das natürlich
den Zorn der Gegner in dem Maße hervorrufen, daß sofort
die Öffentlichkeit vor dem Buche gewarnt wurde:
„Grau betont hier in besonderem Maße seine Objektivität
. Er tritt nicht für die Berechtigung dieser Beschuldigung
(des Ritualmordes) ein, aber er hält sie für
möglich. Und das i s t s c h 1 i m m er" (Grau, S. 14).

Für diesen Kritiker Raphael Straus ist es freilich höchst peinlich,
daß ihm Grau, S. 317 nachweisen kann, daß er in seiner Urkundensammlung
„jede kleinste und unbedeutendste Urkunde bringt, aber aus-

I gerechnet die so sehr umstrittenen Aussagen der des Ritualmordes beschuldigten
Juden sind völlig unzureichend widergegeben". Andererseits
hätte sich Grau seine Arbeit erheblich vereinfachen können, wenn

I er in seiner Bibliographie auch das Werk des Baseler Judenmissionars
F. Heman, Geschichte des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jeru-

I salems, Stuttgart 1908, hätte anführen können, ein Werk, das der
verdiente Leiter des jetzt leider verödeten Leipziger Institutum
Judaicum von Harling in zweiter, bis auf die Gegenwart fortgeführter
Auflage, Stuttgart 1927, herausgegeben hat. Dort hätte er nämlich zu
der von Elbogen S. 307, Anm. 38 aufgeworfenen Frage nach der
jüdischen Geheimlehre mit einem noch treffenderem Zitat aus Grälz
antworten können, als er tat, nämlich nach S. 324 mit der von Grätz
selbst gemachten Feststellung, daß in dem Prozeß der Frankisten gegen
die Talmudisten, im Gegensatz zu der Meinung des Papstes Clemens
XIII. „sogar die Blutbeschuldigung an ihrem Bekenntnis haften
blieb" (Grätz X 2 434). Eine erneute Durchleuchtung jener Prozeßakten
im Sinne von Grau wäre gewiß dankenswert.

Der Verfasser hat seine Ansichten über die Judenfrage
schon in der 1. Auflage durch ein reiches Quellenmaterial
, das jetzt im Münchener Reichsinsitut zur Erforschung
der Judenfrage gesammelt ist, in einer Weise

J erhärtet, die zwar von jüdischer Seite mit Unterstützung

j angeblich liberaler Kreise als Tendenzarbeit bekämpft
worden ist, die sich aber in der Auseinandersetzung mit
seinen Gegnern als durchaus objektiv bewährt. Nicht
jedem steht eine solche Fülle der wertvollsten Vorarbeiten
zur Verfügung, wie sie der Quellennachweis S. 265
bis 275 bietet. Der Verfasser kennt nicht nur Aronius,
(irätz, Bubnow und die Enzyclopaedia Judaica, sondern

j auch Werke wie Lipmanns Nizzachon, die Predigten des
Petrus Nigri, den Antonius Margaritha, ja sogar das vor
mehreren Jahren aus dem Buchhandel verschwundene
Werk von E. Bischoff, Ein jüdisch-deutsches Leben
Jesu, Leipzig 1895, das nach meiner Erinnerung auf
einem seltenen Exemplar der Bodleyana in Oxford beruhte
. Außerdem stand ihm die gesamte Controverslitera^
tur des 19. Jahrhunderts zur Verfügung, die in dieser

j Vollständigkeit einzig in der Welt dastehen dürfte.

Den Ausgangspunkt seiner Untersuchung bildet naturgemäß
die Judengemeinde in Regensburg,

j über die wir ja in der Tat besser als über irgend eine
andere deutsche Judengemeinde orientiert sind; daher

j der Untertitel des Buches. Unter ihren Rabbinern widmet
Grau dem bedeutendsten, Israel Buna, besondere Beach-

I tung, weil sich an ihm die damalige Lage des Rabbiner-
tums sowohl wie die besonderen Verhältnisse der Regensburger
Judengemeinde am besten erkennen lassen.
Fin zweiter Abschnitt schildert S. 45ff. das Wirtschaftsleben
und die Juden. Der Gesamteindruck
Graus geht dahin: „Der Jude war nicht bloß wirt-

| schaftlich, sondern auch seelisch und geistig der da-

! maligen allgemeinen Notlage viel mehr gewachsen als

; der christliche Bürger" (S. 72). Diese Notlage äußerte
sich nicht nur in einer trostlosen Verschuldung der Stadt-

: Verwaltung, sondern auch in Ernährungsschwierigkeiten
der städtischen Bevölkerung und in sozialen Auseinandersetzungen
zwischen Gesellen und Meistern im Rahmen
der Zunftordnung. Zur Notlage der christlichen Handwerker
trug nicht wenig das merkwürdige jüdische Hehlerrecht
bei, ein Name, der bezeichnender Weise nicht
vom deutschen Gesetzgeber, sondern von den Rabbinern
geprägt worden ist (S. 67).