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Ausgabe:

1939

Spalte:

287-289

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Birkeland, Harris

Titel/Untertitel:

Zum hebräischen Traditionswesen 1939

Rezensent:

Steuernagel, Carl

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 8/9

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schichte mit Stillschweigen übergangen wird: wenn in
Dt. 26, 5 ff. die Frage der Legitimität der Landnahme
im Vordergrund steht (so R. selbst S. 40), so bestand
kein Grund, dabei von den Ereignissen am Sinai zu reden
(ähnlich Ex. 15); in Dt. 6,20—24 werden sie (V. 24)
tatsächlich erwähnt (gegen S. 5), und warum sie in Jos.
24 fehlen, glaube ich in meinem „Elohisten" S. 250 begründet
zu haben; auch bei den in Frage kommenden
„Geschichtspsalmen" läßt sich die Weglassung der Sinaiepisode
mehrfach aus der Absicht des betreffenden
Psalms erklären, andererseits scheint es dabei überhaupt
nicht auf Vollständigkeit abgesehen zu sein (in Ps. 105
z. B. fehlt das wichtige Stück des Durchzugs durchs
Schilfmeer). Vollends wenn R. (vorausgesetzt, daß ich
seine Ausführungen S. 49 richtig verstehe) anzunehmen
scheint, daß in der kultischen Rezitation Sinaitrad. und
Landnahmetrad. bis gegen das Exil hin getrennt blieben,
so ist das schwer zu glauben. — Es würde mich locken,
noch eine Reihe von Einzelbemerkungen, natürlich auch
zu der Auffassung des Elohisten bei R., zu machen, aber
dazu ist hier nicht der Raum. Wie wichtig die Schrift
von Rad's für die Hexateuchforschung ist, dürfte deutlich
geworden sein.
Gießen W. Rudolph

Birkeland, Harris: Zum hebräischen Traditionswesen. Die

Komposition der prophetischen Bücher des Alten Testaments. Oslo:
in Komm, bei J. Dybwad 1938. (96 S.) gr. 8° = Avhandlinger utgitt
av det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo, II. Hist.-Filos. Klasse. 1938.
No. 1. Kr. 6 —

Gegenüber der herkömmlichen Betrachtung der
prophetischen Schriften als Ergebnis einer wesentlich
literarischen Überlieferung der ursprünglich mündlich vorgetragenen
Prophetenworte und der Berichte über
prophetische Erlebnisse will der Verf. die Auffassung
entwickeln und empfehlen, daß die Überlieferung bis
zu der uns vorliegenden schriftlichen Fixierung im wesentlichen
eine mündliche gewesen ist. „Im wesentlichen
" ; denn er will keineswegs leugnen, daß manches
bereits von den Propheten selbst aufgeschrieben (Jes.
8,1 ff., 30,8; Hab. 2,2) oder diktiert (Jer. 36), anderes
schon von ihren ersten Jüngern aufgezeichnet ist.
Aber daneben her geht auch eine mündliche Tradition,
die zunächst in dem kleinen Kreise der Schüler und
Freunde der Propheten lebt, allmählich aber immer weitere
Kreise und schließlich die ganze Gemeinde gewinnt,
und vieles ist lange Zeit hindurch nur mündlich überliefert
worden; vor allem aber: die mündliche Tradition
gilt als die zuverlässige und entscheidende: soweit es
eine schriftliche Überlieferung gibt, wird sie immer wieder
der mündlichen angepaßt, und für die schließliche
literarische Fixierung, die uns vorliegt, bildet die Hauptquelle
die mündliche Überlieferung. Diese schließliche
literarische Fixierung hat dann nur noch geringe Veränderungen
durch Glossierung, Umstellungen, Ergänzungen
usw. erfahren. All die Anstöße, die unsere
Texte uns bieten und die wir durch Literarkritik zu beheben
gewohnt sind, gehen nach dem Verf. in Wahrheit
zurück auf die Entwicklung der mündlichen Tradition,
die die prophetischen Worte und Berichte lebendig weiter
entwickelte, durch Zutaten ergänzte, der jeweils herrschenden
Dogmatik anglich (Ergänzung der Gerichtsbotschaft
durch Heilsverheißung), auch das Traditionsgut
anderer Jüngerkreise einmischte (Jes. 2, 2 ff. = Mich.
4,1 ff.; Obadja 1—9 auch in Jer. 49!). Die uns stoßenden
Unebenheiten der Prophetenbücher sind demnach
durch Traditionsanalyse zu erklären.

Die mündliche Tradition ist auch der Ort, an dem
die Komposition entsteht, die wir jetzt in den Büchern
vor uns haben. Indem ein Bericht oder ein Wort andere
verwandte Worte anzieht, entsteht ein kleiner Komplex,
der durch Anlagerung weiterer Berichte oder Worte
im Innern oder am Schluß, auch durch Aufnahme fremder
, d. h. auf einen andern Propheten zurückgehender
Elemente und durch selbständige Erzeugnisse der Überlieferungsträger
allmählich anwächst und eine feste Form

I annimmt. Gern werden solche Komplexe nach dem
Schema Gericht und Heil gebildet, und danach lassen

I sie sich vielfach leicht von einander abgrenzen. Die

[ literarische Fixierung hatte schließlich nichts weiter zu
tun, als die vollkommen ausgebildeten und feststehenden

I Komplexe zusammenzustellen und die dabei sich ergebenden
Dubletten durch Fortlassung an einer der
beiden Stellen zu beseitigen, was jedoch nicht ganz kon-

I sequent geschah. Der Hauptteil der Ausführungen des
Verf. ist der Analyse der Prophetenbücher auf die Kom-
plexe hin, aus denen sie zusammengesetzt sind, und wo-

; möglich auch der Komplexe auf ihre Elemente und ihre
Bildungsweise hin gewidmet (S. 26—94). In weitem
Umfang trifft er dabei zusammen mit den Ergebnissen
der bisherigen literarischen Analyse, doch fehlt es auch
nicht an neuen Thesen, die die bisherigen teils ergänzen
, teils korrigieren und die auch der sorgfältig wird
berücksichtigen müssen, der der Gesamtauffassung des

! Verf. mit Bedenken gegenübersteht.

Die Gründe seiner Hauptthese hat der Verf. leider
nirgends im Zusammenhang dargelegt. Denn was der
einleitende Abschnitt S. 5—25 ausführt, genügt dafür
nicht. Die Behauptung S. 6 „die semitisch-orientalische
sowie sicher jede nicht moderne Traditionsweise ist ausgeprägt
mündlichen Charakters" wird zwar durch das
Beispiel der islamischen Korantradition und des Hadith
belegt, dürfte jedoch mindestens gegenüber den Zeugen
literarischer Tradition in Babylonien und Assyrien, den
Räs-Schamra-Funden und auch den Zeugnissen des A. T.
über das Vorhandensein einer reichen Literatur und
der Verbreitung der Kenntnis des Lesens und Schreibens
selbst bei Kindern (Jud. 8,14, Jes. 10,19) einer
starken Einschränkung bedürfen. Und die S. 5 ff. an-

| geführte Tatsache, daß die auf der Annahme wesentlich

' schriftlicher Überlieferung beruhende Literarkritik vielfach
Auswüchse zeigt, die an das Unmögliche grenzen
(starke Umredaktionen und Textneudichtungen), beweist
nicht, daß die Überlieferung nicht nach einer relativ
kurzen mündlichen Stadium, das niemand bezweifelt,
eine wesentlich schriftliche gewesen sein kann. Endlich
: die Entwicklung der Hauptthese auf S. 14 ff. hebt
zwar einige Tatsachen heraus, die durch die Annahme
mündlicher Überlieferung gut erklärt werden können,

| unterläßt aber den Nachweis, daß eine Erklärung aus
schriftlicher Überlieferung nicht möglich oder doch viel

; unwahrscheinlicher ist.

Auch bei der Analyse der Komposition der einzelnen Bücher fehlt
in der Regel jede Begründung für die Behauptung, daß die jetzige Form
der Hauptteile schon in der mündlichen Tradition vorgebildet war. Das
wird einfach behauptet. Es erscheint dem Verf. als so unmittelbar einleuchtend
, daß eine andere Möglichkeit für ihn gar nicht in Betracht
kommt; z. B. S. 68: „überhaupt nicht diskutierbar" . . .
„Das Vorhandensein von schriftlichen Einzclsammlungen zu diskutieren
ist jedoch zwecklos." Nur gelegentlich gibt er eine Begründung
. Z. B. S. 27 f.: Jes. 5, 25—30 müssen ursprünglich den Abschluß
zu 9,7—20 gebildet haben, 10, 1—4 a den Anfang (sie!
warum nicht den Schluß?) von 5,8—24; will man die jetzige Verwirrung
literarisch erklären, muß man annehmen 1) die Umstellung
von 5,25—30 vor 9,7—20, 2) die von 10, 1—4 a hinter 5,8—24,
3) die Einschaltung von 5,25—30 und 9,7—20 zwischen 5,8—24
und 10, 1—4 a und 4) die von 6,1—9,6 zwischen 5,30 und 9,7.
„Eine Hypothese, die mit Einschiebungen und Umstellungen rechnet
, . . . würde zu kompliziert werden, um auf Wahrscheinlichkeit

I Anspruch machen zu können." B. selbst erklärt den Tatbestand
folgendermaßen (S. 31): In der mündlichen Tradition wurden die

I Weherufe und die Worte mit dem Refrain „bei alledem hat sich

j sein Zorn nicht gewandt" usw. miteinander verbunden, wobei die
Weherufe entweder wie in Kap. 5 vorangingen oder wie in Kap. 9 f.

I folgten; der Komplex Kap. 5 enthielt auch die jetzt nur in Kap. 9 f.

j erhaltenen Worte. Als aber die Sammlungen Kap. 2 ff. und Kap.

i 6 ff. vereinigt wurden, unterdrückte man in Kap. 5 alle Worte,

I die identisch waren mit Worten in Kap. 9 f.

In diesem Einzelbeispiel finden wir so ziemlich alle

I Gründe vertreten, die vereinzelt auch sonst gelegentlich

j angeführt sind: Auseinanderreißung von Zusammengehörigem
, Umstellungen, Einschaltungen (namentlich
solche fremden, unechten Materials), dazu etwa noch

I Variantenbildungen sind in der flüssigen mündlichen