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Ausgabe:

1939 Nr. 7

Spalte:

256

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pfannmüller, Gustav

Titel/Untertitel:

Jesus im Urteil der Jahrhunderte 1939

Rezensent:

Karowski, Walter

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 7

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schichte überhaupt. Hier unterscheidet sich übrigens das NT. von
den Zukunftshoffnungen des AT. grundsätzlich; denn so sehr diese
reiche mythische Züge enthalten, sj steht in ihrem Mittelpunkt doch
das Volk Israel, und die Hoffnung geht auf sein Glück und Heil
in den Dimensionen weltlichen Seins. Das NT. aber hat im Gefolge
der Apokalyptik die Hoffnung radikal mythisiert. Das zeigt sich,
wie in der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten, so sehr deutlich
in der Vorstellung vom Weltgericht. Nach der Anschauung des AT.
vollziehen sich Gottes Gerichte in den (wie immer mythisch ausgemalten
) Vorgängen der Volks- und Völkergeschichte, nach der Apokalyptik
und dem NT. als ein großer forensischer Akt in der Sphäre
mythischen Geschehens.

Wohl können wir heute sagen, daß mit der urchristlichen Gemeinde
eine neue Geschichtsepoche angebrochen ist. Ihrem eigenen
Bewußtsein entspricht das nicht. Denn ihr eschatologisches Bewußtsein
besagt, daß sie sich am Ende alles Weltgeschehens stehend
weiß, daß sich in ihr der neue Aon — eine mythische, und nicht
eine geschichtliche Größe — zu realisieren beginnt. Wenn Paulus
die christliche Gemeinde als „Volk, Gemeinde, Staatswesen, Israel"
bezeichnet (S. 36), so besagt das keineswegs, „daß es sich auch
jetzt um eine real-geschichtliche Gemeinschaft . . . handelt", sondern
vielmehr, daß diese Begriffe ihres real-geschichtlichen Gehaltes
beraubt und mythisiert worden sind. Und so richtig es ist, daß das
eschatologische „Geschichtsbewußtsein" zugleich Kirchenbewußtsein ist
(S. 37), so falsch ist es, daß für die Auffassung des NT. mit der
Kirche „eine neue Geschichte mitten in dem alten Aon"
beginne (S. 37). Es beginnt vielmehr das eschatologische Geschehen
, das alles andere als Geschichte ist. Der Verf. verschleiert
also das Problem, wie sich die Kirche, die infolge des Ausbleibens
der erwarteten Parusie in der Tat zu einer geschichtlichen Größe
wurde und ihre Geschichte hatte und hat, — wie sie sich immer
noch als eschatologische Gemeinde im Sinne des NT. verstehen kann.

Es ist mir unbegreiflich, warum der Verf. die Problematik
verschwiegen hat, die damit gegeben ist, daß die urchristliche Enderwartung
die Naherwartung des Endes ist. Denn diese Naherwartung
ist für das eschatologische Bewußtsein des NT. ja nicht
etwas Nebensächliches, sondern etwas Wesentliches, Konstitutives
(abgesehen von Joh., den der Verf. aber auch gar nicht in den
Kreis seiner Darlegungen einbezieht). Daß die Welt trotz Gottes
eschatologischem Handeln in Christus noch weiterbesteht, ja unabsehbar
weiterbesteht, wird für die christliche Gemeinde mehr und
mehr zu einem Problem, zu einer schon im NT. selbst empfundenen
Verlegenheit. Denn das eschatologische Bewußtsein enthält
ja den Glauben, daß das Ende des Weltgeschehens gekommen
sei. Damit aber ist ein Nein zur Geschichte gesprochen, das dem
Nein zur Welt überhaupt entspricht, und daß sich in dem Urteil
über die Vergangenheit als eine Vergangenheit der Sünde deutlich
dokumentiert. Die Herrschaft Gottes realisiert sich nach dem Verständnis
des Urchristentums nicht geschichtlich, sondern sie macht
aller Geschichte ein Ende; und sofern sie schon Gegenwart ist, steht
alles, was Geschichte heißen kann, im Abbruch. Paulus deutet die
Gegenwart 1. Kor. 15,23—28 im Anschluß an die jüdisch-apokalyptische
Vorstellung vom Zwischenreich radikal mythologisch, als die
Zeit des Kampfes des erhöhten Christus gegen die dg/ut, l^ouofal
und Öiwüiieic, die mit der Besiegung des Oüvaroc, als des letzten
Feindes beendet sein wird.

Daß die Weltgeschichte Einheit und Sinn von der Heilsgc-
schichte empfängt, ist ein moderner, kein neutestamentlicher Gedanke
, weil das NT. den Begriff der Weltgeschichte nicht kennt,
sondern nur den des Weltgeschehens. Der Verf. hätte freilich das
Recht, den Ausdruck ^Geschichte" zu gebrauchen, wie er will. Aber
indem er unreflektiert immer von Geschichte redet, suggeriert er
sich und den Lesern die Vorstellung, als sei im NT. wirklich von Geschichte
die Rede. Und er verdeckt das eigentliche Problem,
welchen Sinn für die Welt geschiente und welches Verhältnis
zu ihr das Heilsgeschehen hat. Daß das eschatologische Bewußtsein
des NT. das größte und freieste Ja zur Weltgeschichte sei, ist eine
Selbsttäuschung; es ist vielmehr das radikale Nein. Denn wenn jenes
Ja als der Glaube interpretiert wird, daß die Weltgeschichte nach
Gottes Willen zu Gott als ihrem Ende kommen soll, so ist dieses
Ende für sie ja keineswegs Erfüllung, sondern einfach Aufhören,
Zunichtewerden. Es ist also gar nicht „ihr" Ende, — in dem Sinne
eines organisch zu ihrem Verlauf gehörenden Endes, sondern das ihr
von außen gesetzte Ende, von dem aus ihr Sinn als Weltgeschichte
nicht erfüllt, sondern vielmehr in Frage gestellt, — verneint
wird. Die christliche Botschaft ist nicht „die Botschaft von dem in
Jesus Christus Geschichte werdenden Gott" (S. 84), sondern von
dem in Jesus Christus die Geschichte verneinenden und aufhebenden Gott.

Die Frage kann nur sein, ob dieses Nein seinen legitimen
und definitiven Ausdruck in der neutestament-
lichen Geschichtsmythologie gefunden hat (m. a. W. ob
die apokalyptischen Vorstellungen des NT. für die Theologie
verpflichtend sind), oder ob es wirklich einem Geschichtsverständnis
entspringt, das aus der Hülle des es-
chatologischen „Geschichtsbewußtseins" und der mythologischen
„Geschichtsanschauung" erst kritisch zu erheben
ist. Weiter: ob dieses Nein, sofern es die christliche
Lebenshaltung bestimmt, eindeutig nachvollzogen werden

i kann (das Weltverständnis der katholischen Kirche wäre
dann wohl die einzige innerweltliche Möglichkeit die-

! ses Nachvollzuges), oder ob es in einem dialektischen
Weltverhältnis legitim nachzuvollziehen ist (wie es

J lutherischer Anschauung entsprechen würde). Das NT.

| enthält selbst — von dem vom Verf. nicht berücksichtigten
Joh. abgesehen — Anweisungen für die theologische Be-

I arbeitung des Problems; einmal direkt in der paulinischen
Lehre vom Gesetz, die freilich erst aus ihrem Zusam-

J menhang mit der heils- und endgeschichtlichen Mytholo-

I gie gelöst werden müßte, damit das in ihr enthaltene
Geschichtsverständnis frei wird; sodann indirekt in Stellen
wie 1. Kor. 7, 29—31 ; Phil. 4,12; Rm. 12,15; 1.

J Kor. 7,17—24; 2. Kor. 4,7—12; Phil. 3,12—14. Zuerst
aber muß das Problem als solches herausgearbeitet

i werden; es wird aber nur verschleiert, wenn mytholo-

! gische Aussagen des NT. für Aussagen über Geschichte
ausgegeben werden. Dann erst kann die Frage beantwortet
werden, ob die Mythisierung der Geschichte
eine Vergeschichtlichung des Mythos zur Folge hat.
Marburg R. Bultraann

Pfannm üller, Gustav: Jesus im Urteil der Jahrhunderte.

Die bedeutendsten Auffassungen Jesu in Theologie, Philosophie, Literatur
und Kunst bis zur Gegenwart. 2., vermehrte und verb. Aufl.
Berlin: Töpelmann 1939. (XI, 574 S.) 8°. RM 6.80.

Das Buch von Pf. ist ein Werk von erheblicher Weite. Dies liegt
! im Charakter seines Gegenstandes begründet. Die Person Jesu ist ja nicht
| nur für die neutestamentliche Disziplin da, sondern der Historiker, der
Systematiker, der Philosoph kommen um sie nicht herum. Pf. hat der
Reihe nach I. die alte Kirche, II. das Mittelalter, III. die Reformation
bis zum 19. Jahrhundert und IV. das 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
behandelt. Der Abschnitt über die alte Kirche hätte kürzer sein, dagegen
die Bedeutung Jesu für Luther stärker herausgestellt werden können (auf
S. 238 ist E. Seebergs „Christus, Wirklichkeit und Urbild", Stuttgart 1937,
I nicht gewürdigt). Luther steht uns doch näher als die valentinianische
I Gnosis, die S. 73—75 ausgiebig zu Wort kommt. Sehr schön sind die
vom Vf. beigebrachten Lied-Zeugnisse von Jesus (vgl. z. B. S. 131 ff.,
173 und besonders 217 ff. Christus im deutschen Kirchenlied). Den
systematischen Schwerpunkt des Buches wird man im IV. Abschnitt zu
suchen haben. Hier ist zunächst die nur bis 1912 reichende „Geschichte
I der Leben-Jesu-Forschung" von A. Schweitzer bis 1938 fortgesetzt (vgl.
Kap. 35 „Moderne Jesusdarstellungen" und Kap. 37 „Jesus und die
Philosophie"). Besonders die Auseinandersetzungen um den deutschen
j Christus (S. 417 ff.) von P. de Lagarde über H. St. Chamberlain bis zu
A. Rosenberg hin sind beachtlich. In zurückhaltender Bestimmtheit führt
der Vf. die Positionen der Schriftsteller in ihren Hauptthesen vor, nur
hier und dort kurz richtigstellend, ohne doch selber ein- und damit an-
| zugreifen. Das Kapitel „Jesus und die Philosophie" ist allerdings recht
dürftig. Der Verf. behandelt nur Kant, Jacobi, Fichte, Schelling und
Hegel, um von da aus gleich über Schopenhauer zu dem negativ ur-
I teilenden E. v. Hartmann zu springen. Pf. hat sich damit um wertvollstes
j philosophisches Schriftgut hinsichtlich positiver Wertung Jesu im Sinne
j einer Begegnung von philosophischem Geist und christlichem Glauben
I entgehen lassen. In der nachhegelischen Zeit hätte der Vf. für seinen
Gegenstand reiches Material gefunden bei Sengler, J. H. Fichte, Weiße,
J. P. Lange, Carriere u. a. Doch abgesehen von diesen Mängeln vermag
das Buch trotz der Fülle der Namen einen klaren Überblick über die
Wertung der Gestalt des Gottmenschen im Lauf der Jahrhunderte zu
geben. 20 Christusbilder schmücken den Text. Einer etwaigen Neuauflage
sollte man neben dem Personen- auch ein Sachverzeichnis beigeben.
Berlin Walter Karowski

KIRCHENGESCHICHTE: ALTE KIRCHE

A Itaner, Berthold: Patrologie. Freiburg i. Br.: Herder & Co. 1938.
(XIX, 353 S.) gr. 8°. RM 7.80.

Der Studienbetrieb an den katholischen theologischen
Fakultäten macht einen Grundriß der Lehre von den
Vätern der Kirche, d. h. im besonderen Sinne der christlichen
Schriftsteller der alten Kirche erforderlich. Daher
verfügen die Katholiken stets über handliche Lehrbücher
für diesen Stoff. Auf protestantischer Seite gibt es