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Ausgabe:

1939 Nr. 7

Spalte:

252-256

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wendland, Heinz-Dietrich

Titel/Untertitel:

Geschichtsanschauung und Geschichtsbewußtsein im Neuen Testament 1939

Rezensent:

Bultmann, Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 7

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möchte, eine gute und geschickte Anleitung zur sachlichen
Erkenntnis des Briefes.

Der Kommentar ist so angelegt, daß der Verf. zuerst
in die mit dem Brief gestellten sogenannten Einleitungsfragen
einführt, die ja gerade beim Qal. für die Erfassung
seines Inhaltes nicht unwichtig sind. Ein Überblick
über die Auslegung des Briefes in der Kirche sowie
über die gegenwärtige Literatur zu Einzelfragen ergänzt
diesen Teil (S. 1—12). Sieben Abschnitte am Ende des
Kommentars (S. 126—132) stellen kurz die Ergebnisse
fest, zu denen die Auslegung den Leser geführt hat,
und zwar sind wiederum vorwiegend Fragen, die die
historischen Umstände und die historische Eigenart unseres
Schreibens betreffen, berührt (Echtheit, Unversehrtheit
, der Leserkreis des Briefes u. a.). In der
Mitte des Buches — und zwar nicht nur örtlich, sondern
mit großem Nachdruck sachlich — steht die Auslegung
selbst, die den Brief außer in einen Eingang
und einen Schluß in zwei große Teile gegliedert sieht:
1,12—5,12 „Die Predigt des Paulus ist Ruf Gottes,
zur Freiheit". 5,13—6,10 „Die wahre Freiheit ist Bindung
an den Gehorsam".

Der Auslegung geht abschnittsweise eine Darbietung
des Textes voraus, wie er dem Verfasser auf Grund sorgfältiger
Textbeobachtung, die in einem Sonderapparat
sichtbar wird, am wahrscheinlichsten erscheint. Natürlich
findet bei der Rekonstruktion des Textes auch <P 4(1
Beachtung. Neben dem griechischen Text steht seine
Übersetzung in der Form einer verdeutlichenden Paraphrase
, die in sich das Ergebnis der Auslegung enthält
und diese für den Leser vorbereitet. So sehr sie unter
pädagogischem Gesichtspunkt zu begrüßen ist, so sehr
leistet sie andererseits doch der Gefahr Vorschub, den
Galaterbrief in dem Klang eines stark subjektiv-erbaulichen
Tones zu vernehmen und dadurch den apostolischen
Stil und die ihn tragende Intention mißzuver-
stehen (Vgl. zu 1,8. 16f. 3,4. 10. 19 u.a.). Eine solche
subjektiv-pathetische Redeweise trifft man nun freilich
auch öfter innerhalb der Auslegung selber.

(Vgl. etwa zu 3, 19 ff. „Ein lioclidramatisclier Moment! Gesetz
und Verheißung sind im scharfen Gegensatz zueinander gestellt worden
. Die Verheißung ist von Gott. Also — ist die Tora wider Gott!
Kann diese Klippe noch umschifft werden? Nirgends im Gl. jagen
sich die Gedanken so wie hier. Nirgends muß man so viel zwischen
den Zeilen lesen, um dem Text seinen Sinn abzulauschen." S. 62).

Dadurch wird aber die oben erwähnte Gefahr noch
größer. Freilich zeugen solche m. E. dem paulinischen
Pathos nicht angemessenen Sätze in ihrer Art auch von
dem den ganzen Kommentar tragenden Bemühen, die
Sache, um die es dem Apostel im Gal. geht, dem gegenwärtigen
Verständnis zu verdolmetschen. Diesem Bemühen
dienen die eindringliche Aufhellung der jeweiligen
historischen Situation, die auch in mehreren Exkursen
auseinandergelegt wird, nicht weniger als die genauen
grammatischen Erwägungen, die begriffsgeschichtlichen
Erörterungen und die religionsgeschichtlichen Darlegun-

f[en. Oepke läßt dem Lernenden imimer wieder eindrück-
ich werden, daß es keine gute [Auslegung des N.T. gibt,
die nicht einerseits den geschichtlichen Charakter jedes
seiner Sätze und Worte berücksichtigt und die nicht
andrerseits den gegenwärtig verpflichtenden Sinn der
apostolischen Aussagen achtet. Dabei ist natürlich nicht
immer leicht zu entscheiden in welchem Maße ein Kommentar
das geschichtliche Material darbieten soll, in welchem
Verhältnis m. a. W. die historisch-philologische Begründung
und Veranschaulichung der sachlichen Auslegung
zu dieser selbst zu stehen kommen soll. Aufs
Ganze gesehen scheint mir bei Oepke die sachliche Erörterung
der theologischen Aussagen gegenüber der interessant
und angenehm gestalteten Vorlage des historisch
-philologischen Materials zu kurz gekommen zu sein.
Auch wird nicht immer sichtbar, inwiefern die Kenntnisnahme
des reichen historischen und begriffsgeschichtlichen
Materials die Erkenntnis der Sache bestimmt.

So legt der Verfasser zu Gal. 4, 3 im Anschluß an eine reichhaltige
Literatur eine Fülle von geordnetem Material vor, das die

Bedeutungsgeschichte von to axor/eiov erhellt und entscheidet sich
nach 1 l/i Seiten m. E. mit Recht dafür, daß die otoi/eiu bei Pau-

! lus das darstellen, was wir die himmlischen Gestirngeister nennen.
Dagegen wird der theologische Sachverhalt, der mit dieser Erkenntnis
fixiert und in Gal. 4, 3 ff. zur Frage gemacht ist: die Beziehung

I zwischen Tora und Gesetz der Heiden, das Verhältnis von kosmischen
Elementarkfäften und Gesetz, die Beurteilung des Kosmos und seines
Gesetzes kaum berührt. Selbst der sich anschließende, von theologischen
Absichten getragene Exkurs über die Lehre vom Gesetz

| im Gal. erörtert den angedeuteten Sachverhalt nur im Vorbeigehen

j und ohne das Problem recht erkannt zu haben.

Es mag mit dieser Zurückhaltung, die theologischen
Sachverhalte, wie sie sich bei Paulus zeigen, ausführlicher
zu erörtern und sie dem Leser deutlicher zu Gesicht
zu bringen, zusammenhängen, daß die theologischorientierten
Exkurse, wie der eben erwähnte Exkurs über
das Gesetz oder auch Exkurs 6 „Die Gerechtigkeitslehre
des Gal.", Exkurs 7 „Das Schriftverständnis des
Paulus" u. a. weniger befriedigen als andere Partien des
Kommentars. Daß — um eine Einzelfrage zu nennen —
„der kategorische Indikativ" den „kategorischen Imperativ
" nach Paulus „aus sich heraussetzt", ist wohl richtig.
Aber wie stellt sich dem Verfasser, der gegenüber dem
idealistischen, magischen und „dialektischen" Verständnis
des Verhältnisses von Indikativ und Imperativ in
der paulinischen Paränese ein eigenes und neues vertritt,
„die eschatologische Realität", die als ein „Übergangsund
Schwebezustand zwischen diesem und dem zukünftigen
Aion" eben die Notwendigkeit des Imperativs aus
dem Indikativ begründet, eigentlich dar? Wie insbesondere
wird sie konstituiert? (S. 109/110).

Was die bei der Auslegung des Gal. zur Sprache
kommenden historischen und exegetischen Einzelfragen
betrifft, so ist die Auslegung Oepkes in einem
guten Sinn konservativ, d. h. von einer wohltuenden
Skepsis gegen die Historie getragen, die Skepsis und
Wissenschaftlichkeit in eins setzt, und zugleich abhold
einer sich allein als rechtgläubig empfindenden A.pologe-
tik. So kann seinen Einzelergebnissen m. E. weithin zugestimmt
werden. Er tritt z. B. mit Recht für die sogenannte
Nordgalatienhypothese ein, vermag auch Gal. 2,
lff. mit Apg. 15 zusammenzusehen, versteht die Gegner
des Paulus in Galatien nicht als Gefolgsleute des
Petrus oder Jakobus, sieht mit Recht in Antiochien zwischen
Petrus und Paulus keinen grundsätzlichen Gegensatz
aufbrechen u.a.m. Theologisch entnimmt er dem
Galaterbrief eine Rechtfertigung der reformatorischen
Thesen (S. 130 f.) und hält inn daher für wohlgeeignet,
eine Waffe gegen moderne Irrtümer zu sein.

Wuppertal Schlier

W e n d 1 a n d, Prof. Dr. theol. Heinz-Dietrich: Geschichtsauffassung
und Geschichtsbewußtsein im Neuen Testament. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 1938. (84 S.) gr. 8°. RM 3.80.

Den Anspruch, den die christliche Gemeinde in der
Welt erhob, das „neue Volk" zu sein, interpretiert der
Verf. als ein eigenartiges Geschichtsbewußtsein,
das nicht in geschichtsphilosophischen Reflexionen seine
Wurzel hat, sondern in dem Bewußtsein, die entscheidende
Wende der Geschichte erlebt zu haben und in dem
„Kairos" zu stehen, in dem sich die Herrschaft Gottes
geschichtlich zu realisieren beginnt. Die Geschichte ist
hier also von der Esehatologie her verstanden. Das eschatologische
Geschehen, mit dem der „göttliche Kairos"
i eingetreten ist, ist Jesu Christi Sendung, welche Mensch-
! werdung, Tod und Auferstehung umschließt. Von hier
aus, als von der Mitte der Geschichte, gliedert sich die
; Weltgeschichte in zwei Teile, Einst und Jetzt; und von
i hier aus empfangen Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
i kunft ein neues Verständnis. Die Vergangenheit wird im
Lichte des Heilsgeschehens als Vorzeit des Heils ver-
I standen, die auf den Kairos hingeordnet ist. Die Gegen-
: wart ist die Heils- und Entscheidungszeit; in ihr vollziehen
sich eschatologisches und Welt-Geschehen noch
| miteinander; „mit der Heilszeit ... ist zugleich Weltzeit
I da, und die Christen leben in beiden Zeiten zugleich"