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Ausgabe:

1939 Nr. 6

Spalte:

228-229

Kategorie:

Kirchenfragen der Gegenwart

Autor/Hrsg.:

Schumann, Friedrich Karl

Titel/Untertitel:

Die evangelische Kirche und die geistigen Mächte des 19. Jahrhunderts 1939

Rezensent:

Wünsch, Georg

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 6

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aller dogmatischen Haltung ist die neutestamentliche
Kritik fruchtbar geworden. Creed betreibt die Geschichte
der Christologie durchaus in systematischer Absicht,
wie das Schlußkapitel zeigt. Er ist in gewissem Sinne
Ritschlianer. Das zeigt seine eigene Anschauung von der
Person Christi. Dreierlei müsse für die rechte Auffassung
der Person Christi beachtet werden: 1. Der Glaube
an Gott als den schöpferischen Geist und Willen über
und in der Welt. 2. Die Bedeutung Christi liegt in seiner
Beziehung zum Schöpfer. Die Inkarnation muß als Offenbarung
des jenseitigen Gottes verstanden weiden.
3. Christus als Weltschöpfer. Damit zeigt sich ein wesentlicher
Punkt, in dem Creed von Ritsehl abweicht: die
Behauptung der kosmischen Bedeutung Christi. Creed
lehnt im Anschluß an das NT. eine Spekulation über
die Person Christi ab, er gebraucht auch nicht die
orthodoxen Aufstellungen, er sagt vielmehr, daß ein
rechtes Verständnis der Gottheit Christi nur dann möglich
sei, wenn diese in Beziehung zum Ziel des Menschengeschlechts
gesetzt werde. Die Unterlassung dieser
Beziehuiigsetzung, d. h. die Betrachtung der inkarnier-
ten Person in sich, sei der Grund der nachnkänischen
Kontroversen. Für Athanasius habe das Ziel der Inkarnation
, Gottes Erlösung der Menschheit, noch im Vordergrund
gestanden.

Sclileiermacher stellt seine Anschauungen in den Kategorien
des Gefühls, Hegel in denen des Denkens, Ritsehl
in denen des Wissens dar. — Schleiermacher wie Ritsehl
nehmen als Ausgangspunkt die Gemeinde. Schi, ist der
erste große protestantische Theologe seit der klassischen
Zeit der Reformation, der in seiner Lehre den
Hauptwert auf den Begriff der Kirche legt. Er entgeht
der einen Gefahr des geschichtslosen (pietistischen) Spiritualismus
, daß Christus direkt zur Seele spreche, und
der anderen der rationalistischen Auffassung, daß Jesus
der bloße Lehrer sei. Schi, denkt geschichtlich. Die Gemeinde
wird durch Teilhabe an ihrem Stifter das, was
dieser ist. Dieser ist supranaturale Person; denn das
Gottesbewußtsein durchdringt völlig sein Leben. Und
er ist naturale Person, die ein wahrhaft menschliches
Leben führt. Die Inkarnation, in der das Endliche vom
Unendlichen aufgenommen ist, ist im Wesen das Gottesbewußtsein
. An diesem hat die Gemeinde teil. Die Inkarnation
ist also bevvuißtseinsmäßig, nicht seinsmäßig
zu fassen. Da die Erlösung Einverleibung in das Gottesbewußtsein
Christi ist, so wird die Heilsbedeutung
des Todes und der Auferstehung Christi illusorisch.
Die Folge dieser Anschauung ist der Fortschrittsgedanke
: die Erlösung wird immer beherrschender und
besser verstanden. Creed kritisiert, daß der historische
Christus und die historische Entwicklung vernachlässigt
ist. Die Bedeutung Schi.'s liege darin, daß er den Wert
des geschichtlichen Christentums einem ungläubigen Geschlecht
vorhalte. Creed tadelt mit Diltliey, daß das
willentliche Element fehle. - Hegels Grundanschauung,
daß das Unendliche endlich werde, um durch Negation
der Endlichkeit wieder unendlich zu werden, macht Tod
und Auferstehung Christi fruchtbar. Kampf, Leid und
Tod als Negation des Endlichen haben positive Bedeutung
, sind Leben. Bei Hegel wird aber Christus
zum Symbol, während bei Schleiermacher Christus schöpferisches
Urbild der geschichtlichen Wirklichkeit ist.
Strauß zieht die Konsequenz aus Hegels Anschauungen.

Die kurze Behandlung der Kenotik (Thomasius) zeigt
den Fehler dieser Anschauung: die Depotenzierung des
Logos, der die Eigenschaften der Allmacht, Allwissenheit
usw. ablegt. Der eigentliche Fehler der Kenotik scheint
m. E. darin zu liegen, daß mau echt rationalistisch zu
wissen glaubt, was die menschliche Natur ihrem Wesen
nach ist. Und ferner, daß diese von uns angeblich gewußte
Natur der feste Punkt und der Logos die variable
Größe sein müsse. Die entgegengesetzte Anschauung
des Doketismus braucht durchaus nicht die menschliche
Natur aufzulösen. Sie verzichtet aber mit Recht auf rationalistische
Erklärung der Natur und setzt — wie es
eben richtig ist — den Logos als den festen Punkt.

Das Verständnis der Theologie Ritschis muß bei der
von ihm an die erste Stelle gesetzten Idee von der Herrschaft
Gottes beginnen. Christus ist der Stifter des Königreiches
Gottes in der Geschichte. Der Glaube an
Christi Gottheit ist der Glaube an die Herrschaft Christi
in der Welt. Mit der Kenotik lehnt R. die Behauptung
der kosmologischen Attribute des Menschgewordenen
ab. Gegen die Kenotik sagt R., die Wahrheit müsse
offenbar und nicht verborgen sein im irdischen Leben
Christi, sonst sei der Mensch an die Spekulation gewiesen
. Creed kritisiert die Ablehnung des kosmologi-

J sehen Aspekts und die Verabsolutierung des Werturteils.
Die Frage, ob die „selbständigen und direkten Wertur-

| teile" nichts weiter als Subjektivismus sind, müßte m.
E. eine Untersuchung des ülaubensbegriffs bei R. beantworten
. Ist nach H. der Glaube göttliches depositum,
dann meint das Werturteil gerade etwas Reales. Ist
der Glaube das nicht, dann wäre R.'s Konsequenz Feuerbach
. Die Betonung des Willensmäßigen hat im Gefolge
den Positivismus R.'s, der sich als kirchlicher und historischer
zeigt. Creed hebt drei für R. wesentliche Elemente
hervor: 1. die Ablehnung der Metaphysik — des
Denkens außerhalb des Glaubens. 2. den historischen
Positivismus und 3. die kirchliche Haltung seiner Theo-

! logie, ohne daß sie klerikal sei.

Auf dem Gebiete der Theologiegeschichte des 19.
Jahrhunderts ist das Buch von Creed mit das bedeutendste
überhaupt. Es dient ausgezeichnet einem tieferen
Verständnis des geschmähten Jahrhunderts. Leider muß
man feststellen, daß bisher nicht wir, sondern ein Engländer
die Ehre der deutschen theologischen Arbeit
des vorigen Jahrhunderts rettet und die „Müllcinier-
theorie" durch den Aufweis der echten und guten Probleme
und ihrer Erlösungsversuche in ihrem Ansehen
gründlich schmälert. Auch das -zeigt Creed, daß wir
durch Überspringen von Jahrhunderten die uns heute
gestellten Fragen nicht lösen. Wir sind dankbar, daß
das Buch den Sinn für die positive Leistung Schleiermachers
, Hegels und Ritschis erschließt.
Berlin - Rudolf Schneider

GEGENWARTSFRAGEN

Schumann, Friedrich Karl: Die evangelische Kirche und die
geistigen Mächte des 19. Jahrhunderts. Berlin : Verlag d. Evang.
Bundes [1938]. (32 S.) gr. 8°. RM 0.80.

Der Titel dieses Vortrags, der auf der 41. Generalversammlung
des Evangelischen Bundes gehalten
wurde, läßt aufhorchen. Er kündet die Auseinandersetzung
des Theologen mit dem 19. Jahrhundert an, um
die Lage der Gegenwart zu verstehen und der Kirche
die Erfüllung ihres Auftrages in der heutigen Zeit klar
zu machen. — Nicht um geistige Strömungen des 19.
Jahrhunderts handelt es sich, sondern um geistige
„Mächte", d. h. um Anschauungen, die das wirkliche

j Leben entscheidend bestimmten. Als solche „Macht"
wird herausgearbeitet der Glaube an Zahl und Maß, an
Berechnung, an mathematische Methode, mit der die
Quantität erfaßt und durch Erkenntnis ihrer Gesetze

! Natur und menschliches soziales Leben technisch beherrscht
werden soll. Die andere Macht wird wirksam
als Glaube an die Gesetze geschichtlichen Geschehens

| und seiner immanenten Entwicklung, noch gefährlicher

j für den christlichen Glauben, weil sie auch Jesu Person
und Werk bestimmt und dadurch grundsätzlich allem
andern geschichtlichen Ereignis gleichsetzt, also relativiert
. Schon einmal ist die Kirche gegen diese Mächte
aufgestanden, im Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts
, als die evangelische Kirche noch beherrschende
Geistesmacht war, aufgestanden gegen die französische
Revolution, die faszinierende Trägerin der Keime dieser
Mächte. Aber die Kirche ist im Verlauf des Jahrhunderts

i schwach geworden in diesem Kampf durch ihre Verbindung
mit dem Staat, der von Romantik und später vom
Liberalismus geistig getragen war. Wie wird die Zu-