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Ausgabe:

1939 Nr. 6

Spalte:

226-228

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Creed, John Martin

Titel/Untertitel:

The divinity of Jesus Christ 1939

Rezensent:

Schneider, Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 6

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der der zweite, „innerliche" Pflichtenkreis sich forme, die Bruderliebe;
und wenn er schlielilich für diese Bruderliebe die natürlichen Pflichten
des „weltlichen" Berufskosmos als von Qott „schon vorgesehenen und
eingerichteten" Verwirklichungsort nennt - dann steht man vor einer
theologia naturalis, in der Luthers „Ethik der Gnade", wie sie der zweite
Teil von De libertate christiana in den Grundzügen entwickelt, völlig
verkehrt wird. Es ist ein rational-spekulatives und im Grunde „profanes"
Verständnis der Gedanken Luthers: „Forderung des exklusiven Glaubens
nur an Gott, der dafür (!) den Menschen mit seinen Liebeskräften durchdringt
, die der Mensch (!) ganz spontan (!) In sein äußeres berufliches
Tun umsetzt" (61); und das geschieht im Rahmen der Kirche „weltlichen"
Reiches. Man sieht: an der „Schöpfungs-Kirche", die zum „weltlichen"
Reich gehört als das „Tor", durch das die Kräfte des „Reiches Christi"
in das „weltliche" Reich eintreten können, setzen die Bedenken gegen
die vorgetragene Konstruktion an. In ihr, in der Welt-Kirche, ist nach
dem Vf. der Prediger „fleischgewordene Bibel" (eine unmögliche Formulierung
für Luthers Idee der viva vox!). Jene Kirche ist geschaffen,
damit die Bibel nicht nur „als ein Stück Literatur", sondern eben in
steter „Verkörperung im Prediger" „den Bedürfnissen jeder Zcitlage voll
und ganz durch lebendige Ausdeutung gerecht" werde (29)! Wenn Luther
der Kirche in den drei Ordnungen den ersten Platz zuweist, so entspreche
das seiner „ausschließlich religiösen Orientierung" (34); die Belegstelle
dafür redet freilich vom Reich des „Evangeliums oder geistlichen Amts" !
Und Luther denkt an das Corpus Christi mysticum und an dessen
Präexistenz.

Vf. hat dennoch bei seiner Konstruktion ein Dreifaches richtig erkannt
: 1. daß bei Luther der — in der späteren Orthodoxie zur triplex
hierarchia einer sozialmetaphysischen Dreiständelehre verbogene — Gedanke
von den drei Hierarchien den Rahmen bildet, in den er die vita
christiana umfassend und ordnend einzeichnen kann. Aber nicht mehr!
2. Daß die übliche, der Schrift „Von weltlicher Obrigkeit" folgende Darlegung
der sog. Zwei-Sphären Theorie daran krankt, daß sie den Gegensatz
zwischen „Welt" (als Machtsphäre Satans) und Reich Gottes (bzw.
regnum Christi) mit dein Gegensatz von Welt und (sichtbarer) Kirche
gleichsetzt (E. Troeltsch). 3. Daß die „Kirche" für Luther die „soziale
Grundkategorie" (E. Seeberg) ist. Aber es handelt sich um die Kirche
in ihrem Wesenssinne als eschatolgische communio sanetorum, als
Corpus Christi mysticum. Auf sie sind die drei Hierarchien unmitfelbar
bezogen nicht in einer „Harmonie", sondern als „Dienstleistungen"
für sie in der „Welt". Von ihr allein erhalten sie umgekehrt ihre eigentliche
„Kraft", werden sie gleichsam zu Heerhaufen, in denen Christus
sein Reich den Anläufen Satans entgegen durchsetzt. Und als besonders
deutliche Repräsentation jener Bezogenheit aller drei Hierarchien — man
beachte: „Hierarchien"! — auf das Corpus Christi mysticum hat die
institutionelle Kirche („weltlichen" Reichs, wie M. sagen würde) ihren
»Vorrang". Vor allein aber: gerade darin, daß die drei Hierarchien in
dieser Sicht gleichwertige „Helfer" Gottes sind, sind sie zugleich Masken,
arvae, und das heißt: ungreifbar für eine so statische Idealkonstruktion
einer' vorgegebenen Harmonie, wie Vf. sie vorführt. Wie wenig sein
»System" der Lebendigkeit und dem Spannungsreichlum Lutherischen
Denkens gerecht wird, deckt sich dort auf, wo er aus dem spannungsreichen
Bczichungs- ja Kampfverhältnis der beiden Reiche, aus ihrem
bewegten Ineinander eine schematische Trennung von Innerlich und
Äußerlich machen muß: die irdische Berufsarbeit soll zwar mit Ausnutzung
aller Anlagen und Kräfte geschehen, aber rein äußerlich, „mit
leerem Herzen" — denn das Herz gehört Gott (62). Während es doch
das Kennzeichnende des Lutherschen Bcrufsgedankcns ist, daß das von
Qott „bewohnte" Herz, das in der Freiheit des Gebundenen, in der
Kraft geschenkter Gottcskindschaft nach außen wirkt, wirken muß, um
in der Nächstenschaft im irdischen Beruf dem anderen ein „Christus^
zu werden. Ganz zu schweigen davon, daß „innerer" und „äußerer"
Mensch bei Luther nicht als Kategorien einer derartigen metaphysischen
Anthropologie von Herz und Hand gemeint sind, sondern die paulinische
Rede von „geistlich" und „fleischlich" aufnehmen, (vgl. zur Kritik meinen
zusammenfassenden Aufsatz: Zur Soziallehre des Luthertums: Kirche,
Bekenntnis und Sozialethos, Genf 1934).

Ich kann hier abbrechen. Was Vf. in den folgenden Abschnitten
seines Buches im einzelnen über Luthers Obrigkeitsfassung sagt, ist zwar
da und dort m. E. verfehlt (z. B. Obrigkeit und Kirchenreform, 85 ff.;
Obrigkeitspyramide, 103 ff.; besonders die Beschreibung der Gehorsamsforderung
gegen die Obrigkeit als „notwendige Folgerung (!) aus dem
Wesen (!) der Lutherschen Gesellscliaftordnung" 110 ff.), an anderen
Stellen durchaus richtig (etwa die Ausführungen über Tyrannis und Anarchie
, bei der ein Abschnitt über die „Wundermäiiner", die homines
heroici und zur Frage des Widerstandsrechts hätte ergänzend hinzutreten
können), im ganzen aber nicht sonderlich neu. Es führt nicht viel weiter
und regt, zumal bei der stark schematischen Art der Darstellung, auch
im zweiten Hauptteil, zu grundsätzlicher Auseinandersetzung nicht an.
Wenn Vf. aber zum Schluß erklärt, Luther habe zwar keine „wissenschaftliche
Staats- und Gcsellschaftslehre" gegeben, aber „doch etwas,
*as die Menschheit ebenso notwendig braucht und was uns heute völlig
fehlt: eine Metaphysik des Staats- und Gesellschaftslebens, eine Metapolitik,
eine Mctasoziologic und Metahistorie auf der Grundlage des christlichen
Glaubens", so hat er zweifellos hinsichtlich des Urteils über die Gegen-

I wart nicht Recht; die neuere protestantische Ethik weist eher ein Zuviel
j als ein Zuwenig an Bemühungen um eine „Metaphysik des Staats- und
j Gesellschaftslebens" auf, wobei Luther sich von einem mehr oder minder
I idealistisch oder romantisch geleiteten Denken oft Gewalt antun lassen
I muß. Die Formulierung jenes Satzes aber erinnert noch einmal an das
j Zweifelhafte j ed es Versuchs, aus Luther als „religiösem Menschen" eine
j Metaphysik der Gesellschaft zu erheben. Der Prediger des Evangeliums
| in der „Unterrichtung der Gewissen" muß sich solchem Unternehmen
versagen, weil nach seiner Glaubenserfalirung weder die communio sanetorum
noch das „Ich" des Christenmenschen rational verfügbar sind. Es steht
— im Unterschied zum römischen Katholizismus, der seine Sozialtheorie
I hat, weil er sie ebenso wie die rationale Anthropologie der anima naturaliter
I christiana haben kann — hier alles im Glauben und im Gehorsam, d. h.
; im ausschließlichen Wirken des Gottes, der sich in Christus „für uns"
j offenbart. Bei dieser Gelegenheit sei noch hingewiesen auf eine die
i Forschung in wertvoller Weise bereichernde und weiterführende rechts-
j geschichtliche Studie, die zugleich dem juiistischen Denken bei Luther
nachspüren möchte: Joh. Heckel, Recht und Gesetz, Kirche und Obrig-
keit in Luthers Lehre vor dem Thesenanschlag von 1517 (Z. f. Rechts-
gesch. 57. Bd., Kau. Abt. 26, 1937, S. 285-375). In ihr findet sich u.a.
der beachtliche Satz: „Ihre Würde erhält die Obrigkeit . . . durch ihre
heilsökonomische Funktion". Einen Beitrag zur Frage des Corpus christi-
anum bei den Reformatoren bringt auch die Sudie von B. Brockelmann
, Das Corpus Christianum bei Zwingli, Bresl. Hist. Forsch. 5, 1938.
Halle/Saale Emst Wolf

GESCHICHTE DER THEOLOGIE: NEUE ZEIT

Creed, John Martin: The Divinity of Jesus Christ. A study in
the history of Christian doctrine since Kant. Hulsean Lectures 1936.
Cambridge: At the University Press 1938. (X, 146 S.) gr. 8°. 6 s.
In der deutschen theologischen Literatur wird man
bis auf O. Pfleiderer, Die Entwicklung der protestantischen
Theologie in Deutschland seit Kant und in
Großbritannien seit 1825, zurückgehen müssen, um ein
Werk zu finden, das die deutschen und englischen Entwicklungen
auf dem Gebiete der dogmatischen Theologie
darlegt. Die theologiegeschichtlichcn Forschungen
Kattenbusch's seien kurz genannt. Über die Geschichte
der Christologie im 19. Jahrhundert informiert kurz und
klar die Dogmatik von Nitzsch — 3. Aufl., 1912, bearb.
von LI. Stephan.

Das Besondere und Neue, das die von Creed herausgegebenen
Vorlesungen bieten, besteht in folgendem:
1. Die parallele Entwicklung der Christologie in Deutschland
und England wird herausgestellt. 2. Bei der Bearbeitung
der deutschen Entwicklung wird von der Gesamtanschauung
etwa Schleiermachers aus seine Lehre
von der Person Christi entwickelt. 3. Die Einflüsse
der Philosophie und der Weltanschauung auf die Theologie
werden stark berücksichtigt. 4. Creed entwickelt
— ob gewollt oder nicht — tatsächlich die Geschichtsanschauungen
Schleiermachers, Hegels und Ritschis, wie
es für eine Behandlung der Inkarnatton, die von einer
Gesamtschau herkommt, sich von selbst ergibt. — Dankenswert
ist auch die Methode der Behandlung, die vermittels
der Analyse entscheidender Stellen die Belege
liefert, ohne in der Masse der Belege zu ersticken.
Bei der Lektüre dieses Buches ist man durch den Fluß
und das Pathos der Sprache „bei der Sache".

Die gegenwärtige philosophische Situation in England
kennzeichnet Creed dahin, daß eine Synthese von
Logizismus und idealistischer Spekulation versucht wird.
Nachdem die Philosophie Hegels in den letzten Jahrzehnten
des vorigen Jahrhunderts eine bedeutende Rolle
i gespielt hat, zeigen sich realistische Strömungen. Der
j Positivismus als typischer Ausdruck englischen Denkens
hat daneben bis heute seine Bedeutung. — Theologisch
ist die Lage gekennzeichnet durch die Ablehnung des Liberalismus
und durch die Herausstellung der echten
| christlichen Offenbarung. Das Dogma kommt wieder
j zur Geltung. Doch ist in Deutschland der Bruch mit
den theologischen und philosophischen Traditionen stärker
als in England. Instruktiv ist die Rolle, die der
Hochkirchler Liddon mit seinem christologischen Werk
j „The Divinity of Our Lord and Saviour Jesus Christ"
! gespielt hat für die Auferstehung des Dogma. Bei