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Ausgabe:

1939 Nr. 6

Spalte:

223-226

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Matthes, Kurt

Titel/Untertitel:

Luther und die Obrigkeit 1939

Rezensent:

Wolf, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 6

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Problem von Gesetz und Evangelium zusammengehören (31—36).
Nachdem D. nachgewiesen hat, daß Luthers „gutes Gewissen" gegen
Deutelmoser nicht aus der Selbstherrlichkeit einer unmittelbaren Gottesgeburt
in der Seele, sondern aus dem Glauben an die Gnadenzusage
des verbum externum zu begreifen ist (50), geht er, anknüpfend an
de libertate christiana (der Christenmensch ein freier Herr und ein
dienstbarer Knecht), der Frage nach, wie der Christ nach dem
„äußerlichen Menschen" in den drei Ständen (55 ff.) lebt, wobei
der ordo politicus eine besonders ausführliche Behandlung erfährt
(61 ff.). Dabei ergibt sich, daß Luther zwar deutlich als Richtschnur
des obrigkeitlichen Handelns die Vernunft (nicht die Schrift) herausstellt
, dabei aber keineswegs darauf verzichtet, die obrigkeitliche
Person von der Schriftoffenbarung her anzureden (72). Gottes Wort
dringt auf Gottesfurcht, Liebe zu den Untertanen, Vorsicht gegenüber
menschlichen Ratgebern, bescheidene Strenge gegen die Übeltäter
und gewinnt dadurch hohe Bedeutung für die rechte Ausübung des
obrigkeitlichen Amtes (73—86). Beim Untertanen erweist sich das
Zugleich der beiden Reiche an der Begründung, Reichweite und Begrenzung
des geforderten Gehorsams (87—98). Das Leben in den
drei Ständen stellt den Christen in die Anfechtung durch das (anklagende
) Gesetz und dient dadurch der Übung seiner Taufe (98—106).
Die Vermischung der beiden Reiche ist deshalb seclenvcrdcrbend,
weil sie zu Gesetzlichkeit und Scheinheiligkeit führt (110 ff.). Sie
vollzieht sich nicht nur in der römischen Zueignung der Bergpredigtforderungen
an den „Stand der Vollkommenheit" und in der schwärmerischen
Ersetzung der weltlichen Ordnungen durch das offenbarte Gesetz
, wobei in beiden Fällen das eigentliche Werk des Gesetzes, Erkenntnis
der Sünde zu wirken, verkannt wird, sondern auch in der
antinomistischen Verwerfung des Gesetzes (110—119). D. geht dann
auf Luthers Proteste gegen die Übergriffe weltlicher Herren auf das
geistliche Gebiet und besonders auf die Frage des Landesherrlichen
Kirchenregiments ein (119—127). Die corpus-Christianum-Vorstellung
lehnt er als unlutherisch ab (127—131). Schließlich erörtert er
Luthers Kirchenbegriff (polemisch gegen Sohm), die Lehre vom Predigtamt
und der Externität des Wortes Gottes, die Vorstellung von
der Welt als „Gottes Mummerei" und die Unterscheidung von justitia
civilis und justitia dei. Das Ergebnis der Arbeit ist in einer Thesenreihe
zusammengefaßt (163 ff.).

D. ist mit den Quellen gut vertraut und hat sich in der Lutherliteratur
umgesehen. Bei seiner Thetnastcllung hätte er freilich die Arbeiten
von C. Stange und R. Hermann nicht übergehen dürfen. D.s
Schrift bringt auch eine Reihe guter Einzelbeobachtungen und Formulierungen
, auf die hier nur summarisch hingewiesen werden kann.
Dersekovv bei Greifswald E. Schott

Matthes, Lic. Dr. Kurt: Luther und die Obrigkeit. Die Obrigkeitsanschauung
des reifen Luther in systematischer Darstellung. München
: Ernst Reinhardt 1937. (169 S.) gr. 8° = Aus der Welt christl.
Frömmigkeit, hrsg. von Fr. Heiler. H. 12. RM 4.80.

Vf. will mit seinem Buch die „geschichtlichen Voraussetzungen
schaffen . . . helfen für die Lösung der
gerade heute so wichtigen und dringlichen Aufgabe:
von den Offenbarungswahrheiten des Christentums her
und mit der gottgeschenkten Gabe der Erfassimg religiöser
Wirklichkeiten die metaphysischen und transzendenten
Lebensgesetze und Grundlagen von Staat und
Gesellschaft zu verkünden . . ." (1G9). Dabei ist Matthes
In seiner Wendung zur Gegenwart wie auch in der
Darstellung selbst recht zurückhaltend: er redet bewußt
nur von der Obrigkeitsanschauung des reifen Luther
und betont dabei, daß es sich um die Anschauung
eines religiösen, nicht eines politischen Menschen handle
(gegenüber dem Deutelmoserschen Lutherbuch ist hier
die Feststellung beachtlich: „Weil Luther das Prinzip
der Macht überhaupt nicht anerkennt, sondern es auf
das schärfste verurteilt, wo es ihm in dem politischen
Leben seiner Zeit entgegentritt, kann es schon deswegen
nicht bei ihm soziologisch-schöpferisch und gestaltend
auftreten'', S. 113). Er redet zugleich eine abstrakte
Sprache, die in ihrer Terminologie lebhaft an Werke der
liberalen Religionsphilosophie erinnert.

Matthes setzt ein bei der nach seinem Urteil für
Luther entscheidenden Idee des Corpus c h r i s t i a-
n u m. Diese Idee, bereits ihre Formulierung, ist bekanntlich
in der Lutherforschung lebhaft umstritten. Vf.
hat in einem früheren Werk (Das Corpus christianum
bei Luther im Lichte seiner Erforschung, 1929) darüber
ausführlich berichtet. Vom Hintergrund der aufklärerischen
Deutung der Staatsanschauung Luthers, die erstmals
die Vorstellung von einer umfassenden res publica

christiana beseitigt, hebt sich die neulutherische, am
„christlichen Staat" ausgerichtete Deutung ab durch die
noch etwas zaghafte Inanspruchnahme der Corpus-chri-
stianum-Idee. In der neueren Forschung setzen Männer
wie Brieger, Drews, vor allem K. Holl und nach
ihm W. Walther, G. Holstein, H. Boehmer u. a. die
i „aufklärerische" Linie insofern fort, als sie bei Luther
j die Anfänge des „modernen" Staates im Zwielicht der
j idealistisch oder romantisch gefaßten ethischen Staats-
! persönlichkeit oder ähnliches entdeckten. Dagegen weisen
andere (Sohm, Rieker, K. Müller, Troeltsch, E.
Foerster, W. Köhler) gerade durch Heranziehung eines
Corpus-christianum-Gedankens bei Luther ihn menr oder
i minder betont dem Mittelalter zu. Matthes selbst schließt
sich dieser Gruppe an. Sie hat fraglos die historische
Richtigkeit mehr auf ihrer Seite. Aber es fehlt noch
an einer klaren Herausarbeitung der Eigenart von Lut-
! hers Corpus-christianum-Vorstellung und seiner Staats-
i und Gesellschaftsanschauung in deren Licht. Diesem
Mangel will Matthes nunmehr abhelfen. Die Corpus-
christianum-Idee ist für ihn der Schlüssel zu einem sachgemäßen
und einheitlichen Verständnis der mannigfachen
j Aussagen Luther über Staat und Gesellschaft.

Nach einer Einleitung, die einiges über diesseitige und jenseitige
I „Werte" sagt, und nach einer vorläufigen Erfassung von „geistlichem"
und „weltlichem" Reich bei Luther — wobei das geistliche Reich als
reine „Innerlichkeit", das weltliche als die „Summe aller gottgeschaffenen
und gewollten gesellschaftlichen Formen für das Handeln des Menschen"
gekennzeichnet und beide zueinander in ein durch die Bezogen-
heit der Schöpfung auf die Erlösung bestimmtes Verhältnis gesetzt
werden — bringt Matthes im ersten Hauptteil seines Werkes
die Darstellung von Gottes Schöpfung der gesellschaftlichen Gliederung
der Menschheit in ihrer „normalen" Tätigkeit, also das „reine
gottgewollte Ideal der Gesellschaftsordnung". Der zweite Hauptteil
führt dann diese ideale Konstruktion „im Besitze Satans" vor (118 ff.),
i Die Metaphysik der Gesellschaft, die Vf. aus Luther als Idealbild herausholt,
und aus der er dann die F.inzelaussagen über Struktur und Funktion der
Obrigkeit ableitet (vgl. z. B. S. 85 u. 110), knüpft an an Luthers Lehre
i von den drei Hierarchien — Familie, Obrigkeit, Kirche — und an den
] Berufsgedanken Luthers. Hier wie dort handle es sich um Funktionsformen
j Gottes selbst. Daher fehle in Luthers Berufsgedanken (vgl. dazu K. Holl,
Ges. Aufs. z. Kirchengesch. I, 259 ff.) die Erwägung, daß die Anlage des
Menschen seinen Berufe bedinge, und sodann auch die Sorge, daß die
immanente Lebendigkeit eines irdischen Berufs seine religiöse Inanspruchnahme
gefährden könne (22 f.); glücklicherweise widerspricht Vf. später
diesen seinen Thesen selbst (57 f.), während die von ihm behauptete
Trennung weltlicher und sakraler, erst im Vollsinnc christlicher Berufe
(22f.) leider ohne die erforderliche Richtigstellung bleibt. Familie
(= „Gesellschaft"): in ihr lebt Gott nach seiner Funktion als Schöpfer und
Erhalter; Obrigkeit: in ihr lebt Gott mit Zorn, Strafe, Gericht;
„Kirche" — u. zw. als vor- und überchristliche Schöpfungsordnung,
getrennt vom „geistlichen Reich" —: In ihr lebt (trotz ihrer Vor-Christ-
lichkeit!) Gott als „Vergebung der Sünden, Liebe und Beseligung". So
i sieht die Grundglicderung des irdischen „Berufskosmos" aus, wobei der
Beruf selbst eine „halbreligiöse Größe" ist. Gott hat jenen Kosmos als
i Harmonie gestaltet und ihm das Grundgesetz seines Bestandes eingestiftet:
daß kein Beruf seine Grenzen überschreiten dürfe. So sehr die drei
' Ordnungen ihre Namen a parte potiori tragen, so streng sind sie je an
I ihren Bereich gewiesen. Über allem steht Gottes potentia ordinata. Und
I das ideale Funktionieren läßt Gottes Schöpfung nls die beste aller Welten
i in Erscheinung treten. Die unentbehrlichen Stücke der Grundordnung
' sind Familie und Kirche. Wegen des Sündenfalls, aber nicht nur seinetwegen
(wenngleich über die schöpfungsmäßige Art des Staates Luther
als nicht positiv politisch eingestellt nur zurückhaltend sich äußere), ist
die dritte Ordnung gesetzt mit der besonderen Aufgabe, die den Bcrufs-
I kosmos bedrohenden Kompetcnziiberschreitungen der Berufe untereinander
zu hindern Wirkt Gott durch diesen Kosmos im Raum der Äußerlichkeit,
| so ist das Innerliche ihm allein vorbehalten. Aber auch jenes „weltliche"
j und dieses „geistliche" Reich sind einander harmonisch zugeordnet und
von Gott zu einer umfassenden Einheit „von zugleich sakralem und
■ profanem Charakter zusammengefügt" (46): zur „Christenheit", zum
Corpus christianum als der „letzten soziologischen Einheit". Von diesem
Corpus-christianum-System (das freilich bei Luther oft auf die Anschauug
von den zwei Reichen oder Regiment „zusammenschrumpfe") aus werden
Luthers Aussagen über Funktion und strukturellen Aufbau der Obrigkeit
in ein Schema strenger Deduktionen eingeordnet (53).

Wenn Vf. dabei zunächst den „religiösen Pflichtenkreis" in Luthers
Ethik behandelt und für ihn — auf Grund der „Kirche" des weltlichen
Reichs — ohne Rücksicht auf die Offenbarung als Grundpflicht den
Glauben des Menschen an Gott bestimmt und „Gottes Geschenk seiner
Kraft und Tätigkeit in das menschliche Herz" als Antwort darauf, aus