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Ausgabe:

1939 Nr. 6

Spalte:

222-223

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Diem, Harald

Titel/Untertitel:

Luthers Lehre von den zwei Reichen untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus 1939

Rezensent:

Schott, Erdmann

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Theologische Literaturzeitung 1939 Nr- 6

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eingegossen ist, so bedeutet dies, daß es weiterhin i
versucht, Befriedigung für sein Begehren zu gewinnen, 1
aber nicht mehr in den sinnlichen Dingen, sondern |
an einem überweltlichen bonum. Hier ist der Blick
unablässig auf das eigene Ich und das, was dessen Be- i
dürfnisse befriedigen kann, gerichtet". Immerhin hat j
Augustin In seinen Caritasbegriff soviel vom Agapemotiv
eingebaut, daß die Frage nach der Art und Bedeutung
der christlichen Liebe in der Fortsetzung nicht zur |
Ruhe kommen konnte.

Im vollen Gegensatz zu Augustin steht Luther, er hat
die Synthese aufgelöst. Ganz im Gegensatz zu Augustiii [
schließt Luther jede anthropozentrische Betrachtung aus, >
diese Ablehnung jedes Anthropozentrismus ist geradezu |
das Herzstück seiner Theologie. Die Reformation ist j
theozentrisch orientiert und konnte und mußte gerade |
deswegen die Synthese Augustins zerbrechen. Unter der
Uberschrift „Der Kampf gegen die Himmelsleitern" zeigt i
Nygren, wie Luther die augustinische und die von ihr
bestimmte mittelalterliche „Tendenz nach oben", jeden
„Aufstieg" zu Gott durch meritum, Spekulation oder
Mystik, also jeden Versuch, sich selbst zu bereichern,
also alles, was dem Eros-Motiv entstammt, radikal ablehnt
. Der „gekrümmte" Mensch erscheint bei Luther
„in sich selbst gekrümmt", auch wenn er sich von aller
Krümmung „nach unten" freigemacht hat. Das sind an
sich bekannte Dinge, die aber meistens vom Glaubensbegriff
her beleuchtet werden, hier aber • neues Licht
bekommen durch die Hineinstellung in das Liebesproblem
. Damit wird auch die landläufige Meinung, bei
Luther hätte die Liebe hinter den Glauben zurücktreten
müssen, abgelehnt, bezw. auf ihr richtiges Maß zurückgeführt
. Alles aus Gnaden. Der Christ ist geradezu
ein „Kanal" für Gottes herabströmende Liebe. „Luther
ist nicht bange, darauf zu drängen, daß der Strom der
Liebe nach unten gerichtet werden soll. Denn die Liebe,
von der er spricht, ist ja nicht eine begehrende Liebe,
sondern Agape. Alles, was Agape heißt, stammt von
Gott. Von oben kommt seine Liebe zu uns herunter
und durch uns soll sie zu unserm Nächsten weitergehen
. Die aus dem Kreuz geborene Liebe sucht nicht
das Ihre, sie hat auch den Gedanken an fruitio hinter
sich gelassen. ,Sie wendet sich — sagt Luther (wie es
scheint polemisch gegen Augustins fruitio-Liebe) — nicht
dahin, wo sie das zu genießende Gute findet, sondern
dahin, wo sie das Gute dem Armen und Elenden bringen
kann'".

Mit diesem Zentralergcbnis der Arbeit ist nun eine Fülle von Einzelbeobachtungen
und -erkenntnissen verbunden, die auf viele einzelne
dogmengeschichtlichcn Dinge ein neues Licht fallen lassen. Zunächst
wird der Weg vom Neuen Testament zu Augustin an der Entwicklung
des Liebesgedankens aufgehellt. Im Onostizismus überflutet das Erosmotiv
das Christentum wie eine Sturzwelle und gefährdet die drei christlichen
Orundpositionen der Schöpfung, der Inkarnation und der Fleisch
csauferstehtiny. Demgegenüber schärfen die apostolischen Väter und
die Apologeten das Bewußtsein für die Agape als von Gott geforderte
Liebe, sie ist hier zwar „neues Gesetz", aber ein unbedingt neues
Gesetz, womit ein Gesichtspunkt gewonnen ist, der die Agape des Kreuzes
gegen jede Form des jüdischen Nomismus einerseits wie gegen jedes
Erosdenken anderseits abgrenzt. So springt der Gegensatz der Apologeten
gegen jede Art von Onosis klar heraus. „Letzten Endes ist es
der Streit zwischen einer theozentrisch und einer egozentrisch orientierten
Religion". Bei Marcion findet sich stärkste Reaktion gegen Nomis- ;
mus und Erosfrömmigkeit, aber der Agapegedanke wird bei ihm stark i
verkürzt durch Ablehnung der guten Schöpfung Gottes, des Inkarnationsgedankens
und durch seine Verflüchtigung des Auferstehungsgedankens.
Die drei großen Väter Tertullian, Origenes und Irenaus werden von
Nygren so gesehen, daß Tertullian wesentlich nomistisch, Origenes j
wesentlich hellenistisch und Irenäus hauptsächlich biblisch denkt, doch
wird bei allen dreien das vom andern her Entgegenstehende und Einfließende
, eine Synthese Vorbereitende auch herausgestellt. Auch Irenäus
hat der geistigen Lage der Zeit seinen Tribut gezollt, wie besonders
sein Gedanke der „Vergottung" des Menschen zeigt. Erst Augustin
schafft die echte Synthese mit dem Caritasbegriff, wie er bereits darge-
legt worden ist. Diese Synthese beherrscht dann das Mittelalter, zumal
im Mönchtum, was besonders an den Lehren von den „Himmelsleitern",
auf denen der Mensch zu Gott aufsteigt, deutlich wird. Immerhin dankt
es die mittelalterliche Kirche Augustin, daß sie immer um die Agape
gewußt und - zumal in der Lehre von der Freundschaftslicbe - die

begehrliche Liebe zugunsten der selbstlosen Liebe zu überwinden getrachtet
hat, eine Sublimierung der augustinischen Lehre, mit der sie
der Sprengung der Synthese vorgearbeitet hat.

Theologiegeschichtlich ist das vorliegende Werk gekennzeichnet durch
eine starke Kritik an der Harnackschen Stellung zu den beregten Fragen.
Es steht auf dem Hintergrund der neuen Sprengung einer Synthese,
nämlich der bei Schleiermacher neu geformten Synthese von Eros und
Agape, wie sie in den letzten Jahrzehnten auf der Linie Stange-Holl-Barth
erfolgt ist. Vor dieser neuen Sprengung sehen die Dinge sich anders
an als nach der Sprengung. Harnacks Grundthese von der akuten
Hcllenisierung des Christentums wird in Frage gestellt. Unter dem Gesichtspunkt
der Motivforschung, die nach dem „Sinn" der begrifflichen
Formungen fragt, heißt es: „Das Grundmotiv, das sich hinter dem altkirchlichen
christologischen Dogma verbirgt, ist nicht Eros. . . Die altkirchliche
Doginenbildung hat im Gegenteil eine außerordentliche Rolle
für die Bewahrung des Christentums gespielt. Sie hat eine wirksame
Schutzmaucr gegen die Auflösung des Christentums in der umgebenden
Religionsvermischung errichtet." Ob hier Harnacks überspitzte These
nicht noch überspitzter gesehen wird? Ob nicht Harnack Nygrens Worten
über die Schutzmauer zustimmen würde? Die Apologeten hat Harnack
zu rationalistisch-deistisch gesehen, sein Urteil wird von N. als „eine
die wirkliche Lage recht entstellende Konstruktion" beurteilt, vor allem
im Blick auf Justin. Die Polemik der Apologeten gegen die natürliche
Unsterblichkeit der Seele wird von Harnack nicht als kontradiktorisches
Bekenntnis zur Fleischesauferstehung erkannt. Der Gnostizismus wird
von ihm zu positiv gewertet, wenn er meint, er habe dem Christentum
„eine eindeutige Struktur" gegeben, er habe ein eindeutiges religiöses
Motiv gar auf der Grundlage der christlichen Verkündigung vertreten, denn
der Gnostizismus brachte ein „fertiges, fremdes Motiv" in das Christentum
hinein und stutzte damit seinen Sinn zurecht. Der Streit zwischen Gnostizismus
und Apologeten ist daher auch nicht — wie Harnack wollte - ein Streit
zwischen Religion und Moral, „es ist vielmehr ein Streit zwischen zwei verschiedenen
religiös-ethischen Grundeinstellungen, zwei religiösen und ethischen
Anschauungen, die jede von ihrem Zentralmotiv getragen wird". Zu
Unrecht findet Harnack bei Augustin ein magisches und naturhaftes Verständnis
der Gnade. „Nichts hat Augustin ferner gelegen, als damit (seil,
mit Anknüpfung an Römer 5,5) eine magische und naturhafte Gnadenauffassung
behaupten zu wollen. Wenn man überhaupt die Alternative
.magisch und naturhaft' einerseits und persönlich und psychologisch' anderseits
aufstellen will, dann muß man Augustins Auffassung entschieden
dem letztern Gliede unterstellen." Vor allem aber beurteilt Harnack
das Verhältnis von Augustin und Luther „in ganz entgegengesetzter
Weise", nämlich nicht als Sprengung einer Synthese Augustins, sondern
als Synthese der christlichen Innerlichkeit Augustins und der klaren
Heiterkeit der Antike. So greift die moderne Einsicht in die Diastase
von Idealismus und Christentum von der systematisch-theologischen Betrachtung
über auf das Gebiet der Kirchen- und Dogmengeschichte. Zu
dem starken Umdenken, das hier angehoben hat und fortgeführt werden
muß, stellt Nygrens Buch einen wesentlichen Beitrag dar.

Lanz (Westprignitz) Kurt Kessel er

GESCHICHTE DER THEOLOGIE:
REEOIMA TIONSZEIT

Di em, Harald: Luthers Lehre von den zwei Reichen untersucht
von seinem Verständnis der Bergpredigt aus. Ein Beitrag zum Problem:
„Gesetz und Evangelium". München: Chr. Kaiser 1938. (173 S.) 8"
= Beiheft 5 zur „Evangelischen Theologie". RM 3.50.

Die gegenwärtige Oesprächslage über das in Rede stehende Problem
sieht D. bestimmt durch Deutelmoser und ihm nahestehende
Theologen (Meyer-Erlach, H. M. Müller, auch Stapel), die ihrerseits
wieder unter dem Einfluß von Rudolf Sohms berühmter These von
der Unsichtbarkeit der Kirche stehen (5—10). Die ganze
durch Sohm inaugurierte Entwicklung (D. nennt Karl Kieker, Erich
Brandenburg, Paul Drews, Ernst Rietschel, Karl Müller, Ernst
Troeltsch) gestört zu haben, sei das große Verdienst Karl Holls(lo),
dessen Gewissensbegriff allerdings nicht geeignet gewesen sei, Luthers
Kirchenbegriff voll zu erfassen (16 f.). Erst der Reformierte
Karl Barth soll das Verdienst haben, die Lutheraner rücksichtslos gefragt
zu haben, „wie es mit Luthers Theologie des Wortes bestellt
und wie auf Grund dessen seine Lehre von ,Gesetz und Evangelium'
tu bestimmen" sei (18) — eine sehr anfechtbare Behauptung!

D.s eigene Untersuchung des Problems setzt bei Luthers Auslegung
der Bergpredigt ein. (Aus inneren Gründen sieht er in den
„Wochenpredigten über Matth. 5—7" WA 32, 299 ff. — gegen Holl
— genuin Lutherisches Gedankengut. 21). Luther meint, als Ausleger
der Bergpredigt mit der Unterscheidung der beiden
Reiche — im Gegensatz zu Rom und zu den Schwärmern — den
rechten Griff zu tun, „der sowohl das Reich Christi als das Reich
der Welt ohne Abbruch zu lassen ermöglicht" (31). Aber gerade
dieses von Luther proklamierte Zugleich der beiden unterschiedenen
Reiche stellt uns vor eine Fülle schwieriger Fragen, die eng mit dem