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Ausgabe:

1938 Nr. 8

Spalte:

147-148

Autor/Hrsg.:

Schultz, Julius

Titel/Untertitel:

Wandlungen der Seele im Hochmittelalter 1938

Rezensent:

Vorwahl, Heinrich

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147

Theologische Literaturzeitung 1938 Nr. 8.

148

sittlichen Grundlehren wenigstens der wichtigsten theolog
. Schriftsteller des christl. Mittelalters dar, nämlich
aus der Zeit der Vor- und Frühscholastik (1. Kapitel)
Alkuin, Anselm v. Canterbury, Abälard, Bernhard v.
Clairvaux, Hugo v. St. Viktor, Petrus Lombardus; aus
der Zeit der Hochscholastik (2. Kapitel) Alexander v.
Haies, Bonaventura, Albertus Magnus, Thomas v. Aquin,
Duns Skotus, Occam und andere skotistische Ethiker;
aus dem Gebiet der spätmittelalterlichen Mystik (3.
Kapitel) Eckhart, Tauler, Seuse, Ruysbroeck, die Theo-
logia deutsch, das Buch von der Nachfolge Christi.
Was ihnen allen gemeinsam ist, wird nur kurz gestreift;
was ihnen eigentümlich ist, wird dagegen in reichlichen
und in gutes Deutsch übersetzten Quellenauszügen betrachtet
und vom katholischen Standpunkt aus, der ihnen
ja allen gemeinsam mit dem Beurteiler war, beurteilt.
Methodisch ist also nichts einzuwenden. Aber auch inhaltlich
nicht; denn die Darstellung ist immer sachlich
und die Beurteilung, vom Standpunkt des Darstellers
aus, im wesentlichen richtig; gegenüber den Mystikern
zwar scharf scheidend, aber nicht voreingenommen und
nicht leidenschaftlich. Es ist besonders dankbar anzuerkennen
, daß Wagner die Mystiker ausführlicher, als es
sonst geschieht, inbezug auf ihre ethischen Grundlehren
untersucht hat; schon deswegen ist dies des Dankes
wert, weil die deutschen Mystiker gerade heute auch bei
Laien Interesse finden und auf sie Einfluß üben. Die
Sprache Wagners ist ein schlichtes, wohlverständliches,
gutes Deutsch. Die berücksichtigte Literatur über das
Thema ist zwar nicht erschöpfend, besagt aber die gute
Hauptsache. Das Buch schließt mit einem Rückblick
auf das, was allen Ethikern der behandelten Epoche
gemeinsam ist, und auf das, was die einzelnen Theologen
in ihren sittlichen Grundlehren von einander unterscheidet
, sowie mit einem (etwas kargen, aber doch alles
Wesentliche weisenden) Sachregister zu allen drei bisher
erschienenen Bänden des Werkes. Druckfehler fand Rez.
kaum über zwölf; der Leser berichtigt sie alle leicht selber
. Dem Verfasser ist die Kraft zu wünschen, dieses
reichhaltige, vornehm gehaltene Sammelwerk, das in seiner
stofflichen Darbietung, was das Wesentliche betrifft,
zuverlässig ist, in seinem Urteil natürlich nicht allgemeine
Zustimmung finden kann, fortzusetzen und zu
vollenden.

Tettnang (Württ.). Wilhelm Koch.

S c h u 11 z, Julius: Wandlungen der Seele im Hochmittelalter. Bd.

I: Gesellschaft, Staat und Politik. Bd. II: Die Welt der Seele. Breslau:
W. H. Marcus 1936. (VI, 264 u. VI, 270 S.) 8°. je RM 7.20; geb. 8—.
Der Verfasser geht von der geschichtsphilosophi-
schen Vorfrage aus, ob sich die Lorenzscbe Generationshypothese
auch innerhalb des hohen Mittelalters bewährt
, und will die Frage, wie Wandlungen der Völkerseelen
Zustandekommen, an diesem Beispiel beantworten
. Den ersten Band eröffnet ein sicher gefügter
Aufriß der Gesellschaft im 12. und 13. Jahrhundert
mit ihren verschiedenen Ständen, der die sozialen und
rechtlichen Wandlungen nur kurz andeutet, da das
Hauptaugenmerk auf die geistige Haltung gerichtet ist.
Man spürt die sichere Führung, wenn der Verfasser
von England, Frankreich und Italien spricht, für die er
besonders umfassende Kenntnisse besitzt. Für die speziell
deutsche Literatur weist er offensichtlich geringeres
Interesse auf, obwohl es hier gerade nicht an Vorarbeiten
mangelt, die ich im „Janus" (Jg. 37, Levde
1933 S. 293 ff.) zusammengestellt habe. Wenn dort
noch Huizinga als der nüchternste und illusionsloseste
Betrachter der spätmittelalterlichen Kulturgeschichte erscheint
, so stellt ihn jetzt Schulz Darstellung weit in
den Schatten.

Wer sich in die Urgefühle des Mittelalters versetzen
will, muß nach ihm davon ausgehen, daß die
mittelalterliche Welt sowohl durch ihre HölLennähe
schaurig, wie durch ihre grausige Wirklichkeit von Galgen
, Tod, Pest und Grausamkeit furchtbar war. So
wurde das natürliche Grauen abgestumpft und blutlüsterne
Träume ans Tageslicht gelockt. Die Kreuzfahrer

I erscheinen Schultz daher als blutgierige Abenteurer und
fanatisierte Totschläger, wie denn überhaupt eine satanische
Wollust am Martern geknebelter Opfer seit dem

j Beginn des 12. Jahrhunderts Europa durchgiftet hat

! — bis die Aufklärung (!) Gegengifte zeugte. Als letzte
Ursache des Seelenwandels, der die frühmittelalterliche
in die hochmittelalterliche Menschheit umgoß, betrach-

i tet Schultz die Zunahme der nervösen Reizbarkeit in

| den Völkern des Nordens, herzuleiten aus zwei Quellen
: Das Christentum durchdrang die Seelen und durchrüttelte
sie mit seinen schreckhaften Geheimnissen —
und die Gewöhnung der Bauerschaften ins enge Straßenleben
der Städte verderbte die Nerven.

Dieser letzte Aspekt erklärt den starken Einbruch

! von Fachausdrücken aus der Psychopathologie, der für
Schultz Darstellung charakteristisch ist. So ist nach
ihm die verliebte Christusminne unter den Beginen
und Nonnen der Niederlande „epidemisch", warf sich
ein „Paranoiker" namens Tankhelm als Paraklet auf,
erscheint Muhammed als „schizothymer" Gaukler, weist
Dominikus „masochistische" Züge im Unterbewußtsein
auf und wird Gott für die mittelalterlichen Theologen
zum „Sadiker über alle Sadiker", womit dem Sinne nach
auf Sadismus angespielt wird. Der Grad der „Trieb-
sublimierung" ist Schultz der objektivste Maßstab für
die Höhe einer Kulturstufe, so daß auch Psychoanalyse
zur Geltung kommt. Für diese Bloßlegung von Tie-

! fenschichten der Seele ergibt sich natürlich, wie wenig
die Rauheit und Roheit des germanischen Lebens in
einem sittigenden Jahrtausend durch die Kirche gemildert
ist. Freilich finden sich daneben überraschende
Feststellungen wie: Keine Macht habe die jungen Völker
so erfolgreich zur Selbstbeherrschung erzogen wie die
Kirche. Oder: Sie hat gegen Fehde und Räuberei geeifert
, das Strandrecht und den gerichtlichen Zweikampf
verboten, Todfeinde versöhnt. Die Lage der Zinsbauern
hat die Geistlichkeit mitunter gemildert und das Elend

I der ewig hungernden Bevölkerungsschichten bekämpften
Mönche und Priester unermüdlich — daß sie den Wohlhabenden
Armen- und Krankenpflege zur Pflicht machten
und selber im großartigsten Stile Wohltätigkeit

I übten, bleibt der unbestrittene Ruhmestitel der Kirche.
Endlich sei nicht zu vergessen, welchen Segen ein rechtschaffener
Pfarrer in seiner Gemeinde durch Beispiel,
Lehre und Seelsorge stiften könne.

So sehr für das Werk die gute quellenikundliche Un-

i termauerung und der scharfe Blick für Probleme wie

i die selbständige, oft mitreißende Stellungnahme einneb-
men, die einen vorzüglichen Kenner des Mittelalters
und seiner Literatur verraten, so sehr stört an der

I lebendigen Darstellung die Uneinheitlicbkeit des Standpunktes
und das Sichgehenlassen im Ausdruck, wenn
Cäsarius als Art von gottseligem Jägerlatein charakteri-

| siert wird oder bei der Abgrenzung verschiedener christlicher
Schichten die „Höllenträume des Rabbi von Na-
zareth" genannt werden. Die saloppe, ja gelegentlich frivole
Grundhaltung von Schultz verdirbt die Freude an
manchem guten Gedanken, an der Fülle des Stoffes und
der Flüssigkeit der Darstellung. Seine Deutung Kaiser
Friedrichs II. in dem er weniger den Übermenschen als
den großen Spieler sieht, der mit sich selbst und zugleich
mit den andern und mit dem Schicksal spielt, zwingt
aber ebenso wie der gesamte methodische Ansatz und
die neuen Fragestellungen zum Nachdenken und verpflichtet
trotz aller vorgetragenen Bedenken doch zur
gründlichen Auseinandersetzung mit dem Verfasser.

I Quakenbrück. H. Vorwahl.

) Clemen, Prof. D. Dr. Otto: Die Volksfrömmigkeit des ausgehenden
Mittelalters. Dresden : C. Ludwig Ungelenk 1937. (48 S.)
gr. 8° = Studien zur relig. Volkskunde. Hrsg. v. Lic. Dr. Jobst u.
W. Peuckert. H. 3. RM 1.20.

Die Volksfrömmigkeit des Mittelalters beansprucht
j unser Interesse sowohl als Vorbedingung des Reformationswerkes
Luthers wie wegen ihrer Weiterwirkung