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Ausgabe:

1938

Spalte:

137-139

Autor/Hrsg.:

Lagrange, Marie-Joseph

Titel/Untertitel:

Les mystères : l'orphisme 1938

Rezensent:

Herter, Hans

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Theologische Literaturzeitung

BEGRÜNDET VON EMIL SCHÜRER UND ADOLF VON HARNACK

unter Mitwirkung von Prof. D. HERMANN DÖRRIES, Göttingen, und Prof. 1). Dr. GEORG WOBBERMIN, Berlin

HERAUSGEGEBEN VON PROFESSOR D. WALTER BAUER, GÖTTINGEN

Mit Bibliographischem Beiblatt, bearbeitet von Bibliotheksrat Lic.Dr.phil. REICH, Bonn, und Bibliothekar Lic. E. STEINBORN, Berlin.

Jährlich 26 Nrn. — Bezugspreis: halbjährlich RM 22.50

Manuskripte und gelehrte Mitteilungen Bind a u b b c h 1 i e ß 1 i ch an ProfeBsor D. BAUER in Göttinpen, Düstere Eichenweg 14, zu senden,
Rezensionsexemplare tu sechlicfilich an den Verlae. Gewähr für Besprechung von unverlangt gesandten Rezensionsexemplaren
, besonders noch bei Zusendung nach Göttingen, kann nicht übernommen werden.

Printed in Germany.

j. C. HIN RICES VERLAG, LEIPZIG Cl

63. JAHRGANG, Nr. 8 ___9. APRIL 1938

Spalte

Clemen: Die Volksfrömmigkeit des ausgehenden
Mittelalters (Vorwahl)......148

Eger: Evangelischer Glaube in der Welt

von heute (Heger).............150

Gronau: Kampf um Entscheidung (Haun) 151
Hocks: Christine Alexandra, Königin von

Schweden (Lerche).............149

Howald: Der Mythos als Dichtung (Herter) 139

Spalte

Kai weit: Verkündigung (Heger)......150

Lag ränge: Critique historique du Nouveau
Testament. I: Les Mysteres : L'Orphisme
(Herter)...................137

Schultz: Wandlungen der Seele im Hochmittelalter
(Vorwahl)............147

Stuhlfauth: Das Dreieck (Vorwahl) ... 141

Spalte

Thiersch: Ependytes und Ephod (Jeremias) 142

Wagner: Der Sittlichkeitsbegriff in der
christlichen Ethik des Mittelalters (Koch). 146

Wertheimer: Christine von Schweden
(Lerche)...................149

Wikenhauser: Die Kirche als der mystische
Leib Christi (Jelke)..........145

Lagrange, P. M.-J.: Critique historique du Nouveau Testament
. I: Les Mysteres: L'Orphisme. Paris: Librairie Lecoffre
(J. Oabalda et Cie) 1937. (VIII, 243 S., 7 Taf.) gr. 8" = Etudes
Bibliques. Introduction ä l'Etude du Nouveau Testament. IV. Fr. 70—.
Wenn Lagrange im Rahmen seiner Einführung in das
Studium des Neuen Testaments der Orphik eine besondere
Behandlung hat angedeihen lassen, so geschah es,
um das seit längerer Zeit vielbesprochene Verhältnis des
Christentums zu dieser Bewegung zu klären; aber er hat
sich nicht damit begnügt, isolierte Züge der Orphik mit
christlichen Phänomenen zu konfrontieren, sondern ein
Gesamtbild gezeichnet, das alles Einzelne aus seinein
Zusammenhange verstehen läßt. Er gibt jedoch nicht so
sehr eine systematische Darstellung von Form und Inhalt
der orphischen Bewegung als eine Geschichte ihrer

alle Falle sehr alt. Lagrange S. 26 f. u. ö. findet aufgrund von Paus.
VIII 37, 5 ihren Urheber in Onomakritos (noch weiter geht Ad. Krueger,
s. dagegen Kern, Religion d. Griech II 164), aber das heißt den Einfluß
des Mannes nun doch weit überschätzen und beruht nur auf einem
Mißverständnis der Ausdrucksweise des Pausanias, die durch seine vertrackte
Herodotnachahmung verunklärt ist. Die Stelle lautet in wörtlicher
Übersetzung: „indem Onomakritos von Homer den Namen der
Titanen übernahm, regelte er für Dionysos Orgien und dichtete, daß die
Titanen die Urheber der Leiden des Dionysos seien" ; als Neuerung
schreibt ihm Pausanias also, wie auch schon der Zusammenhang der
Stelle erkennen läßt, nur soviel zu, daß er die Mörder des Dionysos
Titanen nannte. So wird man denn die Identifikation des Dionysos
mit Zagreus für alteingewurzelt zu halten haben, sofern man nicht doch
an ursprüngliche Identität glauben will, für die immerhin der durchsichtige
Name „Erzjäger" spricht. Lagrange S. 61ff. 79. 87 ff. hält
Zagreus jedoch, besonders auf Eur. fr. 472 N.3 gestützt, für einen kretischen
Gott und glaubt ihn sogar bis in die Zeit der Minoer zurück-

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Entwicklung und Wirkung von den Anfangen bis zu yerfolgen m könn«n D ^ mejnt er g 43f yg f
Origenes. Nach NllssonS besonnener Untersuchung der j Mythos von seiner Zerreißung dem Osirismythos nachgebildet worden
ältesten Zeugnisse (Harv. Theol. Rev. XXV111 19Jo, j während Lobeck diese Nachbildung erst dem Onomakritos zugeschrieben
181ff.) dürfen wir trotz Wilamowitz' Skepsis wieder i hatte (vgl. Wilamowitz, Glaube d. Hell. II 193). Ich zweifle, ob Lagrange
mit einer in sich geschlossenen orphischen Lehre auch ; mit seiner These mehr Glück haben wird als Foucart mit seiner Her-
schon für die Frühzeit rechnen; Lagrange geht jedoch
viel weiter zurück und richtet zur Aufhellung ihrer Ursprünge
sein Augenmerk vor allem auf ihr Verhältnis
zu den bakchischen Orgien und im besonderen wieder
auf das ihres Gottes Zagreus zu dem Dionysos des
allgemeinen Glaubens.

Diesen letzteren faßt er nicht als Vegetationsgott auf, sondern als
den Urheber des heiligen Rausches; aber dieser Rausch kommt doch
nicht von ungefähr: seine Gebundenheit an eine bestimmte Jahreszeit
zeigt vielmehr, daß er der Ausdruck des gegen den Frühling im Menschen
wie in der ganzen Natur neu erwachenden Lebensgefühls ist. Den
Zagreus nimmt Lagrange demgegenüber als einen Gott der Unterwelt
und lehnt schon darum die Möglichkeit einer ursprünglichen Identität
mit dem lebensprühenden Dionysos ab. In der Tat ist Zagreus chtho-
nischer Natur; ob auch ausgesprochener Totengott, kann man zweifeln,
denn in dem Epos Alkmaionis fr. 3 K. wird er wirklich als der „allerhöchste
" der Götter und nicht als der „tiefste" angerufen, wie Lagrange
S. 48 meint. Für Dionysos hingegen kann man wirklich, wie Lesky,
Wien. Stud. LIV 1936 S. 24 ff., gegen W. F. Otto nachgewiesen hat,
kein altes Zeugnis anführen, das ihn als Todesgott erwiese; wenn Hera-
klit fr. 15 D. ihn für identisch mit Hades erklärt, so ist das ein Ausfluß
seiner persönlichen antinomischen Weltanschauung: er spannt Dionysos
und Hades, Leben und Tod, als zwei unvereinbar scheinende Gegensätze
zusammen, und so muß man geradezu schließen, daß Dionysos
nach der üblichen Auffassung nichts mit der Unterwelt zu tun hatte,
und andererseits darf man in Hades nicht mit Lagrange S. 60 Zagreus,
sondern nur den allgemein anerkannten Herrn der Unterwelt, eben den
eigentlichen Hades sehen. Somit entfällt Heraklit als ältester Zeuge der
Identifikation von Dionysos und Zagreus, aber sie ist darum doch auf

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leitung der eleusinischen Mysterien aus Ägypten. Man kann die Zerreißung
des Zagreus nicht von der Zerreißung des Stiers durch die
Mänaden trennen, und diese Omophagie wäre doch allerhöchstens auf
dem Umwege über die kleinasiatische Heimat des Dionysos mit dem
minoischen Kreta in Verbindung zu bringen. Die altkretischen Wurzeln
der Orphik werden nicht wahrscheinlicher durch den Versuch, aus dem
Sarkophag von Hagia Triada und andern Bildern den Glauben an eine
Trennung der Seele vom toten Leibe herauszulesen (S. 89 ff. 168), und
der Vergleich der orphischen und ägyptischen Jenseitsvorsteillingen fördert
mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zutage (S. 142 ff. vgl. S. 18).
Sehr bedenklich ist auch die Frühdatierung der ältesten orphischen
Theogonie durch Annahme ihrer Priorität vor der hesiodeischen (S. 124 f.
135), die schon Waser, Pauly-Wissowa VI Sp. 486, vertreten hatte.
Lagrange vermutet unter Berufung auf Mazon, daß es nicht Hesiod gewesen
sein könne, der Eros zum Urprinzip gemacht habe, da er ihn
unpassenderweise als bloßen Liebesgott schildere. Warum sollte man
aber nicht auch gerade umgekehrt urteilen können, daß Eros bei Hesiod
noch wirkungslos geblieben war (wenn wirklich, vgl. Schwenn, Theogonie
des Hesiodos S. 110 ff.) und erst von den Orphikern eine wirklich
schöpferische Funktion in der Kosmogonie erhielt (so z. B. Kern a. O. I
S. 251. II 150. 152)?

Nach allem glaube ich, daß wir doch wieder auf Thrakien als das
Ursprungsland der Orphik hingewiesen sind, woher übrigens auch
Lagrange S. 80 ff. die Vorstellung einer vom Leibe verschiedenen unsterblichen
Seele und die Metempsychose, diese als indischen Import,
herleitet. Und weiter scheint mir die Orphik nach wie vor in Anknüpfung
an die dionysischen Orgien und zugleich in Auseinandersetzung
mit ihnen (so Nilsson) erwachsen zu sein. Auf der andern
Seite aber haben die Orgien keineswegs in Bausch und Bogen orphi-
sche Einflüsse erfahren (s. S. 79. 97. 117); die S. 100 ff. besprochenen

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