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Ausgabe:

1938 Nr. 3

Spalte:

60-63

Autor/Hrsg.:

Kirn, Otto

Titel/Untertitel:

Grundriß der Evangelischen Dogmatik 1938

Rezensent:

Schulze, Martin

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69 Theologische Literaturzeitung 1938 Nr. 3. 60

Genie allein angemessene (S. 13). Wenn dabei Gotthelf ist, als die etwa Goethes oder Hölderlins. Diese dichten
als der Schöpfer vorausgesetzt wird, der „an dichteri- selbst-bewußt als Künstler, ihr Weltverständnis und ihre
scher Vehemenz und Ursprünglichkeit weithin seines- Weltgestaltung geschieht von der Grundlage einer prie-
gleichen sucht" (S. 19), so könnte man in der Tat be- sterlichen Wertung der Kunst aus. Sie bieten infolgefriedigt
aufhorchen. dessen einer isoliert ästhetischen Betrachtung eine ver-
Im einzelnen strebt G. nun danach, von verschiedenen hältnismäßig beträchtliche Fläche ihrer Existenz dar.
Seiten her der neuen Bestimmung näherzukommen. Zu- j Ganz anders ist es mit Erscheinungen wie Luther und
nächst betrachtet er das Verhältnis von Leben und Werk i Gotthelf, deren Existenzgrund ganz wo anders liegt als
als das einer äußersten Spannung zwischen dem sieht- , im dichterischen Selbstbewußtsein und bei denen man in
baren Idyll und einer geheimen gewaltigen Leidenschaft, j Abwandlung des rieutestamentlichen Wortes wohl sagen
die wohl eine Einheit bilden, aber eine schwer erkämpfte, j kann: xoixiau; öt .-iuoeioi|H)ev. Sie sind literarhistorisch
Diese Spannung bedingt zugleich die ungeheure Weite j zu betrachten nicht als von der Kunst Getriebene, son-
seines Wesens, die höchste „Geistigkeit" und elementar- ' dem als auf ihren Wegen der Kunst Begegnende. Sie
ste Wirklichkeitsfreude miteinander verbindet. Als das ; schreiben ihre eigenen Gattungen, deren Funktion weit
Grundmotiv seiner menschlichen und dichterischen Hai- j eher als dem autonomen Kunstwerk dem künstlerischen
tung wird der Gedanke der „Heiligung" bezeichnet, un- Volksgut nahesteht. Es heißt völlig an ihnen vorbeireden,
ter der Gotthelf an das geistige und natürliche Dasein i wenn man sie mit der Gesetzlichkeit einer autonome»
herangeht, denen beiden er dadurch eine neue Weihe j Ästhetik erfassen will, selbst wenn sie dieser slrecken-
verleiht. Der Bauernstand ist ihm geeigneter Ausgang, j weise zu entsprechen scheinen. Es heißt, ihr geschicht-
von dem aus er den Gedanken der Heiligung entwickelt, i liches Bild verzerren, wenn man sie nicht unter der Gelinter
diesem Gesichtspunkt betrachtet G. dann das j setzlichkeit sieht, unter die sie sich selbst gestellt haben.
Gotthelfsche Werk, das er, wie sein „ästhetisches" Prin- i . Die Folgen dieser sachfremden Betrachtungsweise
zip ihm ja auch nicht anders übrigläßt, sozusagen I zeigen sich sofort in dem dürftigen Bilde von Gotthelfs
gattungsgeschiichtlich durchinterpretiert. So nimmt er das ! so ausgeprägter Stammesgebundenheit. Gotthelf ohne

„Anekdotische" für sich, das „Zeitsatirische", das „Märchen
- und Sagenhafte", die „historischen Novellen". Was
er hier nicht unterbringen kann, fließt in einem etwas
unbestimmt gehaltenen Sammelbegriff vorwiegend kulturhistorischer
Tendenz zusammen (S. 137 ff.), wozu auch
die Oesamtüberschräft dieses ersten Interpretationsteiles
„Bunte Heimatwelt" hinneigt. Der zweite Interpretationsteil
, der die wichtigeren Werke behandelt und „Das
Drama der Heiligung" überschrieben ist, ordnet sich
nun wieder nach den Gestalten, z. B. nach den „Fallenden
" und den „Werdenden", oder nach den künstlerischen
Grundgedanken wie dem der „Gerechtigkeit", dem
der „Freiheit" und der „Liebe", während schließlich unter
dem Gesichtspunkt der „Vollendung", dessen Gegenstand
mehr die in sich geschlossenen, mündigen, sicheren
Gestalten sind, wieder das Petrsönlich-Gestalthafte
heraustritt.

In der sich anschließenden Kapitelreihe unternimmt
G. dann eine „innere und äußere Chronologie" Gott-
helfs, die im Reichtum seines Werks die Linie und die
innere Ordnung dartun soll. In einem Schlußkapitel
wird dann noch einmal die Frage des Ranges ausgeführt
und, jedenfalls aphoristisch, Gotthelf mit Homer, Dante
, Ariost, Shakespeare, Racine und Goethe in gewissen
Zügen und Kräften seines Wesens konfrontiert. Gotthelf
wird dabei die nur ihm eigene Spannweite von „Geistigkeit
" und kreatürlichem Realismus als sein unersetz-

den Erdeiigrund seiner (keineswegs nur „bunten") Berner
Heimat ist aber in seinem Kernhaften so wenig erfaßt
, wie es bei der Ausklammerung seines Gottesverhältnisses
der Fall sein kann. Da ist ein Gotthelf stammesfremder
früherer Bearbeiter wie z. B. Maynec Gotthelfs
Wesen gerechter geworden als der Landsmann hier.

Es ist schade, daß die Kritik bei der Beurteilung dieses
Buches überwiegen muß, das mit der Kategorie der
„Heiligung" eine in Walter Muschgs vorwiegend psychoanalytischem
Werk durchaus-zu kurz kommende Seite
Gotthelfs herauszuholen bemüht ist. Das von diesem
Gesichtspunkt her Gesagte führt uns in der Einzelinterpretation
des öfteren durchaus werter. Auch ein richtiges
Gefühl für den Rang Gotthelfs ist angesichts vieler
früherer Verkennungen bei G. dankbar zu vermerken.
Aber es ist das Verhängnis, daß es beim Gefühl bleibt
und daß ein an sich richtiger und wertvoller Ansatz
unter dem Zwang eines weder durch begriffliche Schärfe
noch durch gedankliche Tiefe ausgezeichneten ästhetischen
Systems nicht zur Entfaltung gebracht werde»
kann. Methode und Sprache des Verfassers sind dein
Gegenstand gleich fern, und es ist hier wie manchen
andern literarhistorischen Erscheinungen im Gefolge
Gundolfs gegenüber nötig, deutlich zu sagen, daß auch
Georges „Ästhetik" uns keineswegs hinter Herder zurückgeworfen
, sondern nur auf Schiller verwiesen hat.
Alsfeld und Göttinnen. Werner K o h 1 sc Ii m i d t.

licher Beitrag an der Leistung der dichterischen Großen j Kirn, Prof. D. Otto: Grundriß der Evangelischen Dogmatik.

zugewiesen. Im Kampf gegen den Zeitgeist wird er mit
Kierkegaard, Nietzsche und Tolstoi in eine Reihe gestellt.

Wenn ein ganzes Buch seinen Sinn darin sieht, die
Gestalt Gotthelfs im Gegensatz zur bisherigen Gotthelf-
Literatur auf dem Wege „ästhetischer" Methode zu erfassen
, so schneidet es sich mit diesem Standpunkt von

9. Aufl., nach dem Tode des Verf. hrsg. von Hans Hofer. Leipzig:
A. Deichert 1936. (XU, 1£0. S.) gr. 8°. RM 4.50; geb. 6-.

Nach dem Vorwort des Hrsg.'b „hat der Verlag wegen
der theologischen und kirchlichen Lage nochmals
von einer Neubearbeitung des bei den Studenten so viel
gebrauchten, bewährten Grundrisses abgesehen". Nur

vornherein die Beziehung zu Gotthelfs eigener durchaus i § 10 ist ergänzt worden, durch Eingehen auf das heutige

nicht ästhetischer Existenz ab und beraubt sich damit ! Problem des Verhältnisses von Rasse und Volkstum

von vornherein der schönen Möglichkeit, die Gestalt zu j zu Religion und Christentum, auch ist die Literatur na-

fassen. I mentlich der letzten Zeit nachgetragen, „so daß der

Eine dichterische Erscheinung fassen wir geschieht- Grundriß bibliographisch vor allem den neuesten Stand

lieh auf, wenn wir die Wurzeln, aus denen sie lebt, der dogmatischen Arbeit berücksichtigt und so von

begreifen. Wenn wir eine Gestalt wie Gotthelf Literatur- ihm berichtet" (von mir gespr.).

geschichtlich darzustellen suchen, so haben wir nach den Letzteres ist nun freilich mit ersterem nicht gegeben.

Mächten zu fragen, die sein Leben und seinen dichteri- Es wäre, gerade wegen der theol. und kirchl. Lage

sehen Willen bestimmten. Gotthelf ist vom Künstler»- dankenswert gewesen, wenn wenigstens die theologiege-

schen her gesehen eine ähnliche Erscheinung wie Luther, schichtlichen und die damit verbundenen kritischen Aus-

Die Triebkraft ist bei beiden volkserzieherisch in einem j führungen des Verf. bis auf die Gegenwart erstreckt

ausschließlich christlich bedingten und christlich gefüllten wortten wären. Damit wäre den angehenden Theologen

Sinne. Dabei ist beiden unter den Händen vieles, was erst die nötige Anregung gegeben worden, sich mit deu

sie schrieben, auch zur Dichtung geworden, zu gewal- neueren dogmatischen Werken zu beschäftigen. Die bloße

tiger Dichtung sogar. Aber es liegt auf der Hand, daß Angabe ihrer Titel genügt dazu erfahrungsgemäß nicht,

solche Dichtung mit ganz andern Maßstäben zu messen ! Wenn diese Ergänzung im Sinne des Verf. ausgefallen