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Ausgabe:

1938 Nr. 26

Spalte:

478-480

Autor/Hrsg.:

Leese, Kurt

Titel/Untertitel:

Die Religion des protestantischen Menschen 1938

Rezensent:

Merkel, Franz Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 1938 Nr. 26.

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meist nur Detaillebetrachtungen der Theologie Seebergs
auf, die zumeist den Charakter einer nichtverstehenwol-
Ienden, kritisch-ablehnenden Unfreundlichkeit tragen, so
ist Auers Schrift der erste und auch anerkennenswerte
Versuch, die theologische Ideenwelt Seebergs in ihrer
geistesgeschichtlichen Universalität sowie unverkennbaren
theologischen Gegenwartsbedeutung nicht nur aufzuzeigen
, sondern auch mit jener notwendig pietätvollen
Haltung zu würdigen, die dem Lebenswerk dieses großen
deutschen Gelehrten wahrhaft entspricht. Damit
hebt sich vorliegende Arbeit von den einschlägigen wissenschaftlichen
Veröffentlichungen jener höchst erfreulich
ab, deren Produkte von der religionspolitischen Tagesmeinung
diktiert werden und entweder durch gestaltungsarme
Repristination oder futuristische Schlagworte
ihre zweifelhafte Bedeutsamkeit anzupreisen versuchen
. Ebenso aber seien die gute Stoffbeherrschung
und wissenschaftliche Gründlichkeit des Verfassers sowie
■die geschickte systematische Anlage der Schrift selbst
lobend erwähnt.

Formal betrachtet ist die Arbeit so angelegt, daß
der Verfasser die „theologische Grundposition Seebergs"
tiarin beschlossen sieht, wie dieser sie am Schlüsse seiner
„Christlichen Dogmatik" selbst zusammenfaßt und
in „der Anwendung der innerlich notwendigen Wechsel-
1 eziehung von Subjekt und Objekt in dem Transzendentalismus
auf die religiösen Verhältnisse" verstanden wissen
will. Hierbei jedoch darf der auf Kant beruhende
„transzendentale Erkenntnisweg" weder als „bloßer Subjektivismus
" noch als sein Gegenpol im Sinne eines
„naiven Objektivismus" verstanden werden. Daß heißt,
nach Seeberg ist für die Entstehung aller religiösen
Erkenntnis immer die Korrelation von Objekt und Subjekt
notwendig. Denn so wie in der Philosophie gibt
■es auch in der Religion die „Transzendenz nur in der
einzig möglichen Form der Immanenz." Weiß sich hierin
Seeberg mit Luther, Kant und Schleiermacher einig,
so wird diese Wechselbeziehung von Transzendenz und
Immanenz (Objekt und Subjekt) rein voluntaristisch gedacht
. „Denn erst dadurch, daß ich das Objekt erfasse,
wird es zur Realität", wobei dieses Erfassen selbst
denkend, fühlend und wollend zu geschehen hat. Von
hieraus versteht sich dann Seebergs Lehre von Gott
sowie die vom Menschen, die beide prinzipiell als „selbstbewußte
Persönlichkeit" mit einer ausgeprägt „willentlichen
Geistigkeit" schlechthin gedacht sind, und wodurch
die Wechselbeziehung von Gott und Mensch überhaupt
erst möglich wird. (S. 7—11) Damit ist dem
Verfasser die theologische Grundposition Seebergs als
solche erkannt und auf die beiden Begriffe von „Subjektivität
und Rezeptivität" zurückgeführt.

Ich muß es mir versagen, hier im einzelnen aufzuzählen
, wie der Verfasser von diesem Blickpunkt aus Seebergs
Anschauung über die „Schrift, das Wunder, die
Sakramente" usw. darlegt, prüft und den folgerichtigen
Nachweis führt, daß das keine theologischen Konstruktionen
sind, sondern daß trotz anthropozentrischen Ausgangspunktes
stets eine theozentrische Orientierung vorliegt
, und Seebergs „moderne positive Theologie" echte
„Offenbarungs- und Schrifttheologie" ist.

Im zweiten Teil seiner Schrift stellt der Verfasser
Seebergs Theologie der Karl Barths gegenüber, wobei
Barths theologische Position sehr eingehend abgehandelt
wird. Hierdurch will Auer den durchaus wohlgemeinten
Versuch machen, die Richtigkeit der Position Seebergs
ihrer Voraussetzung und Begründung nach in der Gegenüberstellung
mit der Barths nachzuweisen. Lind in
diesem Zusammenhang muß ein deutliches Wort der
Kritik gesagt werden. Es sieht nämlich das Ganze nach
einer ungeschickten Ehrenrettung Seebergs gegenüber
Barth aus, die ersterer doch wahrlich nicht nötig hat.
Im übrigen könnte von einem ausgeprägt deutschen
Wissenschaftsempfinden her folgender Satz auf S. 86/87
leicht mißverstanden werden: „Des weiteren glauben
wir Seeberg dadurch am besten würdigen zu können,

i daß wir seiner Erkenntnis- und Gewißheitslehre diejenige
Barths gegenüberstellen, deren innere Unmöglichkeit
die Seebergsche Position ins rechte Licht rückt."
Ebenso darf ich dem Verfasser aus einer mehrjährigen
engen Zusammenarbeit mit Reinhold Seeberg sagen, daß
es ein wesentliches Charakteristikum gerade seiner theologischen
Grundposition war, sie nicht in der Abgren-
j zung und dialektischen Gegenüberstellung mit anderen
theologischen Schulen zu erhärten, sondern in ihrer Geschlossenheit
selbst wirken zu lassen. Es dürfte doch
l bereits allmählich klar sein, daß gerade hierdurch die
I Tiefen- und Breitenwirkung Seebergs bedeutend größer
I ist, als man selbst heute vielfach weiß oder glaubt,
geflissentlich totschweigen zu können. Wäre es nicht
auch richtiger gewesen, anstelle einer Deduktion, die auf
einem dogmatischen Lehrsatz Seebergs beruht, seine
theologische Grundposition aus den auf ihn einwirkenden
geistesgeschichtlichen Persönlichkeiten zu entwickeln
? Gerade von hieraus hätte man aufzeigen können
, was übernommen und was eigenständig ist. Ich
glaube, daß eine solche historische Untersuchung fruchtbarer
gewesen wäre, als die willkürliche Gegenüberstellung
mit Barth. Hierbei wäre neben Luther, Kant und
Hegel vornehmlich auf Augustin und Duns Skotus einzugehen
gewesen, und der Verfasser hätte erkannt, daß
sich vielleicht vom Voluntarismus des Duns Skotus aus
am besten die Theologie Seebergs erschließt. Schließliche
wäre aufzuzeigen gewesen, daß nach dem bekannten
Worte Schleiermachers auch in der Theologie R. Seebergs
die Reformation noch fortgeht, und daß seine
universale Bedeutung in der wissenschaftlichen Gestaltung
und praktischen Forderung des christlich-religiösen
und ethischen Voluntarismus für alle Lebensgebiete beschlossen
liegt.

Trotz dieser mir notwendig erscheinenden Kritik sehe
ich in Auers Buch eine förderliche Arbeit.
Lübeck. Gerhard K. Schmidt.

Leese, Prof. Dr. Kurt: Die Religion des protestantischen Menschen
. Berlin: Junker & Dünnhaupt 1938. (XII, 386 S.) gr. 8°.

RM 10—; geb. 12—.

Wie K. Leese, Prof. an der Universität Hamburg,
selbst im Vorwort angibt, knüpft sein neues Buch an sein
1932 erschienenes kritisch-analytisches Werk: ,Die Krisis
und Wende des christlichen Geistes' an (s. Theol. Lit.
Ztg. 1933, Nr. 23, 427 f.; ferner ebda. 1936, Nr. 14, 261 ff.).
Die darin am Schluß angefügten Andeutungen zur Idee
des protestantischen Menschen werden nun in erweiterten
anregenden Untersuchungen „in einen neuen Be-
gi'ündungszusammenhang gestellt, sorgfältig untermauert,
deutlicher miteinander verknüpft und zu einer umfassenden
Gesamtschau erweitert". Wenn der Verfasser als
Leitspruch das bekannte Diktum Schleiermachers seinen
Ausführungen voransetzt: „Die Reformation geht noch
fort", so ist damit schon deutlich, daß er den heutigen
.protestantischen' Menschen klar und unmißverständlich
vom ,reformatorischen' unterscheiden möchte. In ausführlichen
Analysen beschreibt er den Weg der protestantischen
Problemfindung in seinen Hauptetappen
von Schleiermacher bis zur Gegenwart unter bestimmten,
von der wissenschaftlichen Forschung gegebenen Gesichtspunkten
. Besonders ausführlich behandelt er den
reformierten Theologen Heinr. Lang, der in seiner bereits
1870 erschienenen Schrift .Martin Luther, ein religiöses
Charakterbild' die These Troeltschs vorwegnahm,
daß nämlich Luther in vielem noch dem Mittelalter angehört
habe und der dieses sein fast vergessenes Lutherbuch
mit den Worten schloß: „Das Leben Luthers endet
tief tragisch, wie sein Wesen von Anfang an tragisch
angelegt war . . . Den mittelalterlichen Katholizismus
sollte er stürzen und doch trug er die gemütlichen Stimmungen
, wie die Denkbegriffe, aus welchen er erwachsen"
war, tiefer in sich, als alle übrigen Träger desselben
(zitiert vom Verf. a. a. O. S. 34). In dem Abschnitt
,Der Protestantismus in Spannungseinheit und Spannungsgegensätzlichkeit
von Alt- und Neuprotestantismus'