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Ausgabe:

1938 Nr. 21

Spalte:

371-374

Autor/Hrsg.:

Boyancé, Pierre

Titel/Untertitel:

Le culte des muses chez les philosophes grecs 1938

Rezensent:

Dörrie, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1938 Nr. 21.

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„Klar treten die Gegensätze zwischen Orientalisch-Afrikanischem und
Indogermanisch-Nordischem hervor: hier expansive Kraft, Trotz gegen
das Schicksal, Schuld und Sühne, Metaphysik, Glaube und Mystik aus
Innerlichkeit, Autonomie und Kampf, dort Beben vor der Vernichtung
von Leib und Seele, launische Mächte und ehernes Fatum, grausames
Opfer für die Sündigkeit der Sinne und der Wißbegier, Offenbarungsglaube
, magische Sakramente und Ekstatik, Heteronomie, Erlösung und
Wiedergeburt."

Oder zum Schluß (S. 185f.):

„Europäischen Geist aus Antike und Christentum erklären heißt,
das durch die germanische Völkerwanderung geschaffene Europa des
Mittelalters und der Neuzeit, damit uns selbst leugnen. Nicht Augustins
Kontemplation und Eschatologie hat Europa geschaffen und erhalten,
sondern allein nordische Dynamik. Diese schenkt Europa schöpferische
Kräfte, setzt Werte, findet neue Formen, versenkt sich in die Seele und
greift nach den Sternen. Orient und Afrika leben aus Offenbarung, verharren
in Statik. Darum muß jede orientalische Religion im Nordischen
gegen das Urgesetz des Lebens verstoßen, besteht zwischen beiden
ewiger Kampf. Eines Tages werden aber auch im Norden wie in Ost
und Süd die Kräfte des Bluts sich zur Klarheit durchringen. Denn noch
immer haben sie sich stärker erwiesen als jede geistige Form."

So erklärt es sich auch, daß W. schon im Vorwort
sagt:

„Zu den dringlichsten Aufgaben nationalsozialistischer Geschichtswissenschaft
gehört die Auseinandersetzung des Deutschtums mit der
Welt des Südens und des Orients. Zwei Jahrtausende heißen Ringens
mit diesen Mächten sind dem Volk zum Schicksal geworden. Unerbittlich
tobt der Kampf um die deutsche Seele. In ihm ist dem Historiker
anvertraut, die Vergangenheit aufzuhellen, ihr Wirken in der Gegenwart
zu zeigen und Fremdes vom Eigenen zu scheiden."

Aber zunächst stellt W.s Schrift eine auch in der
Form glänzende Erklärung des Isisbuches des Apulejus
dar, die die Grundlage für jede weitere Beschäftigung
mit diesem bilden wird.

Bonn. _Carl Clemen.

Boyancö, Pierre: Le culte des Muses chez les philosophes
Qrecs. Bibliotheque des ecoles Francaises d'Athenes et de Rome
publiee sous les auspices du Ministere de l'Education Nationale,
141. Bd. Paris: E. de Boccard 1937. (375 S.) 4°.

Der Titel dieses Werkes ist nur ein Ausgangspunkt;
in Wirklichkeit behandelt dies Buch die Frage, wie sehr
die griechische Philosophie mit dem Religiösen verbunden
ist. Die großen Schulen des Pythagoras, Plato
Aristoteles wurden ja nicht nur durch die gemeinsame
Forschung und durch die Person des Schulgründers zusammengehalten
; sondern ein sehr wichtiges Band waren
die gemeinsamen Feste und der gemeinsame Kultus Apol-
lons und der Musen. Auch für die hellenistische Zeit hat
B. allerhand wichtige Zeugnisse gesammelt (S. 300 bis
328), die deutlich zeigen, daß zumindest Erinnerungen
an diese Bindungen auch später noch, sogar in der Schule
Epikurs, lebendig waren.

Aber nicht die Tatsache, daß in griechischen Philosophen
-Schulen die Abhaltung religiös bestimmter Feste
und der Kult Apolls und der Musen einen mehr oder
weniger breiten Raum einnahmen, ist für B. das Wichtige
; sondern seine Untersuchung gilt vornehmlich der
Frage, welchen geistigen Hintergründen und religiösen
Voraussetzungen diese kultischen Gebräuche entspringen
. Damit wird das Thema der Arbeit aus einem
philosophiegeschichtlichen zu einem religionsgeschichtlichen
: denn die Vereinigung philosophischer Forschung
mit religiös-kultischer Bindung ist, soviel wir wissen,
der ältesten griechischen Philosophie fremd, ja, sie hätte
auch wohl dem Wesen der ionischen Naturphilosophie
ebenso widersprochen wie dem der Sophistik. Vielmehr
ist die untersuchte Erscheinung, das sieht B. sicher
richtig, aus der Welt des Pythagoreischen und des
Orphischen herzuleiten.

Dementsprechend gliedert sich das Buch in drei
Teile: I. Die „Vorgeschichte" d. h. Untersuchung des
Orphischen und des Pythagoreischen. II. Die kultischen
Bräuche bei Plato und Aristoteles: Feste und Mythen.
III. (das Thema des Buches im engeren Sinne) Musenkult
und Heroenkult.

Namentlich im Teil I wird man B. nicht in allem folgen können:
Nach einleitenden Beobachtungen über das Wesen der Orphiker wird

j vor allem der Sinn der Beschwörung (incantation = ejto>öi'|) untersucht;

j wie sich später zeigen soll, wird vor allem hieraus die kultische Bindung
der platonischen und anderer Schulen abgeleitet werden. Das Wesen

I der Beschwörung wird durch das ganze Buch hin etwas einseitig angesehen
: sicher ist richtig, daß Beschwörungen Krankheiten heilen, Schmerzen
stillen, auch wohl von einem seelischen Leiden befreien können ;
aber ebenso wichtig ist doch, daß man einem Feind etwas Böses an-

| tun, daß man ihn verzaubern kann. An diese Seite ist in B.s Werk
fast nie gedacht, vielmehr steht die Beschwörung als Mittel der xdftctp-

> ois, der Reinigung und Heilung im Vordergrund.

Gesang und Beschwörung, <i>öt'] und BJHpörj, liegen eng bei ein-

I ander; Orpheus war der Heros des Gesanges, und vor allem des magi-

I sehen Gesanges, der Tiere und Felsen bezauberte (vgl. S. 35); es ist
also kein weiter Schritt von der Musik zur Magie. Aber ist es nun
richtig, wenn alle Gebiete der orphischen Magie diesem einen Komplex

| der Beschwörung untergeordnet werden ? B. jedenfalls kommt S. 39 zu

j dem Schluß que toutes ces activites des Orphiques se peuvent subsumer
sous l'idee d'incantation. Darin sind alle Arten von Verzauberung eingeschlossen
, sogar das Wundertun und die Ekstase.

Besonders bedenklich ist, daß auch die Ekstase im Dionysoskult

| mit den eictpocu in diesem Sinne zusammengebracht wird. Tatsächlich

( kann der bakchische Taumel ein Leiden vertreiben, ebenso wie die
öJtü)8i'| es heilen kann; es fehlt nicht an Beispielen (S. 64), daß auf

| magische Weise Gleiches durch Gleiches, also uavia durch uavia

j geheilt wird. Ist darum der Dionysoskult vorwiegend als Kult der
Reinigung und Heilung aufzufassen? Richtig ist sicher, daß er diese
Seite haben kann; aber man muß auch berücksichtigen, daß die dionysische
|iavia weit öfter Strafe ist als Heilung, und zwar gerade in den
alten Sagen, auf die sich B. beruft.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang eine Stelle in Piatons Staat

| p. 364 B/C und 365 A: tixüoxat und uävxEic, behaupten, sie hätten

i durch Opfer und Beschwörungen von den Göttern die Macht erlangt,
Verfehlungen Lebender und Verstorbener zu tilgen (xet)' f)Sovü>v te

j xcti EOQxüjv; jene Wunderapostel berufen sich dabei u. a. auch auf
Orpheus. Diese zweifellos sehr wichtige Stelle hält B. mit seinen Ergebnissen
über den Dionysoskult zusammen: hier wie dort findet Heilung
, Reinigung, Sühnung statt durch Freuden und Feste. Also, schließt
B., ist dies ursprünglich dionysische Moment von den Orphikern (die
man sich nicht als geschlossene Sekte denken dürfe) teilweise und in

J verschiedenen Brechungen übernommen worden. Sicher ist, daß die
Sage Orpheus und Dionysos mehrfach zusammenbringt (S. 17); in der
Auffindung des gemeinsamen Ritus von Reinigung und Heilung in ekstatischen
Festen glaubt B. dazu das innere Band gefunden zu haben,
das Dionysos- und Orpheus-Mysten vereinigt. Es muß zugegeben wer-

j den, daß alle griechischen Mysterienkulte miteinander verwandt sind,
aber sicher ist es zu einseitig, wenn man die Verwandtschaft zwischen
Orphik und Dionysos-Kult aus der Gemeinsamkeit von Ekstase und Beschwörung
erklären will.

Aus diesen orphisch-dionysischen Ursprüngen erklärt B. die gemeinsamen
Feste und namentlich den Kult der Musen und der Musik

I in der Schule (oder besser Sekte) der Pythagoreer; unbestritten ist, daß
die Pythagoreer manche Anregung von dem Orphischen empfangen
haben; aber ebenso wichtig ist — was bei B. trotz S. 116 etwas zu
kurz kommt — daß Pythagoras die große Entdeckung gemacht hat, die
Töne auf Zahlen und damit die Harmonie der Musik auf die Harmonie
der Zahlen zurückzuführen. Und da nun astronomische Beobachtungen
eine Harmonie der Zahlen auch unter den Gestirnen erwiesen, sodaß

, man von da aus zu der Ansicht von der Musik der Sphären kam (vgl.
S. 102), mußte die Musik doch eine ganz andere, weil anders begründete
Stellung bei den Pythagoreern einnehmen: trotz der zahlreich von

B. gesammelten Zeugnisse (S. 99-113) wird der Leser nicht ganz davon

, überzeugt, daß der Fortschritt des Pythagoras nur darin beruhe, zwischen
musikalischer Magie, Zahlenmagie und Astrologie die Verbindung her-

J gestellt zu haben (S. 116); vielmehr hat die Entdeckung des Pythagoras
ebensosehr dazu beigetragen, die Wirkung der Musik natürlich

i verstehen zu lehren und sie von der Magie zu scheiden.

Dadurch, daß hier die wichtigsten Beweisketten aus
dem I. Teil von B.s Arbeit vorgeführt wurden, sollte
gezeigt werden, wie reich diese Untersuchung an neuen,
geistvollen Beobachtungen ist, daß aber leider nicht alle

j Ergebnisse so gesichert sind, daß man B. überall folgen

I könnte. Zum großen Teil liegt das an dein verzweifelten
Zustand unserer Quellen, die nur Weniges und vermutlich
durch Mißverständnisse Entstelltes gerade über

j Pythagoras und die Orphiker bieten. Daher ruhen Teil II
und III dieses Werkes auf sehr viel besseren Grundlagen

I (wenn freilich auch hier öfter auf weniger gut Gesichertes
aus älterer Zeit zurückgegriffen wird), da B. sich hier

j zumeist mit erhaltenen Texten der klassischen und nachklassischen
Zeit auseinandersetzt; hier sind die Ergeb-

I nisse durchaus überzeugend, und nur in Einzelheiten kön-

' nen Zweifel geäußert werden.