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Ausgabe:

1938

Spalte:

366-367

Autor/Hrsg.:

Reeg, Ludwig

Titel/Untertitel:

Evangelium der Wirklichkeit 1938

Rezensent:

Wendland, Heinz-Dietrich

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366

Von dieser Tatsache her ist auch der Charakter dieses
Referates bestimmt.

Dem „christlichen Humanismus", den Henri Bre-
mond als unermüdlicher und temperamentvoller Anwalt
verficht, steht ein „ewiger Jansenismus" entgegen. Im
typologisch weitesten Sinne umfaßt dieser Begriff natürlich
auch die Frömmigkeit der Reformatoren Luther und
Calvin. Der Jansenismus beruft sich auf einen zugespitzt
und einseitig interpretierten Augustin, wenn er die
menschliche Natur als ganz und gar durch die Erbsünde
zerstört bezeichnet. So sehr auch die christlichen Humanisten
an die Wirklichkeit der Sünde glauben (Us out le
sens, ils n'ont pas le cauchemar du pechi, 136), so sehr
auch sie die Schwäche des Menschen anerkennen: sie beurteilen
seine Möglichkeiten, aus eigenem Grunde zum
Heil beizutragen, viel optimistischer. Seinen dogmatischen
Rückhalt hat dieser Humanismus an den Lehren
über Sünde und Gnade, wie sie das Konzil von Trient
formuliert hat. Diese Formulierungen haben die Anschauungen
der großen Humanisten der Renaissance-Epoche
vollendet und kanonisiert. Von Pico della Mirandola,
Marsilio Ficino, John Colet, aber auch von Erasmus aus
führt eine „Königsstraße" (65) nach Trient. Daran ändern
alle Verdächtigungen und Schmähungen der Jan-
senisten nichts. — Das etwa sind die Leitgedanken der zum
ersten Abschnitt der hier angezeigten Sammlung vereinigten
Studien.

Die Aufsätze der zweiten Gruppe handeln von Franz
von Sales, auf den Bremond als auf den ihm liebsten
Vertreter des humanismc devot bei jeder Gelegenheit zurückkommt
. Bei Franz tritt ihm der mystische Grundcharakter
aller wahren Frömmigkeit am unmittelbarsten
entgegen (vgl. Theol. Lit. Ztg. 62, S. 260 f.). Es bildet
für ihn eine unausschöpfbare Freude, den Heiligen in seinen
Schriften und Briefen und in allen Berichten über
sein Tun und Leben zu belauschen. Seine Vertrautheit
mit ihm und seine Zustimmung zu ihm sind so groß,
daß er ihn geradezu als Maßstab verwendet, um die
übrigen Frommen, mit denen er es zu tun hat, ermessen
zu können.

Von Franz von Sales aus versucht Bremond vor
allen Dingen mit Pascal, der bedrängendsten und der
am schwersten faßbaren all dieser Gestalten, fertig zu
werden. Soweit er dem Jansenismus von Port-Royal ins
Garn geraten ist, kann ein christlicher Humanist nichts
mit ihm anfangen. Man muß ihn „entjansenisieren"
und wird dann zu seiner Freude und Überraschung ein
hohes und edles Vorbild der wunderbarsten Christusver-
ehrung vor sich haben. Von Pascals Mysüre de Jesus
sagt Bremond: C'est la chastete, la simplicite' de la
priere parfaite (230).

In einem der Aufsätze findet man im Vorübergehen
den Gedanken wieder, den Bremond im Jahre 1925
in seiner La Poesie pure betitelten Akademierede zum i
Erstaunen seiner Zuhörer formuliert und den er dann
in ergänzenden Schriften entwickelt und verteidigt hat,
daß nämlich eine innere Verwandtschaft das religiöse mit
dem aesthetischen Gefühle verbinde. Es heißt diesmal:
II se peut, du reste, et, pour moi j'en suis quasi prrsuadr,
f/ue, data la plus chötive priere, plus curare, dans la
tnoitidre emotion esthetique, s'ebauc/ie une expvrience du
meine ordre et dejä mystique, mais imperceptible et
evanescente (249).

Kennzeichnend für den Historiker der französischen
Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts ist eine Stelle, die ich
als letzte heranziehe. Sie handelt von einer falschen und
gefährlichen Art der Auslegung alter Autoren. Nichts ist
leichter, als einzelne auffällige Formulierungen aus dem
Ganzen herauszulösen und das, was in ihnen an gedanklichen
Ansätzen vorhanden ist, bis zu seinem logischen
Ende zu treiben. So kommt man nach Bremond dem Autor
nicht bei. // ne se livrera qu'd la delicatessc in sinn ante
et caressante des historiens (56); den Logikern und
„Dialektikern" aber gibt er sein Geheimnis nicht preis.

Der „dialektische" Umgang mit der Geschichte verfälscht
nicht nur das Bild der Vergangenheit; er wirkt sich obendrein
in der Gegenwart als ein Mittel der Verwirrung und
Zerstörung aus. Schon aus diesem Grunde muß der Humanist
Bremond von ihm fortrücken.

Abschließend erwähne ich noch das Vorwort, das
Georges Goyau geschrieben, und die Einführung, die
Andre und Jean Bremond zu dem Buche beigesteuert
haben. Jenes hält sich stärker an die konkrete Leistung
und die leitenden Gedanken Henri Bremonds, diese plädiert
in einer mehr grundsätzlichen Weise für den christlichen
Humanismus überhaupt.
Marburg. W. Kalt hoff.

Reeg, Ludwig: Evangelium der Wirklichkeit. Stuttgart: Strecker
u. Schröder 1936. (VII, 253 S.) kl. 8°. Kart. RM 3.50; geb. 4.50.
Eine Deutung der Reichsverkündigung und Gestalt
Jesu, gegeben in kleineren und größeren Betrachtungen
über ausgewählte Texte der drei ersten Evangelien, oft
vom Stile der Auslegung ausgehend und über deu der
Betrachtung hinübergreifend zu dichterischer Freiheit gegenüber
dem Wort der Texte. Mit dieser Form hängt
der sachliche Inhalt nahe zusammen: einem feinen Gefühl
für das Eigentümliche der Reichsbotschaft Jesu
verbinden sich Worte und Begriffe einer „organischen"
Lebensanschauung, die Elemente des Idealismus der Innerlichkeit
, der Romantik und der modernen, irrationalistischen
Lebensphilosophie miteinanderverknüpft „Leben
", „Lebenskraft", „Natur", das „Ursprüngliche", das
„Organische", das „Wachsen", der „quellende Grund"
im Gegensatz zu Gesetz und Norm, zum Erstarrten und
Zuständlichen spielen in dieser Deutung Jesu die entscheidende
Rolle, ohne daß gesehen würde, wie die Botschaft
Jesu gänzlich jenseits dieser Gegensätze steht.
Das Reich wider Kirche, wider Christentum, wider Religion
, wider Dogma: das sind die von diesen Deutungsbegriffen
aus sich ergebenden Antithesen. Schon daß
meistens nur vom „Reich" statt vom Reiche oder der
Herrschaft Gottes gesprochen wird, ist symbolisch für
den Zug des Ganzen: indem das „Reich" aus der „apokalyptischen
" Fassung gelöst wird, wird es das Geheimnis
, die Tiefenkraft des Lebens und der Welt. Schöpfung
und kommende Gottesherrschaft, beide im Sinne organischer
Lebenskraft und -Ordnung verstanden, fließen
in Eines zusammen. Damit hängt die Vorliebe des Verf.
für das „räumliche Denken" zusammen: die räumliche
Nähe des Reiches soll der entscheidende Gedanke der
Verkündigung Jesu sein. Die noch vorhandene „zeitliche
Erwartung" verschwindet ihm gegenüber. R. hat
den zeitlich-geschichtlichen Charakter des Kommens der
Gottesherrschaft und der Offenbarung im NT. nicht verstanden
. Auffallend schwach und unzulänglich ist besonders
die Behandlung der Bergpredigt: die Seligpreisungen
ein Lied vom „inwendigen Erdenreich", die eschato-
logische Forderung nur die Lebensordnung der Freiheit
im Widerspiel zu Gesetz und Satzung — das ist der
wahrlich kümmerliche, übriggebliebene Rest —, ein warnendes
Zeichen für die zerstörende Wirkung dieses Versuches
, Jesus „lebendig-organisch" zu deuten! — Jesus
selbst stellt sich nicht in die Mitte des Reiches, ist nur
ein Zeichen für das Reich — die Sache kann aber auch
ohne das Zeichen, ohne Jesus dasein: Jesus wider Christus
! Nichts von seinen Hoheitsaussagen, der unbedingten
Nachfolgeforderung, der unauflöslichen Bindung
dieser Sache des Reiches an diese Person.

In merkwürdigem Kontrast dazu andere Erkenntnisse: daß das Reich
Gottes die Welt will und mehr ist als die Kirche, darin liegt ein richtiger
Ansatz (nur dal! er fälschlich sogleich aus dem Eschatologischen
ins Organische übersetzt das Reich zur Welt-Tiefe macht). Besonders
hat R. versucht, den Zusammenhang der Reichsbotschaft mit dem Leiden
und Kreuze Jesu ernsthaft zu erfassen, und wer wollte leugnen, dali die
Theologie des NT. gerade an diesem Punkte noch viel zu lernen hat.
Die Passion geschieht um des Reiches willen : „Die Botschaft vom nahen
Reich ist das Evangelium von diesem für uns in den Tod gegebenen
Leben" (244) — ein klarer Widerspruch zu der Behauptung, daß das
Reich auch ohne das „Zeichen" Jesus dasein könne. Ebenso ist fein