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Ausgabe:

1938

Spalte:

290-292

Autor/Hrsg.:

Weichbrodt, Raphael

Titel/Untertitel:

Der Selbstmord 1938

Rezensent:

Vorwahl, Heinrich

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289

Theoiogische Literaturzeitung 1938 Nr. 15/16.

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sehe Botschaft verzerrende theologia naturalis nur mit
umgekehrten Vorzeichen darstellt. Der Verf. hat aber
übersehen, daß Barth in der Folge seiner Veröffentlichungen
gerade in dieser Hinsicht sich selbst korrigiert
hat. Der Verf. beantwortet also beide zu Anfang
gestellte Fragen mit Nein. Es ist aber zu bedauern, daß
■er bei dem Nachweis, daß Barth bei seinem theologischen
Neuansatz auch unter das von Overbeck gegen die
Theologie überhaupt ausgesprochene Verdikt fällt, die
von gewisser Seite nun schon traditionellen schiefen Urteile
des Intellektualismus (S. 113, 116, 128), des Dogmatismus
(S. 104), der pessimistischen Kulturkrisen und
Weltuntergangsstimmung (108, 110), des Rationalismus
und Formalismus (S. 105), des Katholisierens (S. 104,
er will sogar eine durch die Berichterstattung der „Chi istlichen
Welt" (!) vermittelte Abhängigkeit Barths von den
päpstlichen Erlassen gegen die Modernisten nachgewiesen
haben (S. 151)), des mangelnden Verständnisses für
die subjektive Seite des Christentums, des Fehlens der
Heilsgewißheit (126, 127) u.s.w. über Barth nur wiederholt
. „Diese Theologie ist in Wirklichkeit nur eine
geistvolle Destruktions und Abstraktionstheorie, hinter
deren volltönender Begrifflichkeit das Nichts gähnt" (S.
117), Barths Thesen werden nur dargestellt und mit allgemeinen
Zensuren versehen, es fehlt aber eine die sachlichen
Fragen emstnehmende theologische Auseinandersetzung
mit ihm. Und wenn man auch fragen kann, ob
die bisherige Theologie Barths schon die Ueberwi.n-
dung der gegenwärtigen inneren Krisis von Theologie
und' Christentum darstellt, so ist doch das, worauf der
Verf. zur Beantwortung jener zweiten hrage hinweist,
noch bedenklicher. Zunächst hebt er hervor, daß Overbeck
selbst die pietistische Form des Christentums als
die einzige bezeichnet hat, unter der ihm ein persönliches
Verhältnis zum Christentum möglich gewesen wäre. So
nieint auch der Verf., daß allein die Beachtung der pia
desideria Jakob Speners, die präxis pietatis aus der
theologischen und religiösen Krisis herausführen könnte
. Nun ist die Mahnung zum christlichen Leben zu keiner
Zeit überflüssig und in allen Notlagen von Kirche
und Christentum die erste Antwort auf die Frage ihrer
Ueberwindung. Das christliche Leben kann aber nicht
von der Wahrheit des göttlichen Wortes getrennt werden
, dem der Glaubensgehorsam dienen will. Die einzige
Lösung der Krise kann also nur die sciu, daß Gottes
Wort lauter und rein „im Schwange" ist. Dies schenkt
allein Gott selbst. Wir können dem nur dienen in einer
an der Schrift orientierten Theologie. Sch. übersieht,
daß gerade der Pietismus mit seiner Betonung des
christlichen Lebens trotz seiner unbestreitbaren Verdienste
die Säkularisierung des Christentums nicht aufgehalten
, sondern im Gegenteil gefördert hat und daß auch
der heutige Pietismus als solcher jedenfalls nicht das
lösende Wort in den kirchlichen Kämpfen der Gegenwart
gefunden hat. So dürften denn auch die theologischen
Andeutungen am Schluß des Buches, die an die Gedankenwelt
der Oxfordbewegung erinnern (auch der lobende
Hinweis auf Emil Brunners theologia naturalis, auf
die formale imago Dei als „Anknüpfungspunkt" für
die göttliche Erlosungsgnade und auf die „Schöpfungsund
Erhaltungsordnungen" fehlt nicht) uns heute kaum
weiterführen, sondern auf eine von Overbeck und Barth
gerügte Synthese von christlichem Glauben und humanistischer
Kultur hinauslaufen.
Halle a. S. Werner Wiesner.

Kähler, Mnrtin: Der Lebendige und seine Bezeugung in der
Gemeinde. Berlin: Furche-Verlag 1937. (XVI, 109S.) 8°. Kart. RM2.40
Schniewind bietet in diesem Buche eine Auslese aus
Kählers Schriften, abgesehen von seinen Sehnftauslegun-
gen und auch seinem Hauptwerk, der „Wissenschaft der
christlichen Lehre". Diese zunächst befremdliche Uber-
gehung mag ihren Grund darin haben, daß die Ausgabe
Für einen weiteren Leserkreis bestimmt ist, dem die
strenge und gedrungene Sprache der letzteren nicht

| gut verständlich wäre. Auch handelte es sich für den
I Herausgeber wohl darum, Kähler als lebendigen Zeu-
| gen der christlichen Wahrheit in Erinnerung zu bringen,
wie er sich in den benutzten Schriften, die zumeist
Vorträge, Streitschriften, Betrachtungen, Predigten, Briefe
sind, darstellt. Daher hat er auch aus Nachschriften
von Vorlesungen über Dogmatik und Ethik geschöpft,
in denen sich Khl. oft ganz unmittelbar und persönlich
! an seine Zuhörer wandte.

Vorangestellt hat Sehn, eine „Einführung", welche
! die Kernpunkte seiner Lehre kurz zusammenfaßt. Die
: Auswahl aus seinen Schriften selbst gliedert sich in 7
Abschnitte mit folgenden Überschriften: 1. Der lebendige
Gott. 2. Christus der Herr. 3. Ich glaube an den
heiligen Geist. 4. Eine heilige, christliche Kirche, 5.
j Die Bibel, das Buch der Menschheit. 6. Dienende Theo-
s logie. 7. Kirche und Welt. Jeder von ihnen umfaßt
j wieder zahlreiche, mehr oder weniger lange, manchmal
nur ein paar Sätze oder auch nur einen einzigen ent-
! haltende Unterabschnitte mit kennzeichnenden Über-
J Schriften, was der Übersicht und dem Erfassen ihres
i Hauptinhaltes dient.

Es ist unvermeidlich, daß bei einer solchen Auslese
manche Gedanken öfter wiederkehren. Schließlich dreht
j sich doch bei einem Systematiker, wie Khl. es war,
alles um einige wenige Grundwahrheiten, die nach allen
i Seiten hin durchdacht und in alle Konsequenzen verfolgt
j werden. Und wenn das so eindringlich und so geistvoll
geschieht wie bei ihm, wird auch keine Ermüdung eintreten
. Im Ganzen hat Sehn, aus Khl.'s langjähriger und
reicher Arbeit gut herausgegriffen. Was er bietet, gibt
ein Bild seines christlichen Glaubens und seines 'tiefgehenden
Denkens. Und das wird denen, in deren
Hände das Buch kommt, eine Förderung in ihrem Glaubensleben
und ein Antrieb zum Nachdenken über die
christliche Wahrheit sein.

Was ich vermisse, ist ein Eingehen auf die sittliche
Seite der Sache, die Khl. doch auch sehr am Herzen
lag und für ihn mit dem christlichen Glauben auf's
engste zusammenhing.

Königsberg. M. Schulze. '

! Weichbrodt, Prof. Dr. R.: Der Selbstmord. Basel: S. Karger
1937. (250 S.) gr.8°. RM 11-.

Weichbrodt hat das Thema erstmalig 1923 behandelt
und seitdem alles gesammelt, was an Literatur dazu erschienen
ist. Er hat sich jetzt die Aufgabe gestellt,
alle Fragen, die den Selbstmord angehen, nach allen
j Richtungen hin zu untersuchen. Er löst diese Aufgabe
| zunächst historisch, indem er die Anschauungen der
Juden, Griechen, Römer, Germanen, der Religionen
Asiens und des Christentums, der Philosophen und Dich-
| ter zusammenstellt. Dann betrachtet er den Selbstmord
| vom Standpunkt der Rechtsprechung, der Sexualität und
der Medizin. Überzeugend abgewiesen wird die An-
| sieht, daß die Ursache des Selbstmordes fast immer
in Geisteskrankheiten zu suchen sei, denn von 1400
! Selbstmördern der Stadt Frankfurt a. Main waren nur 44
vorher einmal in einer Anstalt gewesen. In erster
i Linie scheint ihm die Selbstmordhäufigkeit vom Wirt
j schaftsieben abhängig, denn zweifellos haben die
! Selbstmorde in der wirtschaftlichen Depressionsperiode
stark zugenommen, aber auffällig ist doch, daß ihre Zahl
tut New York in der gleichen Zeit 201 auf 100 000
i Einwohner, in Wien jedoch nur 58 auf die gleiche Einwohnerzahl
beträgt, obwohl hier das Wirtschaftselend
kaum geringer gewesen sein dürfte. (D. F. L. Hoff-
mann, Charakter 1932/181). Den Einfluß der Rasse
auf die Selbstmordhäufigkeit leugnet Weichbrodt, läßt
: aber mit seiner Polemik gegen die gesamten Ergebnisse
Günthers unsachliche Motive vermuten. Günthers
Auffassung des Selbstmords in Europa als einer wesent-
f lieh nordrassischen Erscheinung aber habe ich
durch beachtliche Tatsachen unterbauen können (Vergl.
Vorwahl, Rasse und Selbstmord, Münch, med. Woch.