Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1938 Nr. 13

Spalte:

231-233

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Paul Theodor

Titel/Untertitel:

Der mittelalterliche Mensch 1938

Rezensent:

Dörries, Hermann

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

231

Theologische Literaturzeitung 1938 Nr. 13.

232

und immer wieder sein Haupt erhebt: Nibelungenlied,
Kyff häuser, Parzival; später Leibniz, „Sturm und Drang",
Goethe, Schiller, Romantik, Fichte, Nietzsche u. v. a.
Eckhart überwindet vom Boden des Christentums aus
die Dämonisierung der Natur. Die Synthese findet Nikolaus
Gusanus und später der Idealismus. Goethes „Faust"
ist aus „germanisch-christlichem Geist heraus erschaffen
, er ist die schönste Vermählung von Germanentum
und Christentum."

Heut heißt die Spannung: „Nationalsozialismus und
Christentum". Wieder zeigt sich die alte Neigung der
Deutschen durch „Überspitzungen" die Einheit zu gefährden
. Deshalb empfiehlt der Verfasser folgende Lösung
: „Die Vertreter des reinen Germanentums sollten
sich sagen, daß das Christentum ... in einer IVa Jahrtausend
alten Entwicklung auf „deutschem Boden mit
unserm Volke verwachsen ist"- Die Christianisierung unseres
Volkes ist „eine unabänderliche Tatsache, die wie
alles Geschichtliche nicht mehr rückgängig gemacht werden
kann." Man sollte „das ungeheuer Positive, das
wir dem Christentum in den 15 Jahrhunderten unserer
Verbindung mit ihm zu danken haben, ehrlich anerkennen
".

Dementsprechend sollen die Vertreter des Christentums
die heutigen „gewaltigen Erschütterungen als gottgewollt
ansehen" und sich auf die besonderen Aufgaben
der heutigen Zeit einstellen. „Darin erwies das Christentum
noch immer seine weltumgestaltende Kraft am unmittelbarsten
." Das Musterbeispiel ist Luther, der Mann
des Mutes und des Gottvertrauens; er war „Deutscher
und Christ in einer Person".

Mit diesen von hoher Warte gegebenen Ausführungen
Karl Weideis können wir uns durchaus einverstanden
erklären, zumal sie in praktischen Ratschlägen gipfeln
. Nur wird er der Kirche da nicht gerecht, wo er sie
nicht „von der Kirche her" sieht. Auch handelt es sich
in diesem Kampfe gar nicht um Dogmen und sonstige
veraltete Anschauungen.

Aber das alles hindert nicht, diese gut orientierende
Schrift beiden Gruppen dringend zur Beachtung zu
empfehlen. . Sie ruft zur Besinnung und ist deshalb geeignet
, zur Entgiftung des Kampfes und damit zur Lösung
des Problems beizutragen.

Stettin.__Hugo Stelter.

Hoffmann, Paul Th.: Der mittelalterliche Mensch, gesehen aus
Welt und Umwelt Notkers des Deutschen. Zweite, durchgesehene und
verbesserte Auflage. Leipzig: J. C. Hinrichs 1937. (313 S.) gr. 8°.

RM 6—; geb. 7.50.

An einer charakteristischen Erscheinung ein ganzes
Zeitalter zu schildern, ermöglicht zugleich tieferes Eindringen
und hält doch das Einzelne im größeren Zusammenhang
. Die Kraft des geschichtlichen Urteils aber
zeigt sich daran, wie weit der Kreis gezogen wird, als
dessen repräsentativer Mittelpunkt jene Einzelerscheinung
dargestellt wird.

Hier wird St. Gallen, das ja im IX. und X. Jahrhundert
die karolingische Kulturtradition erhielt, nicht
nur als Repräsentantin des deutschen geistigen Lebens
im Frühm ittelalter dargestellt, sondern in dem süddeutschen
Benektinerkloster der Zugang zum „mittelalterlichen
Menschen" überhaupt gesucht. Der St. Gallen
und Notker gewidmete Hauptteil des Buches läßt aus
dem berühmten Bauplan vom Jahre 830 ein anschauliches
Bild der weiten Anlage erstehen, beschreibt die
äußere und innere Form des darin sich bergenden
Mönchtums, stellt eine Reihe seiner Gestalten, die dort
eine Büßerzelle, ein Katheder oder auch einen Herrensitz
gefunden haben, noch besonders vor Augen, und
führt uns schließlich in die Schulstube Notkers, um im
engsten Raum den innersten Gehalt des hier sich entfaltenden
Lebens erkennen zu lassen. Daß es zugleich
der Gehalt des ganzen Zeitalters sei, sollen in einem
Schlußabschnitt die großen mittelalterlichen Dichter,
Gottfried, Wolfram und Dante, bezeugen, nachdem schon
die ausführliche Einleitung ein Verständnis der Grund-

j züge zu vermitteln suchte, nicht nur mit Hilfe einer Art
von Begriffspsycho-logie, sondern namentlich an Hand
der Lebensordnung Benedikts von Nursia. Denn in dieser
findet der Verf. die kundige Hinweisung, das mit-

I telalterliche Ideal zu verwirklichen, die Regel, deren

j Anwendung St. Gallen zum Range eines Beispiels er-

I hebt.

Vielleicht wird da die Kritik einzusetzen haben. Die
i geschichtliche Eigenart St. Gallens besteht ja gerade
l: nicht in der vorbildlichen Verkörperung benediktinischen
j Geistes, sondern in einer Zwischenstellung zwischen dem
I ursprünglichen benediktinischen Mönchtum, das sich hier
mit der karolingischen Renaissance verband, und der
großen an den Namen Clunys angeschlossenen Reformbewegung
, der es sich verschloß, der aber die Zukunft
j gehören sollte. So gewiß es gerade in seiner treu festgehaltenen
Vermittlerrolle sein Eigenrecht hat und unsere
Aufmerksamkeit beanspruchen kann, so sicher verfehlt
man seine Besonderheit, wenn man seine allgemeine
Bedeutung, auch die repräsentative, übersteigert. Das
Buch leidet daran, daß es seinen Gegenstand in einen
zu weiten Rahmen hineingezeichnet hat. Da sie mehr
und anderes bedeuten müssen, als sie wollen, so werden
die einzelnen Züge nicht selten unnatürlich verzerrt oder
! verschwimmen die Konturen.

Das gilt erst recht für den Rahmen selbst. Mit
I der Entfernung von seinem nächsten Gegenstand läßt
die Sicherheit sowohl der Kenntnis wie des Urteils nach.
| Als Entscheidung des Arianismus und der ihm nach-
j folgenden Kirche (!) den Satz anzugeben: „weil er
! (Christus) göttlich war, war er vollkommener Mensch"
I (S. 17, S. 267), verrät nur die Unbekanntschaft mit
j diesen Fragen. — Die bittere Askese der Iren, die zu
allen anderen Entsagungen noch die auf die Heimat
hinzuzufügen hieß (vgl. H. v. Campenhausen, Asketische
Heimatlosigkeit, 1930, S. 17), wird zu „heimlicher Sucht
nach aventiure" umgedeutet (S. 90); die von Heimweh
Angefochtenen werden als ein Typus „des internationalen
, heimatlich ungebundenen", von einem angeblich anderen
des „heimatlich gebundenen Mönchtums" unterschieden
(109)! Noch weniger sinnvoll ist es, wenn
die Iren, die sich selbst mit Recht auf ihre kleinasiatischen
Traditionen beriefen, „das nordisch-frühe Christentum
" (S. 90), eine „nordische Linie" (S. 92) vertreten
müssen. Das Vordringen der Benediktinerregel
j sollte man nicht mit dem des Mönchtums verwechseln,
das seine werbende Kraft längst vor Benedikt sehr
wirkungsvoll in Spanien und Gallien bewiesen hatte
(S. 41). Der männlich-besonnene Benedikt darf nicht,
wie allenfalls Franz von Assisi, zu den „kindlich genialischen
Naturen" gezählt werden (S. 40). Karl d. Gr.
j legte auf deutsche Predigt Wert und gerade nicht
auf den unverstandenen lateinischen Wortlaut (S. 152),
I sondern auf den verstandenen Inhalt des Glaubensbekenntnisses
!

Tiefer greift das Bedenken, ob dje eingeschlagenen
Wege auch zu ihrem Ziele führen. Denn die Denk-
j weise des Verf.s, die die Deutung des geschilderten Zeit-
! alters völlig bestimmt, liegt weit ab von dessen eigener
i Meinung. Das mittelalterliche Streben, die Natur zu über-
| winden, wird als — großartige — Hysterie bezeichnet
j (S. 35). Dem Mönchtum scheint seine strenge Tagesord-
! nung gegeben, um die Fülle seines Erlebens zu steigern
I (S. 78). Das Erleben ist überall der Beziehungs- und
Richtpunkt. Die „jeweils herrschende Lebenswelle" (S.
139) muß Norm und Vollmacht herleihen, aus der allein
das Handeln und Denken sich rechtfertigen kann. Hier
entsteht der „innere Zwang", das Nicht-anders-können
; im Sinne Luthers (S. 139). Hier finden Wahrheit und
| Recht ihre Begründung („Er sah nur auf das eine,
was im Mittelalter not war" (S, 137)!). So endet
I der Weg durch Notkers Schrifttum mit der Feststellung,
I daß Wissen im Grunde nichts anderes sei, als der innere
| Entschluß, etwas für wahr zu nehmen. „Dieser innere
I Entschluß ist identisch mit dem Zwang, Wahrheit und