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Ausgabe:

1937

Spalte:

157-160

Autor/Hrsg.:

Haussleiter, Johannes

Titel/Untertitel:

Der Vegetarismus in der Antike 1937

Rezensent:

Hempel, Johannes

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Theologische Literaturzeitung 1937 Nr. 9. 158

K. beruft sich dabei auf Overbeck, der (in „Christen- hangsvveise behandelt, die frühchristliche Askese bewußt
tum und Kultur") im Blick auf das Urchristentum beiseite gelassen und der Manichäismus lediglich inso-
einen Begriff der Urgeschichte entwickelt hat. Aber fern gestreift, als der Neuplatoniker Alexander von Ly-
hier liegt das Problem doch wesentlich anders. Kann kopolis seinen Vegetarismus bekämpft. Damit fällt der
man wirklich angesichts der so stark reflektierten Form , Hauptnachdruck auf die Geschichte der Orphik und des
der Platonischen Dialoge von einer Sorglosigkeit ge- i Pythagoreismus samt seinem Einfluß auf die Akademie,
genüber dem literarischen Ausdruck sprechen, wie sie . aus deren Kreisen der Vegetarismus nicht wesentlich
O. für die „christliche Urliteratur" charakteristisch fin- l herausgedrungen ist, bei deren Nachfolgern er sich aber
det? Und ist es wirklich der Schleier urgeschicht- I bis ins 4. Jahrhundert p. C. mit größerem oder gerin-
1 icher Überlieferung, der jenes Inoognito über die Ge- gerem Ernst (Kaiser Julian!) erhalten hat. Die vorstalt
des Spkrates verbreitet? Wir müssen daher diese ! liegende Arbeit will damit „einen Beitrag zur antiken
Übernahme der O.'schen Unterscheidung als eine Tri- ! Kultur- und Geistesgeschichte liefern und gleichzeitig
vialisierung ablehnen, die das Sokratesproblem sachlich ; den gebildeten Vegetariern der Gegenwart, denen ihre
nicht zu fördern vermaß Gewiß, jeder echte Ursprung i Lebensweise Herzenssache ist, ein auf geschichtliche
ist ein Rätsel, aber die Geschichte darf sich nicht ! Objektivität Anspruch machendes Bild des antiken Vege-
beirren lassen,'den Ursprüngen nachzuspüren. Gewiß, j tariertums in die Hand geben." Diese geschichtliche
Beweismittel dokumentarischer Natur reichen dafür nicht Objektivität hat der Verfasser im bewußten Gegensatz
aus; die Geschichtswissenschaft muß sinnerschließendes ! gegen die „Bibel der Vegetarianer", die Thalysie des
Verstehen zu Hilfe nehmen. Aber muß sie darum zu- I I. A. Gleizes, (Paris, 3 Bde, 1840 ff.), dadurch erreicht,
gleich auch ihren Wahrheitsanspruch verkleinern oder ! daß er die einzelnen Quellenzeugnisse genau verhört, sich

auch nur modifizieren? Wäre nicht umgekehrt eine sinn
erschließende Konstruktion, wie K. sie versucht, wertlos!,
wenn wir uns durch sie nicht beständig auf die historischen
Dokumente verwiesen sähen und wenn sich dabei
nicht ein neues Verständnis eben dieser Dokumente
ergäbe? Daß sich K.'s Deutung darin bewährt, beweist
I ihren Wert — entgegen der schlechten Theorie, die K.
sich dafür zurecht gemacht hat.

Doch damit haben wir, so scheint es, einen wesentlichen
Gesichtspunkt außer acht gelassen, den K. seiner
Betrachtung zugrunde legt. Sokrates gilt ihm, wie
schon erwähnt, als Ursprung der abendländischen Metaphysik
. Diese These ist interessant, aber sie berührt
die Substanz des Buches nicht eigentlich. Es fehlt
die Durchführung, und so bedarf es auch aus diesem
Grunde nicht jener verstiegenen gcschichtsphilosophii-
schen Theorie.

Wir sind darauf so ausführlich zu sprechen gekommen
, weil hinter dieser Attitüde eine Verlegenheit grundsätzlicher
Art sichtbar wird, deren Spuren in der gegenwärtigen
geistesgeschichtlichen Forschung, speziell auf
theologischem und philosophischem Gebiet, oft zu beobachten
sind. Auch Bröcker erscheint davon irgendwie
beeinflußt, wenn man sich von der scheinbaren Naivität
seiner Betrachtung nicht irreführen läßt. B. will „den
Aristoteles wesentlich auslegen, ihn so verstehen,
daß dieses Verständnis zum eigenen Philosophieren einen
neuen Antrieb geben kann" (5). Das beweist: man
empfindet die reine historische Betrachtung als leer
und sucht nach Möglichkeiten, sie zu aktualisieren. Daruni
hier die Fiktion der Urgeschichte, dort eine Interpretation
historischer Texte ohne jede historische Distanz
, ja in völligem Vergessen der Frage nach der sachlichen
Bedeutung auch gegenüber den verstiegensten
Gedankengängen, die man aus den Texten herauslesen
zu müssen glaubt. Zugleich verrät sich in diesem Vorgehen
das Bedürfnis, die echte gegenwärtige Problematik
aus der Vergangenheit zu bereichern. Weder sachlich
noch historisch scheint man sich dabei jedoch über die
Wirklichen Zusammenhänge im klaren zu sein. Und
so kommt man denn auf beiden Wegen der Gefahr, einer
Fiktjpn zum Opfer zu fallen, nahe genug.
Qöttingen. Hennann Z e 11 n e r.

Haussleiter, Johannes: Der Vegetarismus in der Antike.

Berlin: Alfred Töpelmann 1935. (VIII, 428 S.) gr. 8°. = Religions-
gesch. Versuche u. Vorarbeiten, 24. Bd. RM 22.50.

Das vorliegende kenntnisreiche Buch, dessen Anzeige
°hne Schuld des Referenten erst jetzt erfolgt, hat sich
den Vegetarismus in der Antike im engeren Sinne, d. h.
als Enthaltung vom Fleischgenuß unter Ausschaltung
anderer lebensreformerischer Bestrebungen zum Thema
gewählt und dabei in erster Linie die griechisch-philosophische
Entwicklung ins Auge gefaßt. Die Medizin
und die spezifisch römische Geschichte werden nur an-

mit der wissenschaftlichen Literatur, sowohl der philologischen
als der philosophisch-kulturgeschichtlichen
unter Wahrung seiner Selbständigkeit auch gegenüber
einem Werke wie Wilamowitz' Glaube der Hellenen (in
der Frage der Orphik) auseinandersetzt und so seine
Darstellung gewissenhaft unterbaut. Als besonders wichtig
wird ein Abschnitt aus des Hierokles Commeritarius
in aurea carnüna Pytka^oreorum in Übersetzung mitgeteilt
. Als strenger Philolog beschränkt sich H. dabei
im wesentlichen auf die in griechischer oder lateinischer
Überlieferung vorliegenden und ihm damit in der Ursprache
zugänglichen Zeugnisse, ein Verfahren, das freilich
für ein Gebiet wie Ägypten seine Nachteile hat.
Wir lernen auf diesem Weg das Bild kennen, das sich die
spätere Antike von den dortigen Zuständen gemacht hat,
aber nicht die tatsächlichen Verhältnisse der älteren
Zeit. Für Syrien ist durch die räs sam/ä-Texte die
Frage der tierischen Opfer eindeutig gegen Porphyrios
entschieden und dadurch seine Glaubwürdigkeit erneut
erschüttert. Wenn man, wie H. es für die Essener zu
tun geneigt ist, aus dem Fehlen der blutigen Opfer auf
Vegetarismus schließen und die Fleisch- mit der Weinabstinenz
eng zusammennehmen darf, hätte auch Pap.
Fleph. 30, 19 ff. Cowley als Beleg für zeitweilige
Heichaskese bei Trauer herangezogen werden können.
Doch bedeuten solche Lücken im Material wenig gegenüber
dem Vorteil, der durch die Gewissenhaftigkeit
des Bearbeiters gewonnen ist. Vielleicht tritt sogar die
Schilderung der Sitten und Lebenshaltungen selbst hinter
diesen begründenden Untersuchungen gelegentlich
zu stark in den Hintergrund, sodaß das Werk strek-
kenweise eher den Charakter eines Handbuchs als einer
Monografie annimmt. Es ist aber durch die angewandte
Methode gesichert, daß der wissenschaftliche Erkenntnisdrang
und nicht modern-lebensreformischer Fanatismus
die Feder führt, mag immerhin eine Überschätzung
des „historischen" Gehaltes sagenhafter Schilderungen
des vegetarischen Idealvolkes von vollendeter Sittlichkeit
und Friedlichkeit, der Spermatofagen, der Hippemolgen
und ähnlicher Herrschaften nicht ganz gemieden
sein. Natürlich ist auch H. nicht gewillt, diese Bilder
in den Einzelheiten für historisch zu halten; für
mich gehören sie wie der Idealzustand des vegetarischen
Urfriedens in Genesis 1 zum eisernen Bestand
der Ausmalung des Landes Utopia und des Paradieses,
die man nicht auf dieser Erde suchen darf. Sie haben
als solche ihren Wert indem sie zeigen, daß der Tierfriede
und damit die Tierschonung zu Motiven des
Empfindens gehören, die weit über den Kreis vegetarischen
Sektentumes lebendig sind. Auch ein gut Stück
Furcht des Menschen vor dem übergewaltigen Tier,
das ihn „jagt" und tötet, ist darin lebendig; vom Frieden
mit dem Tier hat der Mensch fast mehr zu gewinnen
als sein Partner. Ohne ein Verständnis für die geistigen
Impulse der ganzen vegetarischen Bewegung aber,
die solche gelegentlichen Überschätzungen mit sich