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Ausgabe:

1937 Nr. 5

Spalte:

91-93

Autor/Hrsg.:

Schultz, Werner

Titel/Untertitel:

Das Verhältnis von Ich und Wirklichkeit in der religiösen Anthropologie Schleiermachers 1937

Rezensent:

Wendland, Johannes

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Theologische Literaturzeitung 1937 Nr. 5.

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sich vor allem fragen müssen, ob nicht jede Christologie
grundsätzlich verfehlt ist, die versucht im Mysterium
des Gottmenschen Jesus Christus mit solcher Bestimmtheit
zu scheiden zwischen dem Anteil Gottes und dem
des Menschen Jesus. Im Einzelnen ist zu bemerken,
daß dem Verf. die protestantische und anglikanische
Literatur zum Problem fast völlig unbekannt geblieben
ist. Was er daraus zitiert, bleibt dürftig in der Darstellung
und unbefriedigend in der Deutung. Die Darbietung
des dogmengeschichtlichen Materials ist, wie bei
den meisten katholischen Autoren, kaum mehr als eine
Aufreihung und Vergleichung bestimmter Lehrpunkte,
ohne daß im Einzelnen eingegangen würde auf die Motive
und Umstände, die zur Bildung der Lehren geführt
haben. Dadurch wirkt die Anordnung schematisch und
in ihrer Breite ermüdend. Die Übersetzung der lateinischen
Zitate ist nicht immer genau, zuweilen sogar
irreführend (z. B. S. 221: „also hat das Priestertum
Christi nicht nur in anderen, sondern auch in sich (statt:
in Ihm) selbst eine Wirkung", oder S. 205, wo „Christus
perficit sacramenta" mit „die Sakramente werden von
Christus selbst vervollkommnet" wiedergegeben
ist.)

z. Z. Bangor, N. Wales. Otto A. Piper.

Schultz, Priv.-Doz. Lic. Dr. Werner: Das Verhältnis von Ich
und Wirklichkeit in der religiösen Anthropologie Schleiermachers
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1935. (168 S.) gr.
8°. = Stud. z. syst. Theologie. Hrsg. v. A. Titius u. Q. Wobbermin.
H. 17. RM 6.80.

W. Schultz hat schon erfolgreich an dem Problem
des Verhältnisses philosophischer und theologischer Anthropologie
in Auseinandersetzung mit Heidegger,
Dilthey u. a. mitgearbeitet. Das vorliegende Buch führt
diese Arbeiten weiter. Es ist wertvoll durch die Verbindung
systematischer Fragestellung und gründlicher
historischer Einzelforschung. Das Problem der Anthropologie
lautet nach Schultz: wie werde ich über die mein
Leben in der letzten Tiefe erschütternden Mächte Sorge,
Leid, Schuld und Tod Herr? Sieht man von der skeptisch
-naturalistischen Auffassung ab, die gar keine Lösung
geben kann und will, so stehen sich gegenüber die
philosophisch-idealistische und die theologische Anthropologie
. Beide verheißen eine Lösung. Die erstere sieht
die bedrohenden Mächte nur an der Oberfläche des Lebens
spielen. Sobald der Mensch aber von der Erscheinungswelt
sich zu dem Kern seines mit Gott wesentlich
und naturhaft zusammenhängenden Lebens zurückzieht
, ist er in einem Reiche, in dem nur Frieden,
Harmonie, Einheit herrscht. Die unser Dasein bedrohenden
Mächte reichen nicht bis in diese letzte Tiefe;
sie werden spielend durch eine Begriffskonstruktion
überwunden. Und doch ist dies nur eine scheinbare
Überwindung, die letztlich auf die autonomen Kräfte
des von Gott bereits getragenen und durchwalteton
Menschen rechnet. Unser Jahrhundert hat im Gegensatz
zum deutschen Idealismus erkannt, daß dämonische,
irrationale Mächte unser Leben in der Tiefe bedrohen.
Die Wucht und Schwere dieser Erkenntnis schafft erst
die Vorbedingung, um den Ernst des christlichen Glaubens
zu erkennen. Dieser macht mit den dunklen Gewalten
des Lebens Ernst und glaubt, daß sie nur durch die
aus dem Jenseits hereinbrechende Liebe Gottes bezwungen
werden, die in Christus erschienen ist.

Mit dieser Fragestellung der Gegenwart geht Schultz
an Schleiermacher heran. Wertvoll wird die Schrift
zuerst dadurch, daß Schi, in den Rahmen der auf ihn
wirkenden Geistesrichtungen und Persönlichkeiten hineingestellt
wird. Vergleichsweise wird herangezogen: wie
haben Piaton, Spinoza, Leibniz, Shaftesburv, Hemster-
huys, wie Kant, Fichte, Herder, Goethe, Schilling, W. v.
Humboldt die Frage gelöst? Sie alle vertreten eine
idealistische Wesensschau des Menschen wie der Welt.
Teils wird wie bei Kant und Fichte das subjektiv Unbedingte
, die autonome Willensmacht des Menschen als

siegende Kraft über Schicksal und Schuld angesehen,

! teils wird von den andern Idealisten das objektiv Unbedingte
, das von göttlichem Geist durchwaltete Universum
als in der Tiefe harmonisch gepriesen. Beide Rich-

I tungen des Idealismus sind die geistige Heimat Sclil.s
schon in seiner Jugend geworden und bis an sein
Ende geblieben. Aber eine christliche Anthropologie,
die Leid und Sünde nicht durch Scheinlösungen bewältigen
will, taucht zuerst in Ansätzen in der 5. Rede

j über die Religion auf, ohne die idealistische Konstruktion
zu stürzen. Am mächtigsten ist sie in der Glaubens-

! lehre. Aber mit ihr wird die idealistische Anthropologie
verbunden, ohne daß eine Einheit erreicht wird. Der
Ernst des Ringens Sehls wird anerkannt. Er stellt uns
die Aufgabe einer besseren Lösung.

Außer diesen Hauptschriften werden die Jugendarbeiten, die Mono-
j löge, die verschiedenen Entwürfe der philosophischen Ethik und Dialektik
u. a. in gründlicher Einzelforschung untersucht und auf vorhandene Unstimmigkeiten
in sich und untereinander abgehört. Es fehlt hier der
Raum, um hier mitzuteilen, wie Schultz zwischen den „Reden" und den
Monologen, zwischen den „Reden" und der Dialektik starke Gegensätze
herausarbeitet. Zuweilen kann man gegen Schultz versuchen, eine höhere
Einheit zwischen den Gegensätzen herzustellen, so zwischen „Reden"
und Monologen, die zunächst ganz entgegengesetzt klingen: dort das
objekiv Unbedingte, das Universum, hier das subjektiv Unbedingte, die
Freiheit, die dem Schicksal trotzt, über Alter und Sterben Herr zu werden
sich erkühnt, und doch sind beides nur zwei Seiten einer Betrachtung
, die Gott im Universum' ebenso wie im Geistesleben wirksam sieht,
! worauf schon Dilthey hingewiesen hat. Aber Schultz hat darin Recht:
wenn Schi. s. Anschauung auch einheitlich ist, wenn man auf seine
Grundtendenzen blickt, so ergeben sich Risse und Widersprüche, wenn
man auf das Einzelne sieht; Schi, sucht oft vergeblich auszugleichen,
was sich doch widerspricht.

Wie in den Monologen das Böse überhaupt nicht
berührt wird, so wird auch in der philos. Ethik die
Frage des Bösen entfernt, weil dies in dem idealen We-
sensgefüge keinen Platz hat. Die Geschichte ist nach
der Ethik „nicht die irrationale, von Spannungen und
Revolutionen erfüllte Entwicklung wirklicher Geschehnisse
" sondern stetig fortschreitender ethischer Prozeß
mit dem Ziel der Einswerdung von Natur und Vernunft.
Ich weise kurz auf die Behandlung der Dialektik hin,
die Schl.s philosophische Grundkonzeption darstellt:
Ideales und Reales oder Vernunft und Natur sind in
Gott identisch. Gott ist gegenwärtig sowohl in der Vernunft
wie im realen Sein: monistischer Panentheismus.
Schultz findet einen scharfen Gegensatz der Dialektik
von 1811 zu der ursprünglichen Konzeption der Reden.
Jetzt hat die philosophisch-metaphysische Konstruktion
die Führung, die 1799 die religiöse Anschauung hatte.
Aber mit Recht sagt Schultz, daß man die Glaubenslehre
nicht auf Grund der Dialektik interpretieren da/-f, wie
E. Brunner es tut. Denn die Glaubenslehre will methodisch
durch die konkrete Anschauung und Intuition,
ohne philosophische Konstruktion der Eigengestalt des
Christentums gerecht werden. Auch wenn man zugibt,
daß sich die panentheistischen Konstruktionen, wie auch
Schultz zeigt, immer wieder einschieben, muß man doch
die diesen Konstruktionen entgegengesetzte Tendenz herausarbeiten
. Ebenso würde ich noch stärker als Schultz
die realistischen Ansätze bei Schi., die ihn in eine neue
Zeit hinüberführen, herausarbeiten, auch wenn diese Ansätze
immer wieder gehemmt sind durch die Auffassung
des Universums als einheitlichen Vernunftsystems.

Auch in der Glaubenslehre würde Schi, selbst die
Einheitlichkeit seines Systems behaupten: Die Einleitung
und der erste Teil seien nur unausgefüllte Rahmen,
die erst durch den 2. Teil, der von Sünde und Erlösung

j handelt, ihren konkreten Inhalt bekommen. D. h. die
Auffassung der Religion als eines apriorischen Elemen-

| tes jedes menschlichen Bewußtseins weise darauf hin,
daß dies Gottesbewußtsein durch Sünde gehemmt wird,
bis die Erlösung durch Christus erst das zur konkreten
Wirklichkeit macht, was an sich in jedem Menschen
angelegt ist. So meint Schi, etwa eine Einheit zwischen

I philosophischer und theologischer Anthropologie herge-

' stellt zu haben. Aber Schultz kann mit Recht zeigen,