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Ausgabe:

1937 Nr. 1

Spalte:

22-23

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Müller, Johannes

Titel/Untertitel:

Refrmation oder Rückkehr zum Ursprung? 1937

Rezensent:

Cohrs, Adolf

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Theologische Literaturzeitung 1937 Nr. 1.

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wahr: die Geschichte liebt Überraschungen, auch dort,
wo sie sich wiederholt; und ihre Linien, die auf immer
unerhörten Kombinationen beruhen, sind selten eindeutig
. Wer weiß, wie sich der Knoten heute schürzen
und entwirren wird? Gewiß, der Historismus ist tot;
und die Antiquitätensammler werden schlechter behandelt
, als sie es verdienen. Aber die Frage Historie und
Glaube ist ungelöst; der Hiatus in der Struktur unserer
Theologie ist unerträglich; die alten Ansprüche der
Geschichtsforschung, die über der Frage nach der Wirklichkeit
der Existenz die Wahrheitsfrage der Wirklichkeit
stellen, melden sich wieder; um so stärker, je
weniger wir sie hören. In diesen Zusammenhängen
glaube ich etwas von den Neuwirkungen Harnacks, die
freilich durch Sterben und Auferstehen hindurch gehen
müssen, ahnen zu können. Mit der rationalen Welle in
der Geschichte des Geistes kann er wiederkommen.

Harnack war kein universaler Theolog. Aber er war,
weil Theologe, fast ein universaler Historiker des Geistes
. Er hat keine Dogmatik geschrieben und keine
Ethik, keine Geschichte der Theologie und keine Konfessionskunde
. Was er geschrieben hat, ist vor allem I
ieine Dogmengeschichte, die große Monographie über j
die Entstehung und Auflösung des trinitarischen und
des christologischen Dogmas; es ist sodann eine unerhörte
Fülle von Büchern und Abhandlungen, die besonders
dem Leben und Denken der alten Kirche gelten.
Auch sein „Wesen des Christentums" ist im Wesentlichen
ein historisches Buch; ein Buch, das in Methode
und Grundansicht besonders an Erasmus erinnert. Man
soll mit historischen Mitteln die Schalen wegräumen,
die über den Kern der Erscheinung des Christentums
zugewachsen sind; und dieser Kern zeigt dann, daß
die Voraussetzung der Harnackschen Dogmengeschichte
richtig ist: das Christentum ist eine undogmatische Religion
.

Zur Kritik dieser Anschauung will ich hier nichts
sagen. Sie ist wie im Humanismus so im Protestantismus
tief verankert; und zwar tiefer als man es heute gemeinhin
weiß. Die Idee von der Hellenisierung des Christentums
ist ein Stück der alten abgewandelten Idee vom
Verfall der Kirche seit den Tagen Konstantins, wie sie
bei Sekten und Spiritualisten im Mittelalter und dann bei
Luther und seinen Nachfolgern ihre Rolle gespielt hat.
Und es ist schon von Bedeutung, Harnacks wissenschaftliches
Werk in diesen großen Zusammenhang einzuordnen
und von da aus zu sehen. Erst danin wird man diesem
Werk gerecht. Denn über den geschichtlichen Wert
eines jeden Werkes entscheidet das Unbewußte. Unsere
Stellung in der Geschichte weisen wir uns nicht selbst an.

Aber genug mit diesen Reflexionen! Ich habe in
dieser Besprechung den Inhalt des Buches nicht wiedergegeben
, sondern vorausgesetzt; und ich habe in ein
paar Urteilen die Vorzüge und die Mängel desselben angedeutet
sowie ein paar Gedanken daran' geknüpft, die
demjenigen kommen, der über die Generation vor uns,
die Generation der Väter, nachzudenken sich bemüht.
Berlin-Grunewald. E. Seeberg.

Erinnerungen an Erzbischof Söderblom. Zu seinem 5. Todestage
12. Juli 1931/36. Sonderheft der Zeitschr. „Eine heilige Kirche".
1936 Heft 5/6. München: Ernst Reinhardt 1936. RM 1.60.

In diesem Erinnerungsheft kommt Söderblom selbst
mit seiner Predigt „Die Pflicht der Christen, eins zu J
sein", sowie mit brieflichen Äußerungen über die ökume- |
nische Bewegung zu Worte. Es folgt eine Darstellung ;
des Lebenswerkes Söderbloms von Prof. Brilioth-Lund.
Ihr schließen sich an Erinnerungen von Prof. Heiler,
von Prof. Glubokowski als Angehörigen der orthodoxen
morgenländischen Kirche und Prof. Hermann Hofmann,
einem römischen Katholiken.

Aus dem Briefwechsel zwischen Söderblom und Heiler
ist besonders lehrreich die starke Verschiedenheit
direr Auffassung der sog. „evangelischen Katholizität"
sowie Söderbloms Urteil über die dialektische Theologie:

die Kirche sei stark genug, um auch sie zu verdauen.
Erwähnt sei auch sein Urteil über den Versailler „Gewaltfrieden
", der mit Recht als die zweite Sonnenfinsternis
nach dem Kriegsausbruch über unsere ganze Kultur
zu bezeichnen sei.

Dem Unterzeichneten weckt dieses Heft unwillkürlich
die Erinnerung an sein eigenes Zusammentreffen mit
Söderblom auf den ökumenischen Weltkonferenzen in
Stockholm/Upsala (1925) und in Lausanne (1927). Ich
habe schon dort und seitdem mehrfach der Überzeugung
Ausdruck gegeben, daß die theologisch-kirchliche Gesamthaltung
des schwedisch-lutherischen Erzbischofs, der
sein Luthertum so stark betonte und in Luther den mächtigsten
Zeugen der Gottesoffenbarung seit der urchristlichen
Zeit sah, innerhalb der neueren theologisch-kirchlichen
Entwicklung in engster An alogie zu derjenigen
Schleier m achers stehe und nur von
diesem Gesichtspunkt aus voll zu verstehen sei. Aus
intimster Kenntnis Söderbloms und seines Lebenswerkes
bestätigt jetzt Prof. Brilioth die Richtigkeit dieses Urteils
. Er faßt nämlich seine Charakteristik Söderbloms
so zusammen: „Bei ihm war die Gründlichkeit des Gelehrten
vereint mit schöpferischer Einbildungskraft und
einem stark künstlerischen Temperament. Eine impulsive
Art, die ihm ein erstaunlich jugendliches Gepräge
gab selbst an der Schwelle des Alters, ging Hand in
Hand mit einem bewunderungswürdig ausdauernden Willen
und einer Selbstbeherrschung, die körperliche und
seelische Schmerzen verbergen konnte, um anderen frohe
Kraft zu vermitteln. Das harmonisierende Prinzip, das
ein organisches Ganzes aus dem verwirrenden Reichtum
machte, war sein christlicher Glaube." Diese Charakteristik
trifft für Schleiermacher genau so den Kern
seiner Wesensart wie für Söderblom.

Berlin. ü. Wobbermin.

Müller, Johannes: Reformation oder Rückkehr zum Ursprung.

Elmau: Verlag d. Grünen Blätter 1934. (128 S.) 8°. = 3. u. 4. Heft
d. 36. Bandes d. Grünen Blätter. RM 2.50.

Wäre dies Buch, von M. selbst als „Ergebnis seiner Erfahrungen
von fast vier Jahrzehnten" bezeichnet, geschrieben aus letzter Solidarität
mit der Not der Kirche, darin bestehend, daß sie wirkliches
Leben aus Gott nicht selbsttätig erzeugen kann — was jedoch dauernd
zu wollen und zu betreiben M. der Kirche vorwirft —, so würde
sich eine ernsthafte Auseinandersetzung lohnen. Wo aber der
Kampf gegen Christentum, Kirche und Theologie wie hier geführt
wird — in überheblichen und vulgären Verdammungsurteilen, mit
verallgemeinerten Zerrbildern, ohne jeden beteiligten Sinn für kirchliches
Geschehen —, da ist ein gemeinsamer betretbarer Boden nicht
da, und die Christenheit kann an solch einem Buch allenfalls
lernen, was bei einer Theologie heraus kommt, die sich sträubt,
eine zu sein, nämlich ein solches Maß von Selbstwidersprüchen,
daß man diese ohne Aussicht auf Klärung eben nur konstatieren
kann. So etwa ist einmal ,,das Eingehen der Herrschaft Gottes . .
ein ganz einfacher Naturvorgang, den kindlicher Sinn von selbst
findet, wenn er dem Zuge des Herzens folgt und sich keine Gedanken
darüber macht" (293); dann wieder kann „die Herrschaft Gottes
in der Menschheit nicht verwirklicht werden" „ohne diese Botschaft"
(vom Reich Gottes) und ihre Auswirkung (274). Einmal bedarf es
des geschichtlichen Zeugnisses von Gott; dann wieder gilt „das
Wort Gottes jedes Augenblicks" (251 u. ö.). Einmal sind „auf
Grund der Erfahrung des gegenwärtigen Wirkens Gottes die alten
Schriften zu verstehen" (223); dann wieder gilt von irgendeinem
Jesuswort, es müsse danach „alles gerichtet und bestimmt werden"
(293). Einmal wird das Gebet, das im Sinne von „Wirf dein
Anliegen auf den Herrn; er wird dir geben, was dein Herz wünscht"
geschieht, als „gänzlich jüdisch und heidnisch" abgetan (267);
zehn Seiten weiter dürfte es M. selber sein, der „sich beugt unter
das Gericht (das heute ergeht) und verzweifelnd stöhnt: Herr
Gott und Vater alles Lebens, rette die Menschheit!" (278). Einmal
„geht alles Ursprüngliche, Wesenhafte, Zeugende nur aus dem
Unbewußtsein hervor" (195), und seitdem aus der Sache Jesu das
wohlorganisierte, dogmatisch und kultisch disziplinierte Reich einer
Religion" geworden ist, haben wir nun eben den Jammer, den
auch Luthers steckengebliebene Reformation nicht abgetan' haf
dann wieder braucht der Führer Adolf Hitler „eine Organisation zur
Pflege und Entfaltung des Innersten in allen Schichten und Kreisen
des Volkes" (281). Und so fort. — Bei M.'s grundsätzlichem
Agnostizismus ist die berstende Fülle der Widersprüche kein Wunder
. Aber er sollte doch, wenn er nach über 100 Seiten aufgereg-