Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1937

Spalte:

19-21

Autor/Hrsg.:

Zahn-Harnack, Agnes von

Titel/Untertitel:

Adolf von Harnack 1937

Rezensent:

Seeberg, Erich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

19

Theologische Literaturzeitung 1937 Nr. 1.

'20

Gewalt der Gnade, die ihn ergriffen hatte, eine imponierende,
einsame, stählerne, unbiegsame Persönlichkeit, die anzog und abstieß
.

Unter den schwierigsten Umständen studiert der von starken
religiösen Einflüssen in seiner Jugend Beeindruckte Theologie in
Utrecht und kommt bald in enge Verbindung mit den Männern des
Reveil, der Erweckung. Aber die eigentliche Bekehrung schreibt
er doch dem unmittelbaren Einwirken Gottes bei Predigtvorbereitungen
zu, man denkt an A. H. Francke. Als Hilfsprediger der luther',
Gemeinde seiner Vaterstadt kommt er in scharfen Gegensatz zu dem
rationalistischen Senior der Pastorenschaft und wird seines Amtes
entsetzt. Er dringt tief in das reformatorische Bekenntnis ein,
aber der Übertritt zur reformierten Gemeinde wird ihm zunächst
versagt. Die Ereignisse seines Lebens in Holland und im Wuppertal
, wohin sein Weg ihn zweimal führt, das zweite Mal, um (dort
die dauernde Heimat zu finden, werden ausführlich und sehr lebendig
dargestellt, vor allem dann die Gründung der niederländiseh-refor-
mierten Gemeinde Elberfeld, der sich Friedr. Wilh. IV. besonders
angenommen hat, und ihr Leben. Die Art der Predigt von K.
wird geschildert. Von hier aus hat er teils persönlich, besonders
in Holland, teils durch seine Predigten und Schriften, die in verschiedenen
Sprachen übersetzt sind, weithin gewirkt. Er ist in
seiner Theologie und Predigt ganz der Mann der Diastase. Sicherlich
wird man beim Lesen des Buches an kirchliche Fragestellungen
herangeführt, die unserer Zeit wieder neu aufgegeben sind. Auch dieses
Buch ist ein dankenswerter Beitrag zur niederrheinischen Kir-
chcngeschichte des 19. Jahrhunderts.

Halle a. S. Wilhelm Usener.

Zahn-Harnack, Agnes von: Adolf von Harnack. Berlin : Hans
Bott 1936. (579 S.) 8°. Kart. RM 7.50; geb. 9—.

Pietät und Bewunderung einer dem Vater an Gestaltungskraft
ähnlichen Tochter haben hier ein literarisches
Denkmal geschaffen, das viele Leser finden wird. Die
Biographie ist mit dem, was man literarische Kultur
nennt, geschrieben; und es gibt nicht gerade viele
theologische Erinnerungen oder Lebensbeschreibungen,
die sich der gleichen Eigenschaft rühmen dürfen. Gerade
in dieser Hinsicht, in der Wirkung auf die sogenannten
Gebildeten, ist diese Biographie wie die Erfüllung
eines letzten Wunsches des Verewigten. Ich
möchte hoffen, daß viele Theologen dies Buch lesen,
obwohl in ihm der Theolog Harnack zurücktritt.

Die Biographie will nämlich in Harnack vor allem
den Organisator, den Mann der Verwaltung und den
politischen Menschen schildern. All das ist Harnack
auch gewesen; und es ist zweifellos von Reiz, auch
durch diese Lebensbeschreibung an die Hintergründe
des großen politischen Geschehens und an die Nebenwirkungen
sowie an die „zweiten Ursachen" der Zeit-

feschichte heranzukommen, wie sie im Bereich des Wirens
eines Professors liegen. Man spürt aus diesem
Buch etwas von der Macht der liberalen Aura, die
um die Epoche Kaiser Wilhelms II. — eine Epoche,
die auch in geistesgeschichtlicher Hinsicht alles andere
als einheitlich ist — herumgewebt hat.

Das andere, was die Biographie deutlich erkennen
läßt, ist die persönliche Frömmigkeit Harnacks. Hier
treten schöne Züge aus dem Innenleben des großen
Kirchenhistorikers hervor, die beweisen, daß er das
Praktische, den Lebenszweig, in der Tätigkeit des
Theologen nie hat verkümmern lassen. Das ist zugleich
ein Charakteristikum der nun von uns gegangenen
Theologengeneration. Man denke etwa an Theodor
Zahn, der seine unerreichte Gelehrsamkeit im hohen
Greisenalter dazu verwandte, um im Kreis der Seinen
die heilige Schrift auszulegen. Ähnliches zeigt sich bei
Harnack. Und was fällt von da aus für ein Licht auf
die Echtheit des gewiß abgestuften Biblizismus, in seiner
kritischen und nicht kritischen Form, in jener
Epoche! Man kann Harnack vielleicht am besten mit
Erasmus vergleichen, wenn man sich seine Art klar
machen will. Aber man darf dann nicht vergessen, daß,
wie bei Erasmus der Einschlag der dewtio moderne
immer lebendig geblieben ist, so bei Harnack jenes Element
eines spiritualen Pietismus nicht ausgelöscht ist,
der ihm als Erbgut aus der baltischen Heimat unzerstörbar
zugewachsen war.

Schade ist es, daß die Biographie es bewußt unter-
| läßt, auf die Theologie Harnacks näher einzugehen.
! Darin liegt unfraglich Tendenz. Sie will den überragen-
I den Menschen darstellen, der als Gelehrter über die
Grenzen seines Fachs und der Wissenschaft hinausgewachsen
war. Gewiß, darin liegt etwas Richtiges.
Wir können stolz darauf sein, daß ein Theolog Repräsentant
des Geistes in einem bestimmten Zeitalter
gewesen ist. Und es ist Unsinn, wenn heutige Theologen
derartiges a priori ablehnen. Auch Harnack selbst
konnte gelegentlich so sprechen, als sei er aus der
Bretterhütte der theologischen Fakultät in den Palast
der allgemeinen Wissenschaft übergesiedelt. Und doch,
auf der andern Seite tut diese Auffassung Harnacks,
die ihn mehr als notwendig als die „Excellenz" in die
Geschichte eingehen läßt, ihm selbst unrecht. Denn
wer ihn irgend kannte, weiß, daß er die historisch-
kritische Kleinarbeit, die er bis zum Schluß seines Lebens
trieb, in persönlichster Anteilnahme getan hat,
und daß er in seinem immer weiter und reifer werdenden
Denken der Theologe blieb, der in der Theologie als
in seinem Lebenselement atmete.

Hier liegt sicherlich ein Manko in der Biographie
vor, mag sie auch in vollem Bewußtsein die eigentlich
! theologische Analyse bei Seite gelassen haben. Zu-
j gleich aber zeigt sich hier ein zeitgebundenes Charakteristikum
dieses Buches, das zu Betrachtungen über den
Beruf des Professors anregen könnte. So viel nämlich
ein Professor in Nebenämtern als Organisator, Verwaltungsmann
oder Politiker leisten mag, es wird immer
Stückwerk bleiben und immer nur Nebenwirkungen auf
den großen Gang des Geschehens ausüben können.
Unser Leben ist zu sehr organisiert, und das Gesamtleben
ist zu stark nach fachlichen Gesichtspunkten gegliedert
, als daß es anders sein könnte. Daher sieht
man nicht bloß mit Bewunderung, sondern auch mit
Wehmut, wie all das, was selbst Harnack an Kraft und
Geist in diese Dinge gesteckt hat, schließlich doch nur
Nebenströmung im Spiel der großen Wellen geblieben
ist.

Die Biographie versucht an zwei Punkten, die Beziehungen
Harnacks zur Gegenwart positiv aufzuzeigen,
an seiner Stellung zum Alten Testament und an seinen
Beziehungen zu Houston Stewart Chamberlain, die ihm
durch Philipp Eulenburg und den Kaiser vermittelt
waren. Aber diese beiden Nägel sind zu schwach, um
die Last der daran gehängten Behauptung zu tragen.
Man wird im Gegenteil daran festhalten müssen, daß
Harnack zu dem Typus der großen Männer gehört,

i welche die Kräfte ihrer Zeit symbolhaft und edel in sich

j repräsentieren, und die deshalb in der Regel in ihrer
Zeit ihren Lohn dahin haben. Der andere Typus der
großen Männer, wie ich in Parenthese hinzusci/en
möchte, ist jener Typus, der in der Ahnung des Wachsenden
und des aus dem Dunkel Hervorbrechenden lebt,
und der deshalb von den Zeitgenossen zumeist übersehen
oder mißhandelt wird. Zu jenem zweiten Typus
gehört Reinhold Seeberg; und dies ist der Gesichtspunkt,
von dem aus das negative Verhältnis der beiden Männer
zu einander erfaßt werden muß. Harnack jedenfalls —
das zeigen seine Denkschriften, sein Brief an Bethman-
Hollweg und seine Haltung in den Fragen der Ostpolitik
deutlich — steht in deutlicher Distanz zu den politischen
und geistigen Kräften des heutigen Deutschland.

Mir scheint aber etwas anders für die Frage: Harnack
und unsere Zeit von Bedeutung zu sein. Einmal

j seine Stellung zum Katholizismus, über welche die
Biographie Beachtliches sagte; sodann das Fortwirken
des Rationalismus innerhalb des Irationalismus, der
die Grundhaltung unserer Zeit bestimmt. Es ist mir
nicht zweifelhaft, daß jene weitherzigen und universalen
Tendenzen des „Theologen der Humanität", wie

j ich Harnack in meiner Gedächtnisrede genannt habe,
gerade in religiöser Hinsicht und gewiß nur auf der

[ einen Seite lebendig geblieben sind. Es ist auch heute