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Ausgabe:

1937 Nr. 1

Spalte:

291-292

Autor/Hrsg.:

Rucker, Palmaz

Titel/Untertitel:

Der Ursprung unserer Begriffe nach Richard von Mediavilla 1937

Rezensent:

Piper, Otto A.

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291

Theologische Literaturzeitung 1937 Nr. 15/16.

'292

1633 und 1654 geschildert. Ihre Briefe geben zusätzliche
Auskunft. Diese Quellen sind durchaus ehrlich
und keineswegs um eines guten Eindrucks willen zurechtgemacht
. Auf Einzelheiten kann ich mich hier
nicht einlassen. Nur dies sei im Anschluß an Renaudin
betont: Bei Maria von der Menschwerdung fallen nie
inneres und äußeres Leben gänzlich auseinander. Sie
ist zugleich Maria und Martha. Ihre mystischen Erfahrungen
sind nie von pathologisch anmutenden körperlichen
Erscheinungen begleitet. Sie zerstören nie den
Eindruck menschlicher Gesundheit. Bis in die Aufzeichnungen
hinein erhält sich eine geordnete Klarheit und
zurückhaltende Keuschheit. Dans Vordre de la my-
stique, Marie a quelque chose de la sante, de La mesure
et de la delicatesse du genie francais, heißt es einmal
(66).

Renaudin hält sich im allgemeinen eng an den Text
der Mystikerin selbst. Dabei aber treibt ihn doch der
Wunsch, auf menschliche Weise ein wenig von seinem
merkwürdigen Gegenstande zu verstehen und verständlich
zu machen. So holt er in Fußnoten heran, was
ihm die moderne Psychologie (H. Delacroix u. a.) und
Philosophie (Bergson, Blondel) an Hilfe bieten. Aber
er findet so nur bestätigt, was er sich selbst schon gesagt
hatte, daß nämlich der „natürlichen" Erklärung
enge Grenzen gesetzt sind, wenigstens dann, wenn sie
die Gesetze der Ehrfurcht beobachten will. Freilich:
wo darf nun andrerseits mystische Erfahrung sich als
„übernatürlich" gesichert und begründet ausgeben? Im
Einzelfall wird diese Frage kaum zu entscheiden sein.
Sie gewinnt einen glaubwürdigen Rückhalt, wenn mystischer
Gottesumgang für die Mitmenschen reiche
Früchte trägt. Und darüber hinaus ist natürlich für
Renaudin die Kirche letzte Entscheidungsinstanz.

Renaudin hat Cristiani gegenüber den höheren Rang
seines Gegenstandes voraus. Außerdem kommen ihm
gröliere schriftstellerische Fähigkeit und frischere Neugierde
zustatten. Wenn er auch keine kritische Biographie
geliefert hat, so wird man sich wenigstens des
eindrucksvollen Bildes freuen dürfen, das er voller Anteilnahme
gezeichnet hat.

Marburg a. .L. W. Kalt hoff.

R u c k e r, Dr. P. Palmaz O. F. M.: Der Ursprung unserer Begriffe
nach Richard von Mediavilla. Ein Beitrag z. Erkenntnislehre d.
Doctor Solidus. Münster i. W.: Aschendorff 1934. (XV, 174 S.) gr. 8°.
= Beitr. z. Gesch. d. Philos. u. Theologie d. Mittelalters. Texte u.
Untersuchgn. Begr. v. C. Baeumker. In Verbindg. m. a. hrsg. v. M.
Grabmann. Bd. XXXI, H. 1. RM 8.40.

Richard von Mediavilla (Middleton), der von ca.
1249 bis ca. 1308 gelebt hat, gehört zu der sog. mittleren
Franziskanerschule. Die Hochschätzung, die seine
Zeitgenossen und die unmittelbar auf ihn folgende Generation
ihm zuteil werden ließen, verdankt er wohl mehr
seiner Theologie als seiner Philosophie. Der Verf. der
vorliegenden Untersuchung hat sich aber in erster Linie
mit dieser befaßt. Er muß freilich am Schlüsse seiner
eingehenden Untersuchung bemerken, daß Richard „in
der Philosophie kein großer systematischer Denker"
gewesen sei (S. 171). Ich sehe die eigentliche Bedeutung
dieses Buches geradezu darin, daß es zeigt, wie
Richard vielfach zwischen augustinischen und aristotelischen
Gedankengängen hin- und herschwankt oder darauf
verzichtet, eine eigene Meinung zu vertreten.

Der Verf. hat sein Thema etwas äußerlich in drei
Teile geteilt: 1. Die subjektiven Faktoren: Intellectus
agens und intellectus possibilis (S. 11—47); 2. Der objektive
Faktor (S. 48—131), und 3. Das Zusammenwirken
der subjektiven und objektiven Faktoren beim
Werden unserer Begriffe (S. 132—172). Die Arbeit
hat mit großem Fleilie alle erreichbaren Quellen ausgeschöpft
und trägt dazu bei, die geistigen Umrisse dieser
merkwürdigen Gestalt etwas deutlicher werden zu lassen
. Der Verf. wendet den philosophiegeschichtlichen
Zusammenhängen und Parallelen sein besonderes Augenmerk
zu; dagegen sind leider die Ansätze einer Verknüpfung
von Ontologie und Erkenntnislehre spärlich,
obschon doch gerade bei einem Manne, der wie der
Verf. selbst sagt, „sich mehr auf metaphysische Prinzipien
als auf innere Erfahrung stützt" (S. 172), solch ein
Verfahren nahe gelegen hätte.

Richard wendet das forma-materia-Schema auf den
Menschen an, intellectus agens und intellectus possibilis
sind ihm daher zwei Seelenvermögen. Es scheint aber,
! als wenn sich Richard selbst nicht ganz im klaren dar-
j über gewesen wäre, was er mit intellectus agens meint.
' Zuweilen bezeichnet dieser Begriff offenbar die Spontaneität
der menschlichen Vernunft im Unterschiede zu
ihrer Rezeptivität (und das nötigt Rieh, dann auch entsprechend
von einem sensus agens zu sprechen); in anderen
Fällen ist der intellectus agens ein Lumen, mit
dessen Hilfe aus dem phantasma die species intellegiblis
herausgeholt wird. Mir scheint, daß der Verf. dieser
I Unklarheit nicht genügend nachgegangen ist. Ein Punkt,
an dem Richard — wenn auch nicht als Erster und
( nicht er allein — wirklich Neues vorbereitet hat, ist
sein Wertlegen auf die Erkenntnis des Individuellen.
'■ Das hat der Verf. gut herausgearbeitet. Gerade hier
| aber wird der Zusammenhang mit seiner Metaphysik
' deutlich. Reinh. Seeberg (den der Verf. seltsamerweise
nicht erwähnt) spricht von der Leugnung des Unterschiedes
zwischen esse und essentia durch Richard (Die
Theologie des Joh. Duns Scotus, S. 30). Daß die Dinge
nicht auf eine so einfache Formel gebracht werden
können, machen die von Rucker zitierten Texte deutlich,
i Richard unterscheidet zwischen einer Erkenntnis der
geschaffenen Wahrheit (die sich auch auf das Individuelle
erstrecken kann, so daß man im Individuum nicht
das esse von der essentia scheiden darf) und einer
Erkenntnis sub ratione veri. (Es ist das z. B. der Unterschied
zwischen der Erkenntnis, daß ein Individuum
I zum menschlichen Geschlechte gehört, und daß es ein
j wahrer Mensch ist). Die Möglichkeit dieser zweiten
(ontologischen) Wahrheit kommt dein Dinge nicht
j an sich zu, sondern sofern es in einer göttlichen Idee
j als seinem Urbilde gegründet ist. Dieser Tatbestand ist es.
I auf Grund dessen das phantasma (sinnliche Vorstel-
I lung) vom intellectus agens benutzt werden kann als
i werkzeugliche Ursache zur Erkenntnis der species in-
i tellegibilis im intellectus possibilis. Der auch von Ruk-
i ker nicht genügend herausgearbeitete Zusammenhang
| ist dieser: das phantasma als Ergebnis einer Sinneswahrnehmung
kann natürlich nicht als solches auf den
intellectus possibilis einwirken. Aber der intellectus
agens läßt an der Vorstellung das hervortreten, was sie
| von ihrem Gegenstande in sich hatte, ohne daß es
| von den Sinnen in seiner spezifischen Seinsweise erfaßt
worden wäre: es ist ein Abbild einer ewigen Idee-
Was Richard die geschaffene Wahrheit nennt, ist also
! der Hinweis, den der Gegenstand, und entsprechend
j die davon gebildete Vorstellung, auf sein Vorbild ent-
j hält. Die Erkenntnis sub ratione veri würde dagegen
eine sein, die von der bereits erkannten Idee ausginge
und daran den Gegenstand bewertete. Was also Richard
über das Verhältnis von esse und essentia lehrt, läuft
! darauf hinaus, daß nach seiner Meinung auch der UV
i dividuelle Gegenstand als solcher eine essentia hat;
l aber diese transzendiert sich selbst, indem sie auf die
| ihr zugrunde liegende Idee hinweist. So geht die Er-
j kenntnis der species von dem phantasma aus, wird
j aber nicht von ihm hervorgebracht. Trifft diese Deu-
! tung Richards zu, so wird man nicht mehr wie der
i Verf. sagen können, Richard weiche in der Lehre der Erkenntnis
durch die Ideen inhaltlich nicht von Thomas
j Aquimas ab. (S. 101).

Bangor, N. Wales. Otto A. Piper.

I Lehmann, Ludwig: Kirchengeschichte der Mark Brandenburg
von 1818 bis 1932. Berlin: Kranz-Verlag [1936]. (271 S.)
I gr. 8°. Geb. RM 2.85.