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Ausgabe:

1937 Nr. 1

Spalte:

256-260

Autor/Hrsg.:

Jaspers, Karl

Titel/Untertitel:

Nietzsche 1937

Rezensent:

Zeltner, Hermann

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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Theologische Literaturzeitung 1937 Nr. 14.

'256

Tore des Historismus; aber ohne Verständnis für die individuellen
Bedingungen der französischen Revolution
gab er den Franzosen den naiven Rat, die englische Verfassung
nachzuahmen. Mit seiner konservativen Weltfrömmigkeit
läßt Meinecke denn auch seinen ersten
Band ausklingen.

Erst in Deutschland erfolgt der Durchbruch des
Historismus. Meinecke behandelt ausführlich Mosers Anteil
an seiner Entstehung, indem er zeigt, wie hier die
generalisierende Betrachtung geschichtlich-menschlicher
Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung ersetzt
wird. Zwar entrinnt er der traditionalistischen Ergebung
in das geschichtlich Gewordene noch nicht ganz, aber
die kräftige Bejahung des eigenen geschichtlichen Bodens
mit ihrer Andacht zum Kleinen, die den historischen
Erscheinungen ihren tiefsten und eigensten Sinn
ablauscht, läßt doch den Durchbruch vom Traditionalismus
zum echten Historismus gelingen. Viel problematischer
ist Herders Stellung, da sein Humanitätsbegriff
und der Gedanke einer doch recht gradlinigen Entwicklung
noch stark nach der Aufklärung zurückweisen.
Sein Jugendwerk von 1774 zeigt viel stärker den Sinn
für Individualität und Entwicklung, der zusammen erst
den Historismus schafft, während die Trennung dieser
Prinzipien entweder zu einer statischen Weltansicht oder
zum mechanischen Fortschritt der Aufklärung führte.

Fast ein Viertel des Werkes ist Goethe gewidmet,
der sich zwar oft als Verächter der Geschichte bekannt
hat. Meinecke wirft hier mit Recht die Frage auf, ob
nicht seine eigenartige Stellung zum Christentum zu sei^
ner Unlust beigetragen hat, der Weltgeschichte einen tiefen
Sinn zuzugestehen. Sein religiöses Bedürfnis war
auf Ganzheit gerichtet, die er in der Weltgeschichte nur
verstümmelt sah. Denn die Gottnatur setzt sich in der
Welt nicht vollkommen durch, es bleibt die ewige Kluft
zwischen Idee und Erfahrung; der dunkle dualistische
Urgrund seines mit sonnenhaftem Auge geschauten Weltbildes
taucht auf. Andrerseits setzt seine Lebens- und
Weltfrömmigkeit die Reiche der geschichtlichen Welt,
die sein Geist anziehen konnte, in jene unmittelbare Beziehung
zu Gott, die Ranke später für die Epochen der
politischen Geschichte erkannte, damit das aufklärerische
Suchen nach Zwecken und Zielen der Geschichte überwindend
. So kam er durch sein neues Welt- und Lebensgefühl
zu der vielleicht denkwürdigsten Polarität
seines Lebenswerkes, das auch ein neues Geschichts-
gefühl umschloß und ihn zum tiefsten Deuter und Wegbahner
des Historismus werden läßt. „Aus dem Mittelpunkt
seines individuellsten, mit der Gottnatur genetisch
verbundenen Lebens heraus verschmolzen sich auch ihm
überzeitlich Vergangenheit und Gegenwart in Eins. Dadurch
gewann er nun die erhabenste Position über der
Geschichte, die vielleicht möglich ist, innerlich überlegen
auch der hochgewählten Hegeischen Position, weil sie
das geschichtliche Leben nicht zu gängeln versuchte
durch einen erratbaren Heilsplan. Goethe steht als geschichtlicher
Denker nicht nur zwischen Aufklärung und
späterem Historismus, sondern in gewissem Grade über
beiden zugleich. Denn dem späteren Historismus ist
es nur in seinen höchsten Vertretern gelungen, das geschichtliche
Leben in jedem Augenblick sowohl zeitlichindividuell
, als auch überzeitlich sub specie aeterni anzuschauen
" (631). So gedieh in Goethe die Synthese
von vier Elementen zur höchsten Vollendung: des präromantischen
Bedürfnisses, das sich auf die Ur- und
Frühzeit der Menschheit richtend Gegenbilder der ausge-
kälteten Zivilisation schuf, der pietistischen Bewegung,
die den Acker des Seelenlebens tiefer durchpflügte und
die Subjektivitäten weckte, gleichzeitig aber auch auf
metaphysisch-ireligiöse Bindungen verwies — des von
Winckelmamn vorgelebten neuen seelischen Verhältnisses
zur antiken Kunst und der platonison-neuplatonischen
Ideenwelt, die schon eine Richtung auf die Individualität
und Verwurzelung in einem gottverwandten Lebensgrunde
enthielt.

Daß der Zusammenhang zwischen Goethes und Rankes
„realgeistiger" Sehweise sehr viel enger ist als bisher
angenommen wurde, macht endlich die Gedächtnisrede
Meineckes für Ranke deutlich, die dem Werke beigegeben
ist, während er die weitere Geschichte des Historismus
, die mit der Geschichte der Romantik verknüpft
ist, jüngeren Händen überläßt. Wies Ranke
auch den Pantheismus Hegels schroff von sich, weil
in ihm die Lutherische Trennung des Schaffenden vom
Geschaffenen nachwirkte, so hielt er doch fest an der
Grundvorstellung christlicher Geschichtsphilosophie, der
Providenz und Leitung des menschlichen Geschichtsdramas
durch Gott. Angesichts seines wohl zu sonnigen
Glaubens an den göttlichen Anhauch der erdhaften Kreatur
wirft Meinecke die Frage auf, ob er das gewaltige
Problem der Theodizee auch ganz zu durchdenken und
die rätselhafte Macht des Zufalls in der Geschichte in
voller Stärke zu empfinden vermochte. Es ist bedauerlich
, daß sich Meinecke in diesem Zusammenhang nicht
wenigstens in einer Anmerkung mit W. Koehlers These
auseinandersetzt: Diese Historie ist im letzten Grunde
Theodizee. (Vergl. M. Rast, Zur Theodizee der Geschichte
, Stimmen der Zeit Bd. 131, 1936, Heftl). Er
bestimmt Rankes Standpunkt als positiven Pantheismus,
der sowohl sein universales Mitgefühl wie sein kritisches
Wahrheitsbedürfnis zu ihrem Recht kommen ließ.
„Vor Gott, sagt Ranke, erscheinen alle Generationen
der Menschheit als gleichberechtigt, und so muß auch
der Historiker die Sache ansehen." Diese Aufdeckung
einer unlösbaren Verflechtung von Individuellen und
Allgemeinen, die von Leibniz eingeleitet in Rankes Vermählung
von Idee und Realität gipfelt, ist eine Absage
an die, welche mit der christlichen Vergangenheit unseres
Volkes brechen wollen, vielmehr verlangt, wie
Meineckes Bekenntnis am Schluß des zweiten Bandes
betont, diese goldene Kette noch heute fortgesetzt zu
werden nach dem Worte von Leibniz: Stinavoia jtuvt«-

So schließt sich Meineckes umfassende Überschau
zur einheitlichen Erkenntnis einer abendländischen, im
deutschen Geist gipfelnden Entwicklung zusammen, die
Unverlierbares geschaffen hat. Diese Erkenntnis mit solcher
Feinsinnigkeit und Klarheit darzustellen, konnte nur
der durch ein ganzes Leben geläuterten Erfahrung und
reifen Kunst eines Altmeisters der Historie gelingen.
Hatte erst der Vierziger in seinem Werke „Weitbürgertum
und Nationalstaat" seine besondere Eigenart gefunden
, die dann in der „Idee der Staatsräson" die Fruchtbarkeit
des Weges von der Persönlichkeit zum Gedanken
, vom Besonderen ins Allgemeine erneut unter Beweis
stellte, so vollendet die „Entstehung des Historismus
" dieses Lebenswerk, dessen Reichtum auch nur
skizzierend zu umreißen nicht möglich ist. Es gilt von
diesem Schlußstein der Meineckeschen Trilogie, was K-
A. von Müller zum 60. Geburtstag des Verfassers
schrieb: „Eine geistige Geschichte Deutschlands seit 1900
wird nicht an ihm vorübergehen können, und sie wird
in ihm, sowohl in dem, was er bewußt gewollt und
geschaffen hat, als in dem, was er im ganzen Wesen
und seiner Entwicklung unbewußt darstellt, manche (und
zwar die besten!) Züge dieser Jahrzehnte in ernster
Ehrlichkeit tief und bedeutend ausgeprägt finden."
Quakenbrück. H. Vorwahl.

Jaspers, Prof. Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis
seines Philosophierens. Berlin: W. de Qruyter & Co. 1936. (VIII,
437 S.) gr. 8°. RM 7- ; geb. 8—•

Jaspers hat als erster auf die Geistesverwandtschaft
von Nietzsche und Kierkegaard aufmerksam gemacht
und hat damit die Perspektive, in der wir heute diese
beiden Denker und damit das 19. Jahrhundert überhaupt
sehen, entscheidend mitbestimmt. Nietzsches Name erscheint
auch in der stolzen Annenreihe, auf die Jaspers
die Tradition seiner eigenen Philosophie zurückführt.
So ist Jaspers auf zweifache Weise dazu berufen, uns
eine Einführung in das Verständnis seines Philosophie-
rens zu geben.