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Ausgabe:

1936 Nr. 6

Spalte:

107-108

Titel/Untertitel:

Hermann von der Goltz 1936

Rezensent:

Lerche, Otto

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107

Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 6.

108

G en nr i ch , Prof. D. Paul, u. Prof. D. Ed. Fr h. v. d. Goltz:

Hermann von der Goltz. Ein Lebensbild als Beitrag zur Geschichte
der dtsch. evangel. Kirche im 19. Jahrh. Hrsg. zum lOOjähr-
igen Gedenktage seiner Geburt am 17. März 1935. Göttingen : Van-
denhoeck 8t Ruprecht 1935. (236 S.) gr. 8°. geb. RM 9—.

„Und hat nicht die Tatsache, daß diese Kirche den
Umsturz, der mit dem Wegfall des landeskirchlichen
Summepiskopats eintrat, ungefährdet überstand, seine
Richtigkeit erwiesen?" Mit dieser Frage sucht der Verfasser
dieses Buches — das ist P. Gennrich, während
v. d. Goltz nur die rein personalgeschichtlichen, außerordentlich
belanglosen Abschnitte S. 7—51 und 194—211
geschrieben hat — das System v. d. Goltz gegenüber
den Fragen und Kritiken namentlich R. Seebergs zu
rechtfertigen. Und alle die, die in der Konservierung
des lebenden Leichnams der preußischen Unionskirche
bis in unsere Tage ein Glück, ja ein Ziel aufs innigste
zu wünschen sehen, werden die Frage bejahen und
damit das System v. d. Goltz rechtfertigen. Bei allem
Respekt vor der persönlichen Integrität des Biographier-
ten und seiner unzweifelhaft nicht geringen Geschicklichkeit
, das Schiff der Kirche durch die Wogen der
Zeit zu steuern, wie er es für richtig hielt, wird man
aber diese Frage vom Standpunkte der Kirchengeschichte
wie auch von dem der kommenden Kirche grundsätzlich
und in aller Schärfe verneinen müssen.

v. d. Goltz hielt sich in seinen christlichen Grundwahrheiten
an vier Fundamentalbegriffe: 1. die persönliche
Gemeinschaft des Menschen mit Gott. 2. das
in der ewigen Liebe Gottes begründete Heil aus sündlichem
Verderben. 3. die geschichtliche Heilvermittlung
durch den Gottmenschen Jesum Christum. 4. die Vermittlung
der allmählichen Heilszueignung durch den
heiligen Geist in der Kirche. Gegen diese Fundamentalbegriffe
ist gewiß sachlich kaum etwas einzuwenden:
enthalten sie doch weiter nichts als eine leicht verharmlosende
Diagonale durch das Apostolikum. Bedenklich
ist die Abgrenzung der Häresie: häretisch ist
nach v. d. Goltz jede Lehre, die 1. die persönliche
wechselseitige Gemeinschaft des Menschen mit Gott
leugnet, so daß es kein persönliches Verhältnis zu
Gott und kein wirkliches Gebet mehr gibt (deistische
und pantheistische Verirrung), 2. von einer aus sündlichem
Verderben erlösenden göttlichen Gnade nichts
weiß (d. h. entweder die Erlösungsbedürftigkeit oder
die Erlösungsfähigkeit des Menschen verkennt), 3. die
Erlösung des Menschen nicht ausschließlich auf die
geschichtliche Heilsstiftung des einen gottmenschlichen
Mittlers gründet (indem sie entweder die wahre Menschheit
Christi leugnet oder ihn für ein bloßes Produkt
der Menschheit erklärt), 4. die fortdauernde Zueignung
des Heiles Christi durch die Wirksamkeit des heiligen
Geistes in der Kirche leugnet . . . Dazu wird man
sagen dürfen, daß diese Bestimmung dessen, was Häresie
ist, reichlich am grünen Tisch, vornehmlich aber
aus disziplinarer Kasuistik ausgeklügelt erscheint. Wir
haben alle reichlich und täglich Häresien über Häresien
in der Kirche, in Konsistorien, auf Kanzeln und
Kathedern erlebt, ohne daß in jedem einzelnen Falle
die v. d. Goltzsche Systematisierung ausgereicht haben
würde. Es erscheint fraglich, ob sich überhaupt die
Irrlehre zur Systematisierung eignet.

Das Buch ist außerordentlich interessant und lehrreich
und wird dem kirchlichen Praktiker wie dem
Politiker, namentlich aber dem Historiker Anlaß zu
Widersprüchen und Entgegnungen geben. Unzweifelhaft
hat sich v. d. Goltz verdient gemacht um den
Ausbau der landeskirchlichen Organisation; er hat sich
gegen die Mitwirkung der Generalsynode bei Besetzung
theologischer Professuren eingesetzt; er hat seine christlichen
Grundwahrheiten bei Berufung theologischer Professoren
, bei Lehrstreitigkeiten, beim Ausbau der Gemeinde
und in seiner Haltung zu den sozialen Fragen
geltend gemacht. Er hat Agende und Gesangbuch, die
Ausbildung der Pfarrer und den akademisch-theologischen
Nachwuchs umsorgt. Schließlich hat er am
Zusammenschluß der Deutschen Evangelischen Kirche
und an der Betreuung der Diaspora mitgearbeitet.

Die lebendigen Kräfte des kirchlichen Werdens unserer
Zeit, ob sie nun landeskirchlich oder bruderrätlich
denken, werden trotzalledem v. d. Goltz ablehnen, seine
| Ziele wie auch seine Methoden. Gegen den Geist seiner
„Ansprache an die Geistlichen und Gemeindekörper-
i schaffen betr. die Ausführung der Kirchenverfassung"
(1876, in diesem Buche S. 74), das Programm v. d.
I Goltz' als Mitglied der Kirchenleitung, gegen diesen
kulturprotestantischen, kirchezerstörenden Geist wird
sich heute alles wenden, das von der Sehnsucht nach
i der Kirche erfüllt ist. Das Gerede vom pädagogischen
j Beruf der Kirche vergleiche man etwa mit Hans As-
j mussens Ausführungen in Hannover über Christi
i Botschaft als Erziehungsauftrag, die erst im vollen
Abdruck überall verständlich sein werden (Wahrheit und
| Wirklichkeit der Kirche. 1935 S. 191 ff.). Tatsächlich
j ist doch das Kompromiß von „Glauben und Unglau-
j ben, Bekennen und Verleugnen, Auferstanden und nicht
j auferstanden, Ja und Nein" die Signatur jener „Kirche",
I für die v. d. Goltz seine g*roße Geschicklichkeit und
j seine menschliche Integrität einsetzte. Diese Kirche sah
folgerichtig die stärksten Verwüstungen in ihren Gren-
' zen und wurde bis in den Grund und Boden zerstört,
weil sie jeglicher innerer Haltung entbehrte. Die Auseinandersetzung
mit Walter Franks Stoeckerbuch,
gegen das wir eine Fülle von Bedenken anzumelden
hätten, ist schwach und unzulänglich: nicht mal der
Name des Verfassers wird richtig wiedergegeben.

Geradezu trostlos ist die Charakterisierung, die hier
der kirchlichen Haltung des ersten deutschen Kaisers
zuteil wird. Gewiß ist sie bei Foerster: Falk (1927)
weithin ebenso: aber wir sehen heute diese Dinge
anders. Der alte Kaiser Wilhelm I. hatte durchaus beachtenswerte
, selbständige Ansichten über die Grundlage
und die Leitung seiner Kirche, und zum mindesten
hat seine ehrliche Überzeugung ebenso Anspruch
auf Berücksichtigung wie die freilich oft entgegengesetzte
Ansicht v. d. Goltz'. Hier wird der Kaiser geschildert
als ein eigensinniger Feldwebel, der mit seinem
Kommißstiefel Tölpeleien über Tölpeleien auf dem
kirchlichen Parkett anrichtet. Warum hat der Verfasser
versäumt, wenigstens die einschlägigen Kapitel in der
Biographie Robert v. Puttkamers (von Albert v.
Puttkamer, 1928) nachzulesen? Die Frage der Fakultäten
ist ganz unzulänglich dargestellt; S. 105 zum
Jahre 1895 hätten wenigstens die „kirchliche Versammlung
" und deren Folgen berücksichtigt werden müssen.

Hoffentlich wird das Buch recht genau und vielseitig
studiert: nirgends ist bisher die Krankheitsgeschichte
der unierten Kirche Preußens (1870—1900)
so sachkundig und so einseitig — pro domo — geschildert
.

Berlin. Otto Lerche.

Der deutsche Mensch. 5 Vorträge von Hans Naumann, Willy
Andreas, Adolf Feulner, Gern. Fricke, Erich Rothacker.
Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt [1935]. (180 S.) 8°.

Geb. RM3.75.

Die in diesem Buch vereinigten Vorträge wurden im
Winter 1934/35 im Harnack-Haus der Kaiser-Wilhelm-
Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften gehalten.
: Es galt, das Wesen des deutschen Menschen, wie es
| sich wahrer wissenschaftlicher Forschung offenbart, in
! den verschiedenen Abschnitten seiner Geschichte klar
I herauszustellen. Naumann geht von der altgermanischen
! Spruchpoesie aus und stellt fest, daß ein Zug der Sorge
! von der Edda bis zu Goethes Faust geht: Der große
Weltbaum fault bereits an der einen Seite, böse Tiere
benagen ihm Wurzeln und Äste. Odin verlor ein Auge,
Tyr seine rechte Hand, Freyr sein Zauberschwert; das
j sind mythische Ausdrucksformen für die Bedroht-
| h e i t dieser Welt. „Die Grundart des Seienden, dem