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Ausgabe:

1936 Nr. 26

Spalte:

473-475

Autor/Hrsg.:

Schmid, Lothar

Titel/Untertitel:

Paul de Lagardes Kritik an Kirche, Theologie und Christentum 1936

Rezensent:

Knevels, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 26.

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die ihrerseits durch das besondere Verhältnis, in dem
sie zu H.'s dichterischem Schaffen steht, bestimmt ist.
Anders gesagt: die dichterische Sprache erweist sich
als das elementare Lebensverhältnis, als die wesentliche
Umgangsmöglichkeit H.'s mit dem Dasein. In einem
ganz ursprünglichen Sinn will darum H. seine Dichtungen
als Gebete verstanden wissen.

Damit hat B. zugleich das Problem der dichterischen
Existenz im allgemeinen, das man heute ganz von Kierkegaard
her zu sehen geneigt ist, auf eine neue Ebene
gestellt. Vor allem wegen dieser weitergreifenden Bedeutung
des Buches, die sich gewissermaßen von selbst
ergibt, bedauern wir es, daß sich B. fast durchgängig
auf eine immanente Interpretation H.'s beschränkt hat.
Es wäre aber auch für die Hölderlindeutung selbst ein
Gewinn gewesen, wenn sich B. über die Kategorien seines
Verständnisses eingehender Rechenschaft abgelegt
hätte. Gewiß: der H.'sche Mythos hat eine unverwechselbare
Eigenart, und man kann einem solchen Phänomen
nicht mit einem fertigen Denkschema beikommen.
Aber jedes Verständnis bewegt sich in einem Horizont,
und eine wirklich durchgeführte Exegese verlangt bis zu
«inem gewissen Grade immer auch eine Aufhellung
dieses Horizontes. So hätte B. versuchen müssen, das
Wesen des Mythos allgemein zu bestimmen, um seine
Interpretation wirklich durchsichtig werden zu lassen.

Auf diese Weise wäre dann auch das Extreme an
der Position H.'s deutlicher herausgekommen. Daß H.
es unternimmt, die zerstörte Welt aus sich selbst wieder
aufzubauen, und daß er dabei ganz von der Sphäre
seines eigensten Daseins ausgeht, das entspricht abstrakt
genommen allzusehr einem Denkschema des modernen
emanzipierten Bewußtseins, als daß wir die Ungeheuerlichkeit
wahrnehmen könnten, die darin liegt. Das
gelingt nur, wenn wir die geschichtliche Realität des
Mythischen dabei ins Auge fassen. Und weiter: mit
der Dichtung aus der Zeit der beginnenden Umnachtung
setzt sich B. nicht mehr auseinander. Sie gehört aber
nun einmal mit zu der Gesamterscheinung, und gerade
wenn man mit solcher Energie die Frage nach H.'s
Dichterexistenz aufwirft, darf man daran und an der
Tatsache seines endlichen Scheiterns nicht vorübergehen.
Schon die gleitende Verknüpfung, das Denken in Beziehungen
haben etwas Pathologisches an sich. Der
Blick tür die Künstlichkeit des H.'sehen Mythos und
für die bereits früh auftretenden Anzeichen der Krankheit
braucht ja die Verehrung für H. und seine Dichtung
, von der B.'s Buch in so schöner Weise durchdrungen
ist, keineswegs zu beeinträchtigen; eröffnet sich
uns doch gerade damit, daß uns das Fremdartige einer
Erscheinung bewußt wird, die Möglichkeit, zu einer vertieften
Verehrung hindurchzudringen.

Göttingen. _Hermann Zeltn er.

Schmid, Repetent Dr. Lothar: Paul de Lagardes Kritik an
Kirche, Theologie und Christentum. Stuttgart: W. Kohlhammer
1935. (XII, 173 S.) gr. 8°. = Tübinger Studien zur System. Theologie
, hrsg. von K. Heim u. G. Wehrung. H. 4. RM 7.50.
Lagarde ist einer der geistigen Väter des Dritten
Reichs. Seine politischen Gedanken haben — direkt
und indirekt — auf die Gestaltung des Neuen eingewirkt,
und in dem Ringen um eine art- und volksgemäße
Weltanschauung wird er weithin als wegweisend angesehen
. Für d'ie geistige Lage der Gegenwart ist es
wichtig genug, Lagarde richtig zu sehen. Dazu hilft
dieses Buch in einer Weise, wie man sie nicht besser
wünschen kann. Da Lagarde das Gegenteil von einem
Systematiker war, ist es sehr nützlich, seine Gedanken
in systematischer Weise zusammengestellt zu finden
(mag das auch dem Verehrer der prophetisch-dichterischen
Art Lagardes zunächst etwas peinlich sein). Die
Wertung und Verwendung der Quellen, die Anordnung
und die Einteilung sind glücklich. Zitiert ist mit Recht
sehr viel. Den eigenen Standpunkt hält Schmid zurück.
Die Hauptsache ist ihm die Darstellung. Nur an wenigen
Stellen gibt er eine Bewertung und Beurteilung. |

Auf diese gehen wir nicht ein, da sie nicht näher aus-

§eführt und begründet ist. Für Schmid ist ein unüber-
rückbarer Graben zwischen dem Idealismus Lagardes
und dem Christentum; einmal gibt er als Grund für
die radikale Ablehnung der idealistischen Haltung an (S.
102): „weil wir Gott Gott und Mensch Mensch sein
lassen wollen; weil wir, gewarnt durch das Zeugnis der
Schrift und die Lehre der Geschichte, eine unsaubere
Vermengung von göttlicher und menschlicher Welt verhindern
wollen . . ."

Schmid geht von der konkreten Situation (so heißt
nun einmal das Lieblingswort!) aus und stellt zunächst
Lagardes Kritik an seiner Zeit dar. W i e scharf sie
war, auch nach 1871, wird manchem neu sein. Das
„Beieinander von konservativ und liberal" (besser: „revolutionär
") wird deutlich. Lagarde kämpft gegen die
Wirklichkeit Deutschlands für das wirkliche Deutschland.
Deutschland fehlt die Einheit, weil ihm das einheitliche
Ideal fehlt. Deutschland braucht eine Religion, einen
Glauben. Der Staat ist Mittel zum Zweck. „So wenig
wie möglich Staat."

Das zweite Kapitel ist der Stellung Lagardes zur
Kirche gewidmet. Was die Kirche ist und was sie
sein soll. Schmid zeigt, wie L. die verbürgerlichte Kirche,
die heruntergekommene Geistlichkeit, die Unbildung der
Frommen, die Verfehltheit der Union (jede der beiden
Kirchen habe ihre unliebenswürdigste Seite herausgekehrt
, und neben ihnen sei ein Drittes entstanden, das die
gemeinsten Züge jener und das Gute von keiner zeige!)
geißelte, wie sich aber seine Kritik auch gegen die Substanz
, gegen die ernsthafte christliche Verkündigung
richtet.

Das dritte Kapitel lautet: Die Theologie, was sie ist
und was sie sein soll. So gering L. von den Theologen und
ihrer Leistung dachte, so leidenschaftlich fühlte er sich
doch selbst als Theologe. Er verlangte, daß die wissenschaftliche
Theologie (im Sinn der Religionswissenschaft
) von der konfessionellen Theologie gelöst werde
und sich zunächst der Aufgabe zuwende, die Quellen in
guten Textausgaben zugänglich zu machen. Davon erhoffte
er sich auch einen positiven religiösen Vorteil.
Es hat etwas Ergreifendes, wie dieser Mann einen
großen Teil seiner Kraft daran setzte, den richtigen
Septuaginta-Text herzustellen.

Im letzten und wichtigsten Kapitel ist die Kritik
Lagardes am Christentum dargestellt. Daß Lagarde
Evangelium und Christentum scharf trennt, ist bekannt.
Das Kernstück des Evangeliums ist für Lagarde Reich
Gottes und Wiedergeburt, aber allein auf die Idee
komme es an, deren Träger Jesus ist, nicht aber auf das
geschichtliche Geschehen. „Einmal Geschehenes statt
des immer von neuem Geschehenden, Vergangenes statt
des Gegenwärtigen als Objekt religiöser Gefühle anzusehen
", erscheint ihm geradezu verderblich; es ist das
„jüdische Prinzip", das durch Paulus in die christliche
Kirche kam. Die Angriffe gegen die „Einpunktigkeit"
des christlichen Offenbarungsbegriffs (um mit Hauer
zu reden) haben seither nicht mehr aufgehört. Dabei
kämpft man vielfach gegen eine Auffassung, die gar
nicht die wahrhaft christliche ist. Es ist hohe Zeit,
daß die neue Theologie das Verhältnis von allgemeiner
und spezieller Offenbarung (um die alten Begriffe zu
gebrauchen) klar bestimme. Schmid faßt, etwas zugespitzt
, die Ansicht Lagardes folgendermaßen zusammen
(S. 101): „Die Bibel, als Offenbarungszeugnis xax e|oxV|v
unersetzlich, ist nun nicht mehr das Buch der Bücher,
sondern ein Buch neben anderen, durchaus ersetzlich
und entbehrlich. Kirche und Theologie brauchen wir,
nicht Bibel: Kirche nicht als Kirche des Worts, sondern
als Sakrament, nicht als Verkündigerin des Handelns
Gottes in Christus, sondern als Hinweis auf die Ewigkeit
, nicht als Gemeinde gerechtfertigter Sünder, sondern
als „Gemeinschaft sündigender, aber ihrem Streben
und ihrem Ziele nach sündloser Menschen"; Theologie
nicht als Wissenschaft von dem Wort, das Gott