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Ausgabe:

1936 Nr. 25

Spalte:

457-458

Autor/Hrsg.:

Schneider, Jörg

Titel/Untertitel:

Die evangelischen Pfarrer der Markgrafschaft Baden-Durlach in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts 1936

Rezensent:

Duhm, Andreas

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467

Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 25.

458

lieferungen, daß Fritzlar von allem Anfang an im Gegensatz
etwa zu Fulda und Hersfeld kein Sitz asketisch-
einsamen Mönchwesens und gelehrter Studien gewesen
ist, sondern daß die Stadt und ihre kirchlichen Gründungen
der lebendige Mittelpunkt praktisch-kirchlicher
Missionsarbeit gewesen sind.

In einem Anhange befaßtsich der Verfasser mit dem Amt des
Scholasters und mit den Zuständen der Stiftsschule, zumal im
16. Jahrhundert. Bürgerschaft und Stadt Fritzlar konnten sich,
nachdem obendrein die Reformation bei ihnen Eingang
gefunden hatte, mit dem Bestehen einer gelehrten Stiftsschule
allein in ihren Mauern, ob die Schule nun gut
oder schlecht war, die aber immer erhebliche Opfer
erforderte, nicht begnügen. Die Einrichtung einer deutschen
Elementar-(„Schützen"-)Schule und die Anstellung
eines deutschen Schulmeisters in der Stadt war
daher auch ohne Rücksicht auf den etwaigen Verfall
oder auf das von der Gegenseite behauptete Blühen
der lateinischen Stiftsschule durchaus notwendig. Daß
diese Einrichtung vom Stifte wie vom Erzbischof von
Mainz bekämpft wurde, war auf jeden Fall bedauerlich.
— In der Stiftsschule, deren Oberleitung dem Scholaster,
der den Rektor anstellen und beaufsichtigen, ja auch
in seinem Hause halten und beköstigen sollte, statutengemäß
zustand, waren die Möglichkeiten und Leistungen
verschieden je nachdem, ob sich der Scholaster seinen
Pflichten, die ihm vor allem Residenzhaltung vorschrieben
, widmete oder ob er sich ihnen entzog. Leider gehörte
auch die Fritzlarer Scholasterie zu den vornehmeren
Pfründen, die immer wieder von orts- und volksfremder
Stelle ohne Rücksicht auf die kirchlichen Bedürfnisse
verliehen wurde. Dadurch wurde die Qualität
der Schule trotz aller Bemühungen der lokalen
Stiftsverwaltung beeinträchtigt.

Berlin._, Otto Lerche.

Schneider, Jörg: Die evangelischen Pfarrer der Markgrafschaft
Baden-Durlach in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
. Lahr (Baden): Moritz Schauenburg 1936. (293 S.) gr. 8°.
= Veröffentl. des Vereins für Kirchengeschichte in der evang. Landeskirche
Badens, X. RM 7.70.
Wenn eine aus einer außerordentlich fleißigen Dissertation
herausgewachsene, zu den unwahrscheinlichsten
Quellen vordringende und mit ausgezeichneter Begabung
des Verf. für synthetische Verwertung zerstreuter Funde
ausgeführte Arbeit über einen ganz eng begrenzten Gegenstand
— aus der Kirchengeschichte eines kleinen
Landes im alten Deutschen Reiche der Zeitabschnitt
eines halben Jahrhunderts und der Sachausschnitt einer
Geschichte bloß der Pfarrer — sehr viel Wissenswertes
zusammenträgt über das damalige Verhältnis zwischen
Kirche und Staat, über die Ausbildung und Fortbildung
der Pfarrer, besonders der führenden Persönlichkeiten,
über ihre Tätigkeit auf allen Gebieten ihres Amtes,
sowie über Stand und Entwicklung der damaligen Theologie
und ihre Erörterung auf den Synoden, und sich
dabei geschickt davor hütet, über der möglichen Menge
des Beibringbaren den Maßstab des Interessierenden
zu verlieren: dann kann nicht wohl obendrein verlangt
werden, daß sie sich über das Interesse des badischen
Leserkreises hinaus auch den Fragen einer weiteren
Leserschaft zuwendet. In einer für ganz Deutschland
bestimmten literarischen Zeitschrift darf aber wohl hingewiesen
werden auf die immerhin vorhandenen Ansätze
zu einer Schau, die den enger gezogenen Kreis des Interesses
durchbricht. Das sind zugleich Ansätze zu einer
zu erhoffenden Ergänzung dieser Untersuchung durch
solche auf anderen Gebieten, die später zu einem abgerundeten
Überblick vereinigt werden könnten. Welche
religionsgeschichtlichen Perspektiven z. B. eröffnet ein
Satz aus einem Synodalbericht eines Pfarrers schon von
1765: „Die Lehren von Gott, Christus und den Sakramenten
sind zwar den Leuten ziemlich bekannt, hingegen
herrscht über die Lehre von der Wiedergeburt, Rechtfertigung
, fides qua creditur, große Unwissenheit." (S.
68). Diese Beobachtung, zeitlich und räumlich ergänzt,
könnte geradezu Bedeutung finden für die Kirchenfragen

der Gegenwart! Ebenso ein 1788 vorgebrachtes Argument
gegen eine Verpflichtung der Pfarrer auf die symbolischen
Bücher: „Wenn je eine eidliche Verpflichtung
von den Geistlichen könnte und dürfte genommen werden
, so wäre es die auf einen besseren Lebenswandel,
indem von unsittlichem Betragen der Geistlichen weit
mehr Verwüstung in der Kirche Gottes zu befürchten
ist als von Irrlehrern, die selten von der Art sind,
daß sie einen schädlichen Einfluß auf die Moralität der
Zuhörer haben sollten" (S. 265}. Wichtig sind ferner
im Blick auf das heutige Verhältnis zwischen Staat
und Kirche die Feststellungen über die Rolle des Erziehers
und Sittenwächters, die jener Staat der Kirche
übertrug, wovon — neben mancher anderen nicht zu
verkennenden Nachwirkung des 18. Jahrhunderts auf
heute — noch eine starke Vorstellung im Volke geblieben
ist, sodaß noch jetzt die Gefängnisverwaltungen
Sittengutachten von Pfarrämtern über Sträflinge einholen
, wogegen der heutige Staat die Befugnisse der
moralischen Erziehung sehr kräftig in die eigene Hand
genommen hat; aber schon damals erhob sich eine vereinzelte
Stimme, „die Herren Amtsbrüder möchten sich
nicht so viel um das Äußere, sonderlich um Polizeisachen
bekümmern" (S. 54). Das Ziehen solcher Verbindungslinien
hätte, wenn das in der Aufgabe gelegen hätte,
die Darstellung noch schmackhafter machen können.
Auch der badische Leser muß sich die Mühe machen,
selbst die verknüpfenden Linien zu heutigen Einrichtungen
zu finden, was ohne Hilfe meist nicht leicht ist.
Gerade daß das Typische jener Zeit, auch in seinem
Wechsel, sehr klar herausgearbeitet ist, erregt den
Wunsch, noch deutlicher zu sehen, wie weit dies und
das im heutigen Kirchenwesen jener Zeit und ihrem
Geiste entstammt, um so zu einem vielleicht neuen
Urteil zu kommen; man möchte das, was seinen dauernden
Wert bewiesen hat, scheiden können von dem, was
gleichfalls absoluten Wert beansprucht, durch diese historische
Erforschung aber bedenklich vorsintflutlichen
Charakter zugewiesen erhält. Immerhin sind einige Hinweise
vorhanden. So der auf die Wurzel der heutigen
kirchlichen Bürokratie (S. 56), auf das erste Auftauchen
des Problems der Laienbetätigung (S. 66, 171), auf
die Entstehung der Christenlehre aus den alten Katechismuspredigten
(S. 141, 149) oder der Altarlektion
in der sonst schlichten Gottesdienstform des Südwestens
aus den anderweitig untergebrachten Perikopentexten
aufgehobener Gottesdienste (S. 118, 120), auf die Erhöhung
der Feierlichkeit des Karfreitags durch Zusammenlegung
mit einem Bußtag (S. 111) oder auf das erste
Vorkommen des in neuerer Zeit wiederholten Vorgangs,
daß vor der Außerkraftsetzung eines nicht mehr genehmen
Katechismus angeregt wird, nicht mehr alle
Fragen auswendiglernen zu lassen (S. 162). Dem Fachmann
der Praktischen Theologie bietet das Buch willkommenen
Klärungs-, Bereicherungs- und namentlich
Veranschaulichungsstoff, besonders für Katechetik und
Pastorallehre (Kap. 7 und 8). Theologiegeschichtlich
wertvoll ist der Nachweis, wie das Bild von den theologischen
Anschauungen der Pfarrer sich nicht ganz
deckt mit dem uns bekannten von der damaligen Universitätstheologie
, wie die Praxis nur langsam der Theorie
folgt und wie die Aufklärungstheologie bei den Pfarrern
lange Zeit harmlos konservative Art hatte (Kap.
10). Verf. hält sich und den Leser frei von tendenziösen
Urteilen über jene Theologie auch nur in den heute
üblichen Ausdrücken und macht es uns so möglich,
ihre Argumentationen, auf die man bis heute bei den
Laien ununterbrochen stößt, in ihrer verschiedenen Kraft
und Schwäche wieder einmal unbefangen auf sich wirken
zu lassen. Als Krönung hätte hier das Wort des in
Baden unsterblichen Hebel stehen können von dem Ketzer
Augustin und dem großen Kirchenvater Pelagius!
So enthält das Buch viel mehr als den nüchternen statistischen
Stoff, den man nach dem Titel vermuten
könnte.

Wehr (Baden). _ Andreas Duhm.