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Ausgabe:

1936 Nr. 23

Spalte:

430-431

Autor/Hrsg.:

Kulturgeschichte in Mythus, Sage

Titel/Untertitel:

Dichtung 1936

Rezensent:

Lerche, Otto

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429 Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 23. 430

_ — :

sierung des Sündenbegriffs, die schlicht und überzeugend Daseins sind, müßte heute mithelfen, den einseitig be-
entwiclelte Mißdeutung von Matth. 16,18 durch Kallist tonten Widerspruch zwischen geistig-leiblichem Leben
und die darauf aufgebaute Begründung des päpstlichen i zu überwinden. An der teilweise leidenschaftlichen- AbPrimats
, die uns jetzt stark bewegen. Es ist vielmehr j lehnung der Wertgleichheit von geistigem und naturhaf-
der andringende Ernst, mit dem der Verfasser lange vor j tem Leben ist m. E. die christliche Erziehungslehre
dem Kirchenkampf unserer Tage — als wir wenigstens in ; gescheitert. Sie ist aber heute doch schon auf dem
der Evangelischen Kirche in deutschen Landen vielfach j Wege, diese Lebenseinheit zu sehen und auch prak-
fast wie in katholischer Werkgerechtigkeit, weithin aber j tisch zu verwerten. So darf m. E. der Begriff „Per-
in bürgerlicher Sekurität dahinlebten und die uns aufer- ! sönlichkeit" unter gar keinen Umständen nur mehr sol-
legte Spannung, „das wundersame Ineinander von ewiger chen Fällen vorbehalten bleiben, wo „selbstlose Hin-
Gottesherrlichkeit und irdischer Gerechtigkeit" (S. 39) : gäbe" den alleinigen „Einheitssinn" des Lebens dar-
nicht sehen, nicht ertragen wollten — vor der Katholi- stellt. Über der Entscheidung zur »Hingabe« muß eine
sierung unseres Kirchenbegriffes warnte. Und in all die- zweite Entscheidlingsmöglichkeit offen bleiben: ob sie
sen Jahren des Kampfes, wo es ernsthaft um die Verkün- sich lebenshemmend oder lebensaufbauend auswirkt. Die
digung und die ihr gemäßen Ordnunigen und Voraus- i Hingabe als geistige Tat darf weder einer leiblichen
Setzungen — und nur um diese ging, hat die kirchen- Entselbstung gleichkommen, wie es die Mystiker des
politische Hybris der Parteien und Gruppen immer wie- zwölften Jahrhunderts und der Gegenwart meinen, noch
der Abgrenzungen vorgenommen, Tischtücher zerschnit- ; einer bloßen Selbstverherrlichung vom Biologischen her,

wie es Nietzsche und seine Nachredner verteidigen.
Der Mittelweg, der geistiges und leibliches Sein
als schöpferische Mitte und Einheit sieht, ist hier „auch"
eine Entscheidung, vielleicht sogar die mutigste, weil
sie als geistiger Akt sich entscheiden müßte zwischen
Hingabe in einen Dienst am Auf- oder Abstieg des Lebendigen
schlechthin, das mehr ist als Geist oder
Natur: nämlich deren Einheit.

Leipzig-Markkleeberg. Otto Hubele.

Wolf, Prof. Dr. Heinrich: Angewandte Geschichte. Bd. 3: Kulten
und im Bruder den Gegner verdammt. Allen denen,
die in Schmerz und Inbrunst dabei irgendwie beteiligt
waren, ruft B, zu: „geglaubte Gemeinschaft brennender
Herzen in Christo vor Gott, das ist evangelische Kirche"
<S. 40).

Berlin. _Otto Lerche.

Zeltzschel, Friedrich : Verwesentlichungspädagogik. Versuch
einer volkheitlichen Pädagogik auf der Grundlage des Werterlebens.
Berlin: Junker und Dünnhaupt 1936. (56 S.) RM 2.50.

Nimmt man die etwas eigenwillige Analyse altgewohnter
Begriffe der Pädagogik hin, so wird man diesem

. turgescltichte in Mythus, Sage, Dichtung (Angewandte Mythologie).

Versuch seine Berechtigung nicht abstreiten können. Zeitz- 4-| Verb. Aufl. Leipzig: Theod. Weicher [1935]. (XI, 441 S.) gr. 8°.

schel ist einer der jüngsten Schüler des Philosophen
Hermann Schwarz und schrieb bereits in der diesem
Philosophen gewidmeten Festschrift („Hermann Schwarz
als Philosoph der deutschen Erneuerung", 1935), ein
Kapitel über „Das Erziehungsziel volkheitlicher Pädagogik
". Es handelt sich um den Versuch, die bisherige
„Vervollkommnungs- und Ergänzungspädagogik" durch
den Begriff der „Verwesentlichung" und ähnliche Gedankengänge
aus der Philosophie des Ungegebenen von
Hermann Schwarz zu überhöhen. Nach Ansicht des
Verfassers führte die bisherige Erziehungslehre nicht
über die naturhafte Existenz hinaus, wenn sie lediglich
anlagemäßig Vorhandenes ergänzen und vervollkommnen
wollte, schließlich aber nie eine in sich ruhende Persönlichkeit
herausbilden konnte, weil Vervollkommnung (wie
schon Kant gezeigt hatte) einem unerreichbaren Ziel
nachjagt. Es gilt ein „übernaturhaftes Leben" zu wek-
ken. „Verwesentlichung" ist Entscheidung zu einem
wesentlichen, geistigen, überindividuellen Lebenssinn, den
man als höchsten Wert erkennt und zu dem der Wille
sich entscheiden muß; Verwesentlichung ist das Hinausdrängen
über das bloße Naturhafte, ist Hingabe
an geistiges Leben, das uns in lebendige Persönlichkeiten
verwandelt. Außerordentlich scharf wird der Gegensatz
zwischen geistigem und leiblichem Sosein gesehen,
ganz im Sinne christlicher Wertlehre. So findet man
nicht selten Leitsätze in dieser Schrift, die christlich
klingen, es aber im tiefsten Grunde m. E. nicht sind
(„Wenn sein ichhaftes Leben ihm stirbt, so wird göttliches
Leben in ihm", S. 30). So auch die tätige Hinwendung
des Einzelnen auf den Nächsten. — Dennoch
rate ich, gerade weil mir der Grundansatz dieser Schrift
durchaus noch problematisch scheint, zur Vorsicht. Sie
führt ebenso wie die bisherige christliche Gesinnungspädagogik
, die am wirksamsten im System Schleiermachers
herausgearbeitet war (der nicht genannt wird),
in eine Sackgasse: daß man nämlich über der Verwesentlichung
und Vergeistigung das naturhafte Ich der
Persönlichkeit überspringt. Es ist m. E. durchaus nicht
so, wie es in dieser Schrift und auch in der christlichen
Wertlehre immer wieder dargestellt wird, daß Familie
und Freundschaft, Ehe und Volksgemeinschaft nur „wil-
lensverbundene Einheiten" repräsentieren. Gerade die
Tatsache, daß Ehe und Familie, Individuum und Ge

RM 5 - ; geb. 6—.

Dieses anregende, zum Widerspruch wie zur Fort-
spinnung der Gedanken anregende Buch wurde bei seinem
ersten Erscheinen 1923 (1.—3. Aufl., dem Andenken
Hermann Useners gewidmet) von der theologischen
Kritik kaum beachtet. Es fragt sich, ob das stillschweigende
Übergehen eines solchen Buches berechtigt
ist. Nach Wolf ist „unsere germanisch-deutsche
Kulturgeschichte wesentlich eine Auseinandersetzung mit
dem orientalisierten griechisch-römischen Erbe, eine
wachsende Befreiung von der Weltkultur des untergehenden
Altertums, mit häufigen Rückschlägen und
Zeiten einer Kulturfremdherrschaft." Die neueren Jahrhunderte
sind das Zeitalter der Entdeckungen und der
Befreiungen: der Menschhe it s wahn wird überwunden
, dagegen der Wert von Nation und Rasse, vornehmlich
auch im Religiösen, wird neu erlebt. Somit ist vielfach
gegen Wolfs Ausführungen das geltend zu machen,
was gegen radikal deutschchristliche (Thüringen) und
deutschkirchliche (Dinter) Lehren immer wieder eingewendet
worden ist. Das schließt nicht aus, daß
man Wolfs Darlegungen weithin mit Zustimmung und
Bereicherung lesen wird.

Die neue Auflage erscheint in einer Zeit, in der
nach Meinung des Verfassers die Hoffnungen früherer
Zeiten weit über Erwarten erfüllt und die Befürchtungen
vergangener Tage ebenfalls weithin über Erwarten verscheucht
sind. Wer aber nicht nur ein gemäßigtes protestantisches
Kulturwollen in seinen Hauptanliegen zur
Geltung gebracht sehen will, wer vielmehr den Nöten
einer wirklichen evangelischen Kirche auf deutschem
Boden innerlich verbunden ist, der kann mit diesem in
einem bewundernswerten Elan geschriebenen Buche —
der Verfasser erhielt letzthin zu seinem 78. Geburtstage
den Adlerschild des Deutschen Reiches — auch jetzt
noch wenig anfangen. Denn eine Kultur aus nordischem
Geiste und Blute muß doch mehr oder weniger Konstruktion
bleiben; eine solche Kultur ist empirisch —
im Gegensatz zu Wolf — nicht zu erfassen.

In der neuen Auflage fehlt die sympathische Widmung
dem Andenken Hermann Useners, zumal die Darstellung
der Heldensage gegenüber Usener durch nordische
Erkenntnisse korrigiert ist. Aber sonst ist Wolf
in fast allen wesentlichen Problemen bei der früher vor-

meinschaft primär biologisch begründete Weisen des | getragenen Meinung geblieben: Wertung des Alten Te-