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Ausgabe:

1936

Spalte:

405-407

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Sihle, Martin

Titel/Untertitel:

Über das Weltbild des Arztes und den Sinn der Krankheit 1936

Rezensent:

Gut, Walter

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40B

Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 22.

406

Sihle, Prof. Dr. Martin : Ober das Weltbild des Arztes und den
Sinn der Krankheit. Ein Appell zur Lebenssynthese. Wien: Weidmann
& Co. (V, 241 S.) 8°. Kart. RM 10.— ; geb. 12.—.

Das Buch bietet in drei Abschnitten (I. Alltäglich-
Ärztliches, 11. Nichtalltäglich-Ärztliches, III. Ärztliche
Metaphysik) eine Reihe von Aufsätzen, die — so verschiedene
Themata sie betreffen — eine innere Einheit ;
bilden. Wenn das Buch einerseits der Niederschlag von
45 jährigen ärztlichen Beobachtungen und klinischen
Schlußfolgerungen darstellt, so weiß der Autor andererseits
, daß er für viele Leser Ungewohntes sagt, nicht
als abgeschlossenes Dogma, sondern als Anregung und
Herausforderung zum Mit- und Weiterdenken. „Ich
schreibe, um mein ärztliches Gewissen zu entlasten.
Ich will micht mehr demjenigen in der Heilkunde huldi- j
gen, was ich als Pharisäertum erkannt habe. Ich muß,
aus innerem Trieb heraus, mein ärztliches Glaubensbekenntnis
ablegen. Das Leiden des Menschen ist für j
mich . . . ein Mysterium, und als solches heilig" (S. 4).
Dieses dem Arzt täglich neue Erlebnis des Leidens des
Menschen und der Krankheit will der Verfasser gleichsam
im verschiedenen Dimensionen denkend erfassen:
in der physikalisch-chemischen, in der philosophischen
und in der religiösen. Verfasser ist Führender in der
Bewegung für ärztliche Synthese und damit — als reifer {
Mann — in der vordersten Linie bei der Neugestaltung i
ärztlicher Kunst und medizinischen Denkens. „Der ärzt- j
liehe Gedanke steht vor den Toren einer neuen Zeit"
(S. 7).

Ein Referat des überaus reichen Inhaltes ist unmög-
lieh. Ein paar Titel mögen die Spannweite der Gesichtspunkte
andeuten: Vom „Jenseits" exakt-ärztlicher Tatbestände
, Korrelationspathologie und Korrelationstherapie
, Über das Urphänomen alles Lebendigen und des
Lebens, Die Krankheit und der Weg zu ihrem Sinn,
Thanatologie, Religion, Das Konsilium der Drei: Arzt,
Kranker, Gott.

Eine synthetische Krankheitsbetrachtung setzt exakte
Forschung im Gebiet des medizinisch exakt Erforschbaren
als selbstverständlich voraus. Aber zum Differential
der sichtbaren Wirklichkeit muß das Integral der
unsichtbaren Wahrheit, das hinter den Erscheinungen
liegt, gesucht werden. Dem praktischen Arzt ist „jahrzehntelang
in allen medizinischen Hörsälen die strenge
Forderung aufgestellt worden, die wahre Medizin sei |
eine exakte Naturwissenschaft und müsse eine solche j
bleiben" (S. 9). Aber eine exakte Diagnose auf Grund I
naturwissenschaftlicher Erkenntnis ermöglicht noch nicht i
eine exakte Therapie; die Therapie des Arztes stammt
nicht aus dem exakt Konstatierbaren, sondern aus einer
Sphäre des Unsichtbaren. „Die materialistische Epoche
in der Heilkunde ist eine Epoche der Feigheit vor der
Materie" (S. 10). „Das exakt Feststellbare am Kranken
" stellt nur einen „kleineren Teil des Wesentlichen
am Krankheitsgeschehen" dar (S. 11). Nur soweit es ;
gelingt, den menschlichen Organismus als Kosmos zu
erkennen, können wir das Krankheitsgeschehen zu deuten
und zu beeinflussen hoffen. „Krankheit ist klinisch
Korrelationsstörung. Krankheit ist Dyskorrelation" (S.
26). Das Problem des Wesens der Krankheit ist ein
metaphysisches. So muß der Arzt am Krankenbett exakter
Wissenschaftler, Biologe, Philosoph und Künstler
zugleich sein.

Wie jeder wirklich denkende Forscher sich fort und
fort vor das Rätsel des Geschehens gestellt sieht, das
er mit seiner Rationalität nur teilweise zu buchstabieren i
vermag, so spricht auch der Verfasser in Bezug auf
das Seelisch-Geistige von einer „bis zu einem gewissen
Grad elastischen Gesetzlichkeit" (S. 68) und stimmt
Nernst bei, daß „bisher noch jedes Naturgesetz an
Grenzen angelangt ist, außerhalb derer es uns merklich
im Stiche läßt" (S. 188).

Die umfassende Schau und das ehrfurchtvolle Denken
gegenüber den Tatsachen des Lebens, Leidens, Sterbens
und des Todes schließt in sich eine Stellungnahme
zur Religion. Es gilt „die Auswirkungen des dem Physikalisch
-Chemischen in uns überlagerten Göttlichen in
uns zu erforschen, ... an dessen Existenz wir gerade
durch unsere Wissenschaft zu glauben gezwungen werden
" (S. 222). „Kann der Arzt glauben?" (S. 223).
Der religiöse Glaube des Arztes ist ein Ausdruck der
Weite seines „Potentialbereiches", d. h. seiner Fähigkeit,
in vieldimensionaler Beziehung die Tatsachen des Lebens
, des Krankseins, des Sterbens und des Todes deutend
zu erfassen und ärztlich handelnd Stellung zu
nehmen. Da der Mensch nicht nur ein physikalischchemisches
Wesen ist, kann eine Wissenschaft von der
Natur des Menschen, d. h. von seiner gesamten Eigenart
, ihn nur unter materiellem, geistig-philosophischem
und religiösem Gesichtspunkte verstehen. Die Persönlichkeit
des Menschen ist zu deuten als „Differential des
Integrals — der göttlichen Allperson" (S. 225). Die
Quellen zur wahren ärztlichen Tätigkeit und zum ärztlichen
Denken fließen darum auch aus dem Geistig-Göttlichen
im Arzte, für den die Arbeit an seiner eigenen
Persönlichkeit oberstes Gebot ist; nur dann wird der
Arzt wirklich bedeutsam für den Kranken sein. „Wirklich
groß kann nur der Arzt sein, bei dem das göttliche
Prinzip sich optimal manifestiert" (S. 234). „Führen
kann er nur als Persönlichkeit, wenn die Menschheit an
ihn glaubt und er selbst an Gott glaubt" (S. 235).
Darum muß „beim Krankenkonsilium außer dem Kranken
und dem Arzt als Dritter, unsichtbar, noch der göttliche
Geist walten" (S. 235). Gott ist persönlich zu
denken und als „Allperson der persönliche Mutterschoß
eines jeden von uns" (S. 237). —

Der christliche Theologe wird dankbar den Eindruck
von dem mächtigen Umbruch in der ärztlichen Kunst
und in der Medizin auf sich wirken lassen, solche
Deutung des Menschen, wie sie von Sihle bekannt
wird, der christlichen Auffassung vom Menschen als
eines geist-leiblichen Wesens verwandt empfinden, das
Bekenntnis zum Göttlichen als umfassendster Schau und
unausweichlicher Wirklichkeit freudig mitbejahen. Gerade
an diesem Punkte stärkster Zustimmung müßte nun
aber auch das Gespräch weitergehen und neben dem
Gemeinsamen den Unterschied herausarbeiten zwischen
christlich-biblischer Gotterkenntnis und der hier vorgetragenen
, die Gott zu stark in die Immanenz hineinzieht
, und den Menschen doch noch nicht in seiner
ganzen Wirklichkeit erfaßt, weil dessen tiefste Not, die
Verflochtenheit in die Schuld, nicht genügend erkannt
und gewürdigt wird — gerade auch in ihrer Auswirkung
in Gesundheit und Krankheit. Hier allerdings ist für
christliche Theologie, die im westeuropäischen Lebenskreis
seit Augustin fast ausschließlich mit den tiefen
Gedanken von Sünde und Gnade das, was Offenbarung
und Glaube meinen, auszusprechen sich bemüht hat,
noch eine unerledigte Aufgabe offen, auf die sie wird
antworten müssen, um so mehr, wenn von medizinischer
Seite in solch edler und umfassender Vision aus
der Totalität ärztlichen Handelns und Denkens die Tatsachen
geschaut und gedeutet werden.

Für christliches Verständnis ist der Mensch „Kosmos
" (S. 12) höchstens im Sinne ursprünglicher göttlicher
Schöpfung; jetzt ist er von Gott getrennt, leidend
an der Gottesferne und — trotz allen Gottsuchens —
an seinem Ungehorsam gegen Gottes Willen; darum als
Kranker wie als Arzt der Erlösung bedürftig. Im Glauben
vielleicht dürfen wir wohl von einem Durchleuchten
ursprünglicher Schöpfungsherrlichkeit durch die verdorbene
und kranke Schöpfung sprechen. So wird der
Sinn der Krankheit auch gedeutet werden können: einmal
als ein Teilhaben an dem Leiden der Gottesferne und sodann
als ein Heilungsversuch, als Suchen nach wahrer
Gesundheit, d. h. nach Erlösung (Rom. 8,21—23). In
dieser unserer Weltzeit gibt es und kann es bis zur
wahren Erlösung und Vollendung keine wirkliche Gesundheit
geben; alles „Heilen" stellt sich christlichrealistischer
, illusionsloser Erkenntnis nur als eine Verlegung
von der Abteilung für Schwerkranke auf die
für leichter Kranke dar, was aber keinen entscheiden-